Klaus-D. Heid

Die letzte Schlacht

Morgenstein sah auf die Uhr.

Ihm blieben noch knapp zwei Stunden, bis alles verloren war. Zwei lächerlich kurze Stunden! Zwei Stunden, in denen er das Unmögliche möglich machen musste, wenn er die kommende Nacht überleben wollte...

23.00 Uhr. Wer hat bloß das Gerücht in die Welt gesetzt, dass bereits um Mitternacht die Geister der Dunkelheit erscheinen? Morgenstein wusste es besser. Natürlich wusste er es besser. Besser sogar, als irgend jemand sonst auf der Welt! Seit er zum ersten Mal von der Existenz dieser Wesen erfuhr, bestand seine Leben nur noch aus Angst, Verzweifelung und ständigem Kampf gegen den drohenden Tod. Warum sie gerade ihn ausgewählt hatten? Er konnte es nicht sagen. Vielleicht, weil er den Tod nie als eine reale Bedrohung angesehen hatte? Weil er vollkommen unbedarft vor sich hingelebt hat, als gäbe es nur für ihn allein das ewige Leben?

Die Zeit verrann.

Nicht mehr lange und die Wesen würden versuchen, ihn zu holen.

Wie oft hatte er es schon geschafft, sich diese miesen kleinen Teufel vom Leib zu halten? Aber je älter Morgenstein wurde, um so schwerer fiel es ihm. Jeder neue Angriff kostete ihn unglaublich viel Kraft. Vor zehn Jahren hat ihm der Kampf gegen die Wesen sogar noch Spaß gemacht! Er hat bei jedem Wesen, dass er erlegen konnte, Jubelschreie ausgestoßen und sich auf den nächsten Angriff gefreut. Vor zehn Jahren.

Inzwischen hatte er kaum noch die Energie, eine einzige Nacht wach zu bleiben, ohne ständig in einen gefährlichen Schlaf zu fallen. Obwohl er genau wusste, welche Gefahren im Schlaf auf ihn lauerten, konnte er nicht mehr wie damals verhindern, einzunicken. Er war alt geworden und fürchtete sich davor, den nächsten Kampf zu verlieren. Sobald die Wesen ihre Chance witterten, Morgensteins Schwäche ausnutzen zu können, würden sie ihn zu sich holen. Wie blutgierige Ratten machten sie sich dann über seinen Leib her, trieben ihre scharfen Zähne in Morgensteins Körper und nagten ihm das Fleisch von den Knochen. Zu Tausenden kamen sie aus ihren Verstecken, um den Triumph zu feiern. Ihr ohrenbetäubendes Schmatzen und Knabbern steigerte sich so ekstatisch, bis ewige Taubheit die Ohren der Menschen verschloss.

23.30 Uhr.

Morgenstein rechnete damit, dass die Wesen diesmal nicht bis zur letzten Minute warteten, um loszuschlagen. Dieses Mal war alles anders! Wahrscheinlich waren sie sich absolut sicher, dass er zu geschwächt war, um ihnen Verluste zufügen zu können.

Sie kannten ihn. Sie wussten ganz genau, in welchem Zustand er sich befand. Weshalb sollten sie also warten? Je schneller sie Morgenstein holen konnten, desto weniger Zeit verloren sie anschließend damit, die Kammer plündern zu können.

23.50 Uhr.

Es dauerte doch länger, als Morgenstein dachte. Diese Teufel! Wollten sie tatsächlich so lange warten, bis er eine leichte Beute für sie war? Aber sie täuschten sich gewaltig! Er hatte nicht vor, kampflos unterzugehen. Und wenn es das Letzte war, was er in seinem Leben tun sollte, dann war es, so viele Monster wie möglich mit in die Finsternis zu reißen. Sein Ende würde garantiert nicht so aussehen, wie die Wesen es sich wünschten.

