Sarah Sauer

Sommerregen

Ich sitze hier, zitternd und der warme Regen läuft meinen Nacken herunter. Es ist heiß, 30° im Schatten, die Leute, die an mir vorbeilaufen, tragen nur T-Shirts und kurze Hose, sehr kurze, besonders die Mädchen, aber ich friere, friere vor Kälte, der Kälte die mein Herz umgibt.

Ich sehe uns, wie wir auf dieser Wiese sitzen und picknicken. Wir lachen, sind glücklich. Das ist jetzt vorbei. Ich bin allein hier und meine Erinnerungen verblassen zu Schatten, ich kann immer noch nicht glauben, dass es vorbei ist, dass wir drei nie wieder zusammen hier Spaß haben werden, dass ich alles verloren habe. Meine Gedanken kehren zurück zu dem Tag, an dem es seinen Anfang hatte.

Meine Augen fangen an zu brennen und Tränen tropfen auf dem schlammigen Boden. Ich weine, wieder einmal, dabei kann es nichts ungeschehen machen, gar nichts mehr.

Wenn ich an diesem Tag nicht ihre Hand genommen hätte, wenn ich ihr nicht in die Augen, in ihre wunderschönen Augen geblickt hätte, dann..., aber ich habe ihre Hand genommen, sie angesehen und sie geküsst. Nur kurz, aber lang genug um alles zu ändern. Alles was jemals zwischen uns gewesen ist. Damals lachte er noch, dachte, es wäre nur ein Scherz, ein Ausrutscher gewesen, wie wünschte ich mir, dass auch denken zu können. Jedesmal, wenn ich sie wieder sah, wenn sie sich küssten, einander in den Armen lagen, spürte ich diesen Schmerz, dieses Gefühl, das die Menschen Liebe nenne. Liebe sollte einen glücklich machen und nicht ins Unglück stürzen.

Ich steh wieder auf, ich kann die Kälte nicht mehr ertragen, ich will weg von hier. Ich sehe nicht um mich, ignoriere alles, was um mich passiert. Ein Mann schreit mich an, aber ich verstehe nicht was er sagt, ich will es auch nicht verstehen. Ich geh einfach weiter, blind, ohne ein Ziel. Plötzlich stehe ich vor der Eisdiele, in der wir immer im Winter zusammen gesessen und Hausaufgaben gemacht haben. Die kleine Sitzecke ist leer.

Ich sehe sie dort sitzen, sie lächelt ihn an und küsst ihn zärtlich, mein Herz wird zerrissen.

Ich drehe mich um.

Verzweifelt versuche ich, das Bild vor meinen Augen zu verdrängen, aber ich kann immer nur ihr Gesicht sehen, wie sie mich wütend anstarrt und dann ihn, er schlägt mich und brüllt mich an. Hass. Sie hassen mich. Mein Weg führt mich zum alten Buchladen, ich blicke in die Auslage. Dort liegt eine Ausgabe von "Romeo & Julia", das Buch, das ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Er hat mich damals ausgelacht, ich wäre doch kein richtiger Junge, wenn ich ihm einen Liebesroman kaufe. Er hat mich nie wie eine ernstzunehmenden Person behandelt. Mehr wie seine Witzfigur, seinen persönlichen Sklaven, über den er sich lustig machen kann und der ihm alles hinterherträgt, ihm die Hausaufgaben macht und ihm bei Tests die Lösungen vorsagt. Trotzdem war er immer für mich da gewesen, wenn ich Hilfe brauchte, aber das wird er jetzt nicht mehr sein, jetzt sicher nicht.

Ich reiße mich wieder vom Schaufenster los und gehe weiter, weiter bis zur kleinen Brücke.

Als wir noch Kinder waren, kletterten wir immer auf das Geländer und balancierten ein Stück.

