Kristina Korus

Der Leitpfosten

Schön war er – der schönste Leitpfosten seiner Generation. Kein Weiß strahlte mehr als seines, kein Schwarz eines anderen Leitpfostens war tiefer und keine Reflektoren konnten das auftreffende Scheinwerferlicht auf solch perfekte Weise zurückwerfen als seine beiden. Er war ein stolzer Leitpfosten – gemacht zu Höherem.
Erhobenen Hauptes – sofern man bei Leitpfosten davon sprechen kann – wurde er an eine schöne Allee gestellt. Genau das richtige Ambiente für einen blaublütigen Leitpfosten wie er es war. Aber bald holte der Alltag ihn ein. Autos fuhren rastlos an ihm vorbei, ohne auch nur einen Blick auf seine Schönheit zu werfen. Stattdessen warfen sie Dreck auf ihn – und seine schimmernde Jugendblüte wurde zur verkrusteten Altersverdorrtheit.
Er erlebte alle Wetter, musste mit ansehen, wie Kollegen von ihm Opfer eines verqueren Autos wurden, dass sich nicht an die Einteilung "Straße – Straßenrand mit Bäumen und Leitpfosten – Wiese mit Kühen" hielt und einfach mitten durchpreschte oder gleich Freundschaft mit einem Baum schloss und diesen umarmte. Viele seiner Kumpanen verloren dadurch ihre Stelle, doch er blieb davon verschont.
Eines Tages kam ein Gewitter. Er hatte bis dahin schon viele Unwetter erlebt, doch noch nie einen solchen tobenden Sturm mit Blitz, Donner und – Hagel.
Die Eisklumpen prasselten mit einer Stärke auf die Erde hernieder, dass allen Hören und Sehen verging.
Und diesmal erwischte es ihn.
Ein Windstoß, der wohl so stark gewesen sein musste, wie der Aufprall eines Autos haute ihn um und wehte ihn weit aufs Feld, immer weiter, bis er in einen Fluss fiel. Das Wasser stieg immer weiter, bis er letztendlich weggeschwemmt wurde.
Ein paar Kilometer weiter wurde er ans Ufer des Flusses gespült, dort wo der schöne Wanderweg ist.
Ein Mensch fand ihn und nahm ihn mit.
Er hatte noch nie einen "richtigen" gesehen, sondern immer nur die Köpfe durch die Fenster der Autos. "Dies sind dann wohl die Sklaven der Autos, die sie immer durch die Gegend kutschieren müssen", hatte er gedacht.
Das dem nicht so war, sollte er nie erfahren.
Aber er sollte noch einmal zu seiner Schönheit zurückfinden.
Aus einem ihm unergründlichen Schaffensdrang heraus, putzte der Mensch ihn.
Wusch ihn in Seifenwasser, schrubbte den ganzen Dreck ab und polierte ihn richtig. Er schien wie die Sonne vor Freude.
Dann aber nahm der Mensch einen bunten Stock und malte damit ein paar komische Zeichen auf ihn drauf, deren Bedeutung ihm nicht klar war. Er bekam einen Ehrenplatz in der Wohnstätte der Menschen. Hoch oben thronte er in einer Glasvitrine.
Ein anderer Mensch betrat das Zimmer. Geschockt blickte er nach oben, zum Leitpfosten.
"Was macht dieses dreckige Ding da? Bist du verrückt?!"
"Aber Mama", hörte er die Stimme seines Aufsammlers, "das ist doch meine Trophäe für die bestandene Führerscheinprüfung!"
Der mit Mama angeredete Mensch schien einen Augenblick lang diese ihm neuen Informationen zu bedenken.
"Du hast bestanden?" fragte Mama.
"Yep", sagte der Aufsammler nicht ohne Stolz.
Der Leitpfosten verstand zwar nicht, was dies bedeutete, und dass unter Umständen weitere seiner Kollegen das Zeitliche segnen würden, aber seine neue Aufgabe – "Trophäe" – erfüllte auch ihn mit Stolz und erhobenen Hauptes staubte er zwar immer wieder ein, aber diesmal unter bewundernden Blicken.

"MONTAG, 19.03.01, 12.45 UHR: KK BESTEHT DIE PRAKTISCHE FAHRPRÜFUNG UND FREUT SICH ÜBER DEN FÜHRERSCHEIN :)"
Ein Spaziergang am Ufer der Roda, ein in dem Flüsschen liegender Leitpfosten und meine eigene Trophäe brachten mich auf diese Geschichte.
Kristina Korus, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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