Morgensteins Augenlider wurden so schwer wie Backersteine. Immer wieder schüttelte er sein ergrautes Haupt, um sich gegen die Müdigkeit zu wehren. Wenn es wenigstens einen winzigen Lufthauch gab, der Erfrischung spendete. Bestimmt würde er wieder zu Kräften kommen, wenn er nur einmal etwas frische Luft einatmen konnte. Längst hatte er die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes geöffnet, um nicht ersticken zu müssen. Er fühlte, wie die Schweißtropfen von seinem Nacken den Rücken hinunterliefen. Gänsehaut. Gleichzeitig eiskalt und kochend heiß.

„Reiß dich gefälligst zusammen...!“

Er sprach sich selbst Mut zu, weil er ahnte, was auf ihn zukam. Er ahnte es nicht nur, er wusste es. Mit jeder Pore seines Körpers registrierte er die immer näher kommende Gefahr, der er sich mit allen Reserven seiner Stärke entgegenstemmen wollte.

„Bleib wach! Bleib, verdammt noch mal, wach, bis wir es hinter uns haben...!“

Noch eine Minute bis Mitternacht.

Morgenstein lauschte in die Dunkelheit. War da ein Geräusch? War es soweit? Seine Muskeln und Sehnen spannten sich zum Zerreißen. Aus allen Windrichtungen würden die Wesen auf ihn einfallen. Die langen scharfen Krallen ihrer hässlichen Pfoten dürsteten danach, tief Wunden in Morgensteins Körper zu hinterlassen. Sein Blut sollte spritzen, seine Adern sollten platzen, bis auch die letzten Tropfen seines Lebens versickert waren. Mit ihren gespaltenen Zungen schleckten die Wesen nach vollendetem Werk den hölzernen Boden auf, um sich an seinem vergossenen Blut zu berauschen.

12.20 Uhr.

Jetzt waren die Geräusche deutlich zu hören. Krrrrrrch.... Krrrrrchhh.... Krrrrrccccchhh...

An einer der Wände, die er noch nie gesehen hatte, suchte Morgenstein Halt. Die Kämpfe haben immer nur hier, in der Kammer stattgefunden. In der dunklen, absolut lichtlosen Kammer, die nun wohl seine letzten Minuten erleben sollte. Tausend mal zuvor hatte er versucht, durch Tasten eine Unebenheit an den Wänden zu finden. Anfangs hat ihn der Gedanke fast um den Verstand gebracht, dass die Wände glatt wie polierter Stahl waren. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, aus welchem Material sie bestanden.

Metall? Glas? Oder vielleicht Marmor?

Morgenstein lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sein durchgeschwitztes Hemd presste sich an seinen Körper. Die Wand fühlte sich kalt an. Eiskalt und tot.

Das Geräusch kam näher.

KRRRRCHH.... KRRRRRRCHHHHH...

Die fluoridzierenden Ziffern auf Morgensteins Armbanduhr zeigten ihm, dass es nun 12.35 Uhr war.

„Kommt schon, Ihr Bestien! Ich warte auf Euch! Und wenn Ihr es auch schafft, mich zu besiegen, so werden doch viele von Euch meinem Schicksal folgen...!“

Er schrie seine Worte wie ein Kampfruf in die Dunkelheit der Kammer. Mittlerweile spürte er die glitschigen Wesen so intensiv, dass er meinte, sie bereits berühren zu können. Oft hatte er sie berührt. Jedes Mal, wenn er sich ihnen zum Kampf stellte, fühlte er ihre feuchten Leiber, ihre krustige Haut und roch ihren ekelerregenden Gestank, den sie ausströmten. Manchen von ihnen riss er die Zungen aus den Mäulern oder bohrte ihnen seine ausgestreckte Hand in die Höllenleiber. Nach jedem Kampf war Morgensteins nackter Körper vom Kopf bis zu den Füßen von ihren bestialische stinkenden Eingeweiden bedeckt.

KRRRRRRRRCCCCCCC...

Endlich! Sie griffen an!

„Die letzte Schlacht...!“ schoss es Morgenstein durch den Kopf, bevor sich die Meute auf ihn stürzte. Er wehrte sich. Trotz seines hohen Alters entwickelte er unglaubliche Kräfte, mit denen er wie ein Berserker durch die Massen der Angreifer wirbelte. Wie ein Heuschreