Jürgen Berndt-Lüders

Alles unter einen Hut bringen

„Mützen und Hüte ab“, kommandierte der Versuchsleiter. „Und einzeln nach vorn bringen.“

 

Weil er niemanden genannt hatte, mit dem er beginnen wollte, sahen sich alle fragend an.

 

„Beginnen wir mal mit Frau Wiesecke.“ Er deutete auf Waltraud.

 

Waltraud brachte ihre schicke Kappe nach vorn und stellte sich abwartend neben die Reihe. Professor Zabel schob die Kopfbedeckung über ein technisches Gerät und schaltete es ein.

 

„Ich brauche den Versuchsrahmen“, sagte Zabel.

 

Waltraud sah sich hilflos um.

 

„Er meint, wo und wann Sie die Kappe getragen haben.“ flüsterte Hubert Gernrich und beugte sich zu ihr.

 

„Ähm, gestern früh von zu Hause bis in den Betrieb.“

 

Inzwischen sah der Professor Waltrauds Ergebnis. Er runzelte die Stirn.

 

„Und was ist passiert?“

 

„Mein Chef hat mich gefeuert“, gab Waltraud zu. „Weil ich wieder mal zu spät war.“

 

„Das darf er nicht“, flüsterte Gernrich.

 

„Doch, das durfte er. Er hatte mich zweimal abgemahnt.“

 

„Und weshalb kommen Sie immer zu spät?“

 

„Weil ich so viel zu tun habe“, jammerte Waltraud. „Mein Freund wohnt woanders, und ich muss alles allein machen. Ich komme immer spät weg, und meistens zu spät.“

 

„Andere haben auch viel zu tun“, flüsterte ihr Gernrich zu. „Sie müssen sich einfach besser organisieren.“

 

Waltraud sah ihn eingeschüchtert an.

 

„Das Ergebnis des Mindcheckers in der Kappe sagt mir etwas Anderes“, sagte der Professor kurz und knapp. „Sie fühlten sich von ihrem Chef und den Kollegen nicht genügend wahr genommen. Deshalb kommen Sie ständig zu spät. Die Abmahnungen haben den Reiz noch erhöht. Jetzt haben Sie’s übertrieben.“

 

Waltraud warf sich einsichtig auf den Stuhl. Klar, Zabel hatte Recht. sie kam schon ihr ganzes Leben lang überall und ständig als Letzte.

 

„Jetzt bitte Herr Gernrich“, sagte der Professor.

 

Hubert nahm den Hut jetzt erst ab, erhob sich zu seiner vollen Größe, strahlte seine Mit-Probanden siegessicher an und schritt nach vorn.

 

„Wann haben Sie den Hut getragen?“, fragte Zabel.

 

„Jetzt eben“, sagte Gernrich mit einem unüberhörbaren Tadel in der Stimme. „Haben Sie das nicht bemerkt?“

 

Zabel ging nicht darauf ein. Er zog den Hut mit den Instrumenten, die auf der Innenseite des Hutes direkt über den relevanten Arealen des Gehirns eingeklebt waren, über das Testgerät und wertete aus.

 

„Was haben Sie denn eben getan?“ fragte Zabel mit seiner einschläfernden Stimme.

 

„Ich habe Frau Wiesecke geholfen“, verkündete Hubert stolz. „Ich verfüge beruflich bedingt über eine Menge Erfahrungen in der Menschenführung...“

 

„...Sie haben versucht, Frau Wiesecke sturmreif zu schießen, wie man so schön sagt“, kam sachlich von Zabel. „Sie kennen den Frauentyp, wissen, wie hilflos er sich manchmal gibt, und das nutzen Sie aus und machen sich zum unverzichtbaren Helfer.“

 

Gernrich sah sich in der Runde um. Er stieß auf ein breites Grinsen, und Waltraud hatte sich deprimiert abgewandt.

 

„Das ist doch Unsinn“, schimpfte Hubert Gernrich. „So ist es, wenn man Menschen helfen will. Ich gehe. Ich verzichte auf mein Honorar. Suchen Sie sich einen Dummen, der ihren Quatsch mit macht.“

 

Hubert verließ den Raum. Sein Hut lag vergessen ganz am Rande des Versuchstisches. Genau wie ich, dachte Waltraud. Ich fühle mich weg geschoben, und mir fällt nichts Wirksameres ein als mich immer nur negativ in den Vordergrund zu spielen.