Ich hebe langsam meinen Fuß und stelle ihn auf das Geländer. Langsam ziehe ich mich hoch und stehe schließlich. Es ist glitschig und mit jedem Schritt habe ich das Gefühl, herunter zu fallen, aber ich habe keine Angst. Wozu noch. Ich blicke herunter in den Fluss, durch den Regen ist er zu einem reissenden Strom geworden. Ich höre jemanden rufen, man packt mich am Arm und reißt mich herunter. Ich liege dort am Boden in einer dreckigen Pfütze und genau so dreckig fühle ich mich auch. Ich sehe auf, vor mir steht ein alter Mann, der auf mich einzureden scheint, ich höre ihn nicht an, stehe einfach auf und gehe weiter. Er scheint mir noch etwas hinterher zu rufen, egal, es interessiert mich nicht. Ich bin am anderen Ufer angekommen. Erst jetzt wird mir klar, wo ich hin gehe, ich gehe zu seinem Haus. Es ist nicht mehr weit von hier. Ich höre das Lachen verliebter Pärchen in den Cafés, es sticht wieder.

Ich hätte es nicht tun sollen, ich hätte sie nicht ausnutzen dürfen, aber ich konnte nicht anders. Sie war so wunderschön an dem Abend, ihre langen braunen Haare, die grünen Augen und das zuckersüße Lächeln. Ich wollte sie und habe sie mir genommen. Danach fühlte ich mich schuldig, aber wie sollte ich rückgängig machen, was einmal passiert war. Sie weinte und schrie mich an, sie war immer noch etwas betrunken. Zitternd rannte sie aus dem Zimmer, sofort zu ihm. Seine wütenden Augen werde ich nie vergessen, der Hass, der sich in ihnen spiegelte

"Ich hasse dich!"

Diese Worte, ich höre sie immer wieder, sie haben sich eingebrannt in meine Seele.

"Ich hasse dich, Verräter!"

Ich stehe vor seiner Haustür, ich traue mich nicht zu klingeln. Was sollte ich ihm schon sagen, ich hatte mich schon entschuldigt bei ihnen, sie um Verzeihung angefleht, aber es hatte nichts genutzt. Was kann ich denn sonst noch tun?

"Ich hasse dich, Betrüger!"

Ich drehe mich um und gehe wieder. Einen kurzen Blick werfe ich zurück. Mein Gesicht spiegelt sich in einer Fensterscheibe.

"Ich hasse dich!"

flüstere ich und fange an zu laufen. Immer weiter die Straße entlang, diesmal wirklich ohne ein Ziel, ich will nur weg, weg von ihm, weg von ihr, weg von meiner Schuld.

Aber ich kann nicht entfliehen, sie holen mich immer wieder ein, greifen nach mir und schlagen mir ins Gesicht, treten mich und schreien mich an.

"lch hasse dich!"

Immer wieder, ich breche zitternd zusammen. Es hat aufgehört zu regnen und es sind nur noch Tränen, die meine Wangen herunterlaufen, kalte Tränen. Ich suche, suche in meinen Gedanken nach einem Sinn, einen Grund, trotz der Schuld, dem Schmerz weiter zu machen, aber ich finde ihn nicht. Ich habe alles verloren, das Vertrauen meiner Freunde, meine Liebe, meine Ehre. Ich höre ein Hupen, ein Wagen steuert direkt auf mich zu. Erst jetzt merke ich, dass ich mitten auf der Straße knie. Wieder ein Hupen, das quietschen von Bremsen und ein Knall.

Ich liege am Boden, in einer Lache meines Blutes. Kälte, es wird immer kälter um mich herum, ich zittere stärker als zuvor und schließe meine Augen. Ich höre Menschen reden.

"...ein Arzt, wir brauchen..."

"...zu spät, der Junge..."

"...wie schrecklich..."

"...noch so jung..."

Jemand rüttelt an meiner Schulter, es schmerzt und plötzlich fange ich an zu husten. Noch mehr Schmerzen und etwas heißes, mein eigenes Blut, quellt über meine Lippe.

Ich höre einen Jungen schreien, ich kenne diese Stimme. Er hält plötzlich meine Hand und flüstert meinen Namen. "Kim!" Ich öffne meine Augen und sehe in sein Gesicht. Er weint, ich habe ihn noch nie weinen sehen.

"Es tut mir leid..."

flüstere ich schwach, noch mehr Blut kommt über meine Lippen und tropft auf den Boden. Es hat wieder angefangen zu Regnen. Kleine Wellen bilden sich, wo die Tropfen auf die Pfütze meines Blutes treffen. Er drückt mich an sich und schluchzt etwas, was ich nicht verstehen kann.

