Germaine Adelt

Piano

            Die Sonate von Chopin wollte ihr nicht gelingen. Schwerfällig hämmerte sie auf den Tasten umher und hatte Mühe sich an die Noten zu erinnern, so dass ihr Klavierspiel noch unbeholfener erschien. Aber Vater bestand nach wie vor darauf, dass grundsätzlich zwei Wochen ausreichend seien um Stücke auswendig zu lernen, egal wie umfangreich oder anspruchsvoll sie waren. Und die vierzehn Tage waren längst vorbei.

            „Jetzt den Debussy“, forderte er unvermutet mit einer Leichtigkeit, als gelte es ein Gedicht in der Schule aufzusagen.

            „Welchen?“, fragte sie, ahnte jedoch schon die Antwort.

            „Na, ‚Claire de Lune‛ natürlich.“

            „Natürlich“, murmelte sie und fragte sich erneut, ob beim Klavierspiel Schikanen irgendwie dazugehörten.

            Ausgerechnet Debussy. Sein flüssiges Spiel verzieh keine Schwerfälligkeit. Zumal sie erneut verzweifelt in ihrem Kopf nach den Noten suchte.

            Sie hasste Debussy, sie hasste Chopin, Beethoven, Schumann, wie sie alle hießen. Sie hasste all jene, die Schuld daran waren, dass sie hier saß und Variationen eines Komponisten spielen sollte, der seit langem tot war und es sowieso nicht mehr beurteilen konnte.

            Ihre Finger schmerzten immer mehr, dafür waren sie nun nicht mehr so angeschwollen, so dass es nicht auffiel, mit welch großer Überwindung sie spielte.

            „Jetzt streng dich aber mal an. Das kannst du besser!“, brummte Vater.

            Wie oft hatte sie den Satz schon gehört und eigentlich nichts anderes erwartet. Wenn auch seit Kindertagen die Sehnsucht in ihr schlummerte, von ihm gelobt oder gar anerkannt zu werden. Nichts und niemand konnte ihn dazu bringen, ihre Leistungen zu würdigen. In seinen Augen blieb sie die ewige Versagerin, die man permanent verbessern musste. Irgendwann war ihr klar geworden, dass sie es ihm nie recht machen konnte, egal, wie sehr sie sich bemühte.

 

            So gern wollte sie Geige lernen und dann Vivaldi spielen oder Beethoven. Alle Partituren kannte sie auswendig und immer öfter stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie dieses Instrument beherrschen würde. Aber niemand sah sie zu so einer Entscheidung befähigt. Mutter nannte es eine törichte Angeberei, die nur von ihrer ewigen Faulheit ablenken solle, und so blieb es beim verhassten Klavier.

            Seit sie vor ein paar Tagen wie ein Zirkuspferd dem legendären Professor Weidner vorgeführt worden war, ahnte sie, dass alles nun noch schlimmer kommen würde. Er war begeistert von ihrem Talent, sprach von absolutem Gehör, über das sie verfüge, und davon, dass sie seine persönliche Schülerin werden würde.

            Das Leben war nun für sie endgültig vorbestimmt, dabei hatte es noch gar nicht richtig angefangen. Doch als Meisterschülerin des Professors war der Weg geebnet: Musikstudium, Solokarriere, Konzertpianistin. Sie wurde nicht gefragt und jede Regung, sich zu widersetzen, wurde im Keim erstickt. Sie sei zu dumm, um abschätzen zu können, was gut für sie sei.

 

            Wie gern würde sie weiter Judo machen. Immer wieder hatte sie sich heimlich zum Probetraining geschlichen. Ihre Freundin Simone hatte dann für sie immer so sehr gelogen, dass sie ihr bis ans Lebensende jeden Gefallen schuldete. Auch Simone war neuerdings von Debussy begeistert. Fasziniert hatte sie ihr zugehört und von George Clooney geschwärmt, der in einem Film eben bei diesem Lied vor einem Brunnen gestanden hatte, um sich von seinen Freunden zu verabschieden. Sie selbst kannte den Film nicht und würde ihn nie kennen lernen. Kino kam grundsätzlich nicht in Frage und falls der Film einmal im Fernsehen laufen würde, hätte Mutter etwas dagegen. Immerhin waren Spielfilme aller Art triviale Zeitverschwendung und verblödeten zusätzlich ihren ohnehin unterentwickelten Geist.

 

            „Piano, piano!“, mahnte Vater mit der gleichen gelangweilten Arroganz wie ihre Ballettlehrerin, wenn sie ‚demi plié‛ oder ‚grand battement‛ befahl.

            Es sah fast so aus, als wäre sie für eine Ballettkarriere körperlich zu klein geraten. Zumindest hatte die Meisterin abschätzend bemerkt, dass sie eher zu einer Suzi Quatro tauge als zu einer Palucca.

            Eine Entwicklung, die ihr sehr gefiel. Zwar würde Vater ihr selbst daran die Schuld geben, aber letztlich war es eine Sache der Gewöhnung. Ihre Füße waren somit gerettet und sie brauchte sich beim Judo nicht mehr für die verschorften Wunden schämen. Aber Judo blieb ein Traum. Niemals würde man es ihr gestatten. Zu groß die Verletzungsgefahr für ihre Finger.

 

            Die Hände waren ihr Kapital. Ein Kapital, dass es zu vernichten galt. Ein Unfall würde alles ändern. Am besten eine Verletzung der linken Hand, so dass auch Geige überhaupt nicht mehr in Frage kam. Schon lange spielte sie mit dem Gedanken, sich absichtlich die Finger zu brechen. Auch wenn sie noch nicht wusste, wie. Vielleicht war es sogar besser, einen Finger zu amputieren. Ihr Entschluss den Ringfinger zu opfern, nahm immer mehr Gestalt an. Aber die Angst vor den Schmerzen hielt sie davon ab. Vorerst.

            Denn das Leben, das da auf sie wartete, hielt sie schon jetzt nicht mehr aus. Und wenn sie als Pianistin wertlos war, würde man sie in Ruhe lassen.

            Judo könnte sie dann immer noch machen und endlich Gedichte schreiben. Dabei würde sie dann Debussy hören. Denn eigentlich mochte sie seine Musik. Aber sie müsste nie wieder Klavier spielen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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