Klaus Buschendorf

Begegnung

 
„...Krebs? Du hast Krebs?“ Meine Frau schlug die Hände an die Wangen und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Ich sah Erschrecken in ihren Augen aufleuchten. 
 
An diesen und den folgenden Tagen sprachen wir nur noch die nötigsten Worte. Aus einem Nebel um mich her schälten sich flüchtige Gedanken. Ich müsse etwas regeln. Was nur? Ich sah auf die Krokusse zu meinen Füßen. Werde ich das Lila ihrer Blütenkelche im nächsten Jahr noch sehen können? Ich stand auf von der Bank, verjagte die Gedanken eines klaren, sonnigen Frühjahrstages und tauchte wieder ein in dieses beruhigende, wattige Nichts, was mich beschützte vor Sorgen und Fragen.
 
Im Krankenhaus überfielen mich weiße Kittel und Kaskaden medizinischer Fachausdrücke. Sie bohrten Nadeln in meine Venen, schoben mich in Röhren, zogen mich heraus, ließen mich eklige Getränke schlürfen und schleppten mich vor und zwischen Apparate. Surren und Klicken, manchmal Weißkittel, die mich führten, ließen tagsüber keinen Raum für Gedanken. Vor dem Einschlafen fürchtete ich mich. Dann fielen Träume über mich, Träume wie jener:
 
Ich lag auf einem Bett. Das Bett war eng, seitliche Bretter überragten meine Arme. Durch einen gläsernen Deckel über mir sah ich rechts und links Männer in dunkler Kleidung. An Seilen ließen sie langsam mein Bett herunter. Sie schauten gleichmütig mit aufgesetztem, besorgten Ausdruck. Ich wollte schreien, den Irrtum aufklären. Durchsichtige Watte umschloss mich, füllte meinen Mund.
 
Ich träumte auch anderes. Auf einer Couch lag ich mit meiner Jugendliebe, süße siebzehn Jahre. Blonde, lange Haare hüllten mein Gesicht ein. Die Abiturientin, die ich so begehrte, der ich mit dem Fahrrad hinter ihrem Bus her fuhr, endlich lag sie so nah bei mir. „Da du nun bald gehen wirst“, flüsterte sie an meinem Ohr, „... will ich noch ein Andenken von dir.“ Alles in mir wühlte heiß. Sie nestelte an meiner Gürtelschnalle.
 
Dunkelheit um mich, nur ein Blinken, nein, stetes winziges Leuchten weit über mir an einer Wand, nein, an einem schwarzen Kasten – das Stand-byte-licht des Fernsehgeräts. Ich saß in meinem Bett im Krankenhaus. Ich schämte mich. Da liege ich ohne alle Hoffnung. Was erscheint mir im Traum? Warum ist es meine Jugendliebe und nicht meine Frau? Die Frau, die mich mehr als dreißig Jahre ertrug! Ich denke zurück an die letzten Tage vor dem Krankenhaus. Tapferkeit war ihr Schweigen, tapfere Rücksichtnahme, Verstehen und Kameradschaft. Kann man nach mehr als dreißig Jahren noch von Liebe sprechen? Hat sie nicht alles für mich getan, ich nicht alles von ihr bekommen? Von meiner Jugendliebe bekam ich nicht, was ich mir wünschte. Nach dem nicht erfüllten Wunsch verzehrt sich der Mensch ein Leben lang. Wo hörte ich das? Kam sie deshalb in meinen Traum, die Abiturientin, deren Namen ich vergaß?
 
Aus der Schwärze schälte sich eine Wand. Die Plattform mit dem Fernseher schwebte vor ihr, bis ich die dünnen Stangen ahnte, die sie hielten. Nun sah ich auch das fahle Licht hinter dem Fensterkreuz. Beruhigend zu erkennen, dass das Kreuz verschoben, wie es üblich ist bei einem modernen Fenster in einem modernen Krankenhaus.
 
Ich schämte mich. Meine Doris gab mir alles, ihr ganzes Leben und meine Kinder. War ich ihr nichts schuldig? Ich wusste keine Antwort. Mich fröstelte. Diese Antwort stand noch aus in meinem Leben. Ich mag keine offenen Fragen.
 
Ich lag wieder lang in meinem Bett, als ich all dies noch einmal bedachte. Danach schlief ich bis zum Morgen durch.
 
Am nächsten Tag rief mich die Schwester zum Röntgen. Vorher Flüssigkeit schlucken, ich kleckerte. Warten, bis sie dort ist, wo sie den Ärzten anzeigt, was sie sehen wollen, ausziehen bis auf den Slip. Routine. Die Schwester geht nach nebenan. Doch es surrt nicht. Die Schwester kommt wieder. „Das wird nichts. Ihr Slip strahlt. Ziehen Sie ihn bitte herunter!“ Sie merkt mein peinliches Gefühl, entschuldigt sich, läuft nach einem Handtuch. Und ich denke: Das kenne ich doch! Doch damals ließ mich das völlig gleichgültig.
 
Die Schwester kommt wieder und reicht das Handtuch. Ich lächle sie an und sage: „Wir sind doch beide aus der Pubertät heraus. Ist das hier nicht Ihr Beruf?“ – „Sie sind wohl über den Berg? Solche Patienten lob ich mir.“
 
Als ich den Gang zurück gehe in mein Krankenzimmer, weiß ich: Ich bin es Doris schuldig. Und mir. Denn ich mag unbeantwortete Fragen nicht.   
 
Klaus Buschendorf          

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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