 

Professor Zabel wertete die Tests der anderen Probanden aus, was ähnlich frappierende Ergebnisse brachte. Ein Mann machte Bodybuilding, weil er befürchtete, mit seinem schwach entwickelten Charme keine Frau für sich gewinnen zu können, und eine Frau überstylte sich, weil sie sich für hässlich hielt. Seit die neue, hübsche Nachbarin eingezogen war, schminkte sie sich nicht einmal mehr ab. Aus Angst, ihr Mann könne sich um diese Frau bemühen. Dafür wusch sie jetzt täglich ihr Kopfkissen und ihr Mann schminkte sich statt ihrer ab. Besonders nach einer Liebesnacht.

 

Waltraud war wieder die letzte im Raum. Mutig schnappte sie sich ihre Kappe und den Hut, den Hubert Gernrich getragen hatte.

 

Am nächsten Tag  zur gleichen Stunde kommandierte Zabel auf die gleiche, trockene Art wie gestern. „Mützen und Hüte ab“, rief er.

 

Vor Waltraud lagen die fesche Kappe und Gernrichs Hut.

 

„Kann ich heute mal anfangen?“, fragte Waltraud und erhob sich schüchtern. „Ich habe nämlich was getestet. Es ist in diesem Hut.“

 

Zabels Hirn arbeitete einspurig, und wieder kriegte er nicht mit, dass sich hier etwas Besonderes tat.

 

„Geben Sie mal her“, sagte Zabel und stülpte den Hut über den Mindchecker. „Was haben Sie getan?“

 

„Ich trug mein Käppi und mein Freund den Hut. Ich habe ihm gesagt, ich hätte den für ihn gekauft, weil ich fände, dass er ihm gut stünde, und...“

 

Zabel winkte ab. „Wir lügen alle mal. Haben Sie wenigstens konstruktiv gelogen?“

 

„Ja, sehr“, sagte Waltraud eifrig. „Wir gingen spazieren und unterhielten uns über unsere Zukunft. Er sprach davon, dass er mich liebe, und dass er noch keine Frau so begehrenswert wie mich gefunden habe. Jeden Tag und immer und immer wieder.“

 

Zabel wertete aus.

 

„Absolute Zuwendung. Keinerlei negative Gedanken. Der Mann war einfach nur glücklich.“

 

„Ich bin es jetzt auch“, sagte Waltraud und strahlte. Alle freuten sich mit Waltraud.

 

„Geben Sie mal Ihre Kappe“, sagte Zabel und winkte mit dem Zeigefinger. Plötzlich schien ihm doch noch ein kreativer Gedanke gekommen zu sein.

 

„Und was haben Sie zu ihm gesagt?“, fragte Zabel und zog die Kappe über das Messgerät.

 

„Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn genau so lieb hätte und dass es mir ähnlich ginge wie ihm.“

 

„Das Gerät wertet dahingehend aus, dass Sie immer noch voller Selbstzweifel stecken und hoffen, dass Ihr Freund Sie beim Händchen nimmt und all das mit Ihnen tut, was Sie sich allein nicht trauen.“

 

Schweigen. Alle Probanden blickten bedauernd auf die hilflose Waltraud. Soviel positive Zuwendung hatte sie noch nie bekommen.

 

Mein Gott, dachte Waltraud, wie man sich selber nur so viel vormachen kann...

 

Sie gab sich einen Ruck. „Die Versuchsreihe geht ja noch eine Woche. Bevor ich mich selbst betrüge, gehe ich jeden Tag mit ihm spazieren, und am Ende sehen wir, ob ich immer noch so defensiv bin.“

 

Zabel zeigte menschliches Verständnis und lächelte. „Aber warum wollen Sie ständig mit ihm spazieren gehen? Es könnte regnen oder stürmen.“

 

„Weil ich im Bett keine Kappen trage“, sagte Waltraud kess. „Und wenn wir nicht gerade spazieren gehen, bin ich im Bett mit ihm.“

 

„Und was wollen sie letztlich erreichen?“ fragte Zabel, als er sich erfolgreich das Grinsen verkniffen hatte.

 

„Dass ich nicht immer unten liegen will.“

 

Waltraud schlug die Hände vors Gesicht, weil sie rot angelaufen war.

 

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