The (n)ever ending wait
Sie wartete wie jedes Jahr zu dieser
Zeit still und in sich gekehrt, wartete, wie wohl alle gerade warten
würden. Doch während andere darauf warteten, endlich den
Jahreswechsel feiern zu können, wartete sie nur darauf, dass es
endlich vorbei war. Wie jedes Jahr.
Sah sie fern, so musste sie schon kurze
Zeit später den Fernseher ausschalten, weil sie es nicht
aushielt, all diese Menschen mit all ihren Feiern zu sehen. Wie sie
da tanzten und lachten und musizierten, als gäbe es nichts
schöneres als in die Mitternacht zu feiern.
Sah sie aus dem Fenster, so beneidete
sie all die Menschen da draußen, die unterwegs waren, eine
schöne Nach zu erleben. Die anderen zu sehen, erinnerte sie nur
um so schmerzvoller an ihre eigene Situation.
Und so schaltete sie auch diese Nacht
den Fernseher aus, zog die Vorhänge zu und löschte das
Licht, sodass nur noch die Kerzen und das warme Licht der Leselampe
brannten. Sie verschickte Grüße an all ihre Freunde, von
denen sie wusste, dass kein einziger ihr antworten würde, weil
jeder gerade etwas besseres zu tun haben würde. Und doch würden
sie sich morgen freuen, würden später über ihre Grüße
stolpern und vielleicht ja ein paar liebe Worte für sie übrig
haben.
Es war sogar besser, dass niemand ihr
antworten würde. So würde ihr auch niemand einen „Guten
Rutsch“ oder gar einen fröhlichen Start ins neue Jahr
wünschen, denn es tat um so mehr weh, sich zu bedanken, wenn
einem die Tränen in die Augen stiegen. Ja, es war besser so.
Sie kochte sich einen warmen Tee und
setzte sich auf ihr Bett, im Hintergrund ließ sie Musik laufen,
die sie von der Einsamkeit ablenkte. Draußen hörte sie,
wie sich die Anzahl an gezündeten Silvesterraketen vermehrte,
einzelnen Schüssen folgten bald schon viele weitere.
Sie blickte auf das vergangene Jahr
zurück. Es wäre naiv zu behaupten, es hätte ein paar
Probleme gegeben. Es gab und gibt noch immer viele. Es war nicht zu
leugnen, dass sie sehr viel hatte durchmachen müssen, dass es
viel Leid und Schmerz gegeben hatte. Dass viele Tränen geflossen
waren.
Aber, so dachte sie wehmütig, mit
der Zeit gewöhnt man sich daran. Sie kannte es nicht anders,
welchen Grund hatte sie also, sich zu beklagen? Es änderte ja
doch nichts.
Auch der schreckliche Streit von vorhin
war – trotz all seiner Grausamkeit
– etwas, dass sie jedes Jahr zu dieser Zeit erlebte.
Sie ließ sich
geräuschlos auf das Bett sinken und blickte halb auf der Seite
liegend in die tanzende Kerzenflamme. Wie hell ihr Licht war, wie
stark ihr Leuchten und wie anmutig und elegant sie flackerte, fast
als würde sie spielen. Und wie leicht sie doch erkalten konnte,
ein zarter Windhauch, ein Pusten nur, und schon erlischt sie.
Gleichgültig
tanzte sie weiter, jeden Moment, in dem sie brennt, ausnutzend.
Gleichgültigkeit, etwas, was auch ihr nur allzu bekannt war.
Dieser furchtbare
Schmerz war ihr inzwischen egal, sie war abgestumpft, kalt und leer,
es ging an ihr vorüber, diese Traurigkeit, die sie empfand. Die
sie wie ein Schatten treu begleitete, nun schon so lange.
Auch war ihr egal,
wie wütend sie manchmal war. Sie nahm es hin, sie konnte es
nicht ändern. Sie konnte dieser Wut keinen Platz machen, wieso
also sie überhaupt noch zulassen?
Dass
sie alles verheimlichen musste, auch das war ihr inzwischen egal.
Sollte doch jeder denken, sie wäre diese fröhliche,
unbeschwerte, glückliche Person, die sie vorgab zu sein. So war
es viel leichter und wenn sie diese Rolle spielte, so war es fast,
als wäre sie wirklich diese Person.
Aber was ihr
wirklich zu schaffen machte, das war etwas ganz anderes, das war
diese unendliche Hilflosigkeit.
Die Tatsache, dass
sie einfach nichts tun konnte, um sich zur Wehr zu setzen. Denn es
gab nichts, sich gegen diese Art Angriff, gegen diesen Kampf, den sie
tagtäglich bestritt, zu wehren. Sie konnte nur hilflos alles
über sich ergehen lassen. Sie war schwach, alle dachten von ihr,
stark zu sein, sie gab vor, stark zu sein, doch sie war schwach.
Dafür hasste sie sich.
Sie hatte keine
Vorsätze, nein, was nützten sie ihr denn schon? Sie hatte
nur den Wunsch, mutiger zu sein, Mut, ja, das brauchte sie. Stärke,
geistig und körperlich, mehr als die, die sie schon jetzt hatte.
Sie sehnte sich so sehr danach, frei zu sein.
Wie immer fiel sie
während des Wartens in eine Art Dämmerzustand, und wie
immer konnte sie die heißen Tränen, die über ihr
Gesicht liefen, nicht aufhalten. Schwäche. Schon wieder. Das
durfte sie nicht.
In ihrem Träumen
war er da. Der Geist, der sie beschützte. Ja, er beschützte
sie, jemand, der da war, ihr zu helfen, sie aufzufangen, sie zu
retten. Sie zu halten. Beschützt werden, sie schrie in ihrem
Innern danach. Gehalten werden, sich fallen lassen können, es
war ein unbeschreibliches, wundervolles Gefühl.
Doch
wenn sie die Augen öffnete, so war es vorbei. Dann lag da nach
wie vor die leere Hülle im Dunkeln auf dem Bett, die sich nicht
helfen konnte, an der alles vorüberzog.
Deshalb hatte sie Angst, aufzuwachen.
Und doch tat sie es. Sie öffnete ihre Augen – und war nicht
allein. Sie sah den Geist, ihren Geist, ihren Retter, und als eine
letzte Träne ihre Spur über ihre Wangen malte, hob sie ihm
langsam ihren Arm entgegen, dem Geist, der sie nun bei der Hand nahm
und mit sich zog. Zog sie empor, weit weg von allem, was ihr Leid
zufügte, zu sich in die Ewigkeit.
Sie bekam nicht mit, wie das Feuerwerk
den Himmel verzauberte, denn sie war nun Teil ihres eigenen Zaubers.
Zurück ließ sie eine leere Hülle, ein Körper,
leblos, die Augen für immer geschlossen, friedlich auf dem Bett
liegend, fast als würde er schlafen. Ein ewiger Schlaf, ein
ewiger Traum.
Nie wieder würde sie aus ihrem
Traum erwachen, das Leben war endlich, ihr Traum nun nicht mehr.
Ja, jetzt war sie endlich frei.
Und draußen schlugen die
Kirchturmglocken Mitternacht.