"Du darfst nicht sterben!"

wispert er in mein Ohr. Er sieht mir dabei direkt in die Augen. Seine Augen sagen mir, das er mir verziehen hat. Er sieht mich so an, wie man niemanden ansehen kann, den man hasst.

"Ich hab' dich lieb..."

Meine Stimme wird immer schwächer, droht im Lärm um mich herum zu sterben, so wie ich hier langsam sterbe, er küsst mich auf die Wange.

"Ich hab' dich auch lieb."

Ich spüre, wie seine heißen Tränen mir auf die Wange tropfen. Ich lächle, seit langer Zeit das erste Mal.

"Sag ihr, dass ich es bereue. Sag ihr, dass ich es nie wollte. Dass ich nie wollte, das ihr mich hasst."

Ich höre mich selbst kaum noch, meine Augen fallen wieder zu. Es ist so dunkel um mich herum. Aber es ist warm, sehr warm.
Ich höre entfernt wie eine Sirene heult, Leute sprechen wieder miteinander. Und ich fühle immer noch seine Hand in meiner.
Bitte lass mich nicht los!
Ich öffne die Augen. Ich liege in einem Bett. Die Decke ist kahl und weiß. Es riecht nach Desinfektionsmittel und nach Blut. Ich sehe mich um. Ein Mann steht neben mir und sieht auf mich herab. "Er ist aufgewacht.", flüstert er und geht wieder. Ich bin allein. Neben meinem Bett stehen seltsame Apparate. In regelmäßigen Abständen höre ich ein Piepsen. Das Piepsen ist so beruhigend und ich schlafe wieder ein.

Es quietscht. Ich schrecke hoch. Die Tür wird geöffnet. Mit gesenktem Kopf tritt sie in das Zimmer und geht zu meinem Bett. Sie nimmt meine Hand.

"Hallo"

flüstere ich. Sie sieht mich an und Tränen funkeln in ihren grünen Augen. "Ich hätte nicht erwartet dich hier zu sehen."
"Ich bin so froh das du noch lebst."
Schluchzt sie.
"Es tut mir leid."
Meine Stimme zittert bei dem Satz und ich drücke schwach ihre Hand.
"Es ist schon o.k., lass es uns einfach vergessen."
"Aber ich kann es nicht so leicht vergessen, ich hab' euch etwas schreckliches angetan."
"Bitte, ich möchte, dass alles wieder so wird wie früher, dass wir wieder die besten Freunde sind, Kim."
Ich nicke langsam. Mein Hals tut weh, alles tut weh, wenn ich mich bewege. "Ich muss jetzt leider wieder gehen, die Ärzte sagen, du brauchst Ruhe." Sie küsst mich sanft auf die Stirn und zerwuschelt noch einmal meine blonden Haare.

"Bis morgen!"

Sie steht schon an der Tür und lächelt mich ein letztes mal an. Wieder bin ich allein. Ich blicke wieder auf die weiße Decke. Ich sehe noch einmal, alles was wir zusammen erlebt haben an meinen Augen vorbei ziehen und ich bin glücklich, dass jetzt alles wieder so wird wie damals. Ich schließ die Augen und schlafe ein.

Es ist schon Nacht. Ich reiß die Augen auf. Tief in meiner Brust spüre ich einen stechenden Schmerz. Ich fange an zu husten und zu husten. Das weiße Laken färbt sich langsam rot.

Warum?

Jetzt, wo alles gut werden wollte. Ich beginne wieder zu weinen.

‚Wenigstens haben sie mir verziehen.'

Denke ich bedrückt und schließe die Augen. Meine Kehle schnürt sich zu, ich kann kaum noch atmen. Ein taubes Gefühl breitet sich in meinem Körper aus, der Schmerz hört auf. Ich spüre gar nichts mehr. Ich höre nur mein Herz leise schlagen, sehr leise.

Das regelmäßige Piepsen im Hintergrund wird immer langsamer und plötzlich hört es auf.

[Ende]

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.06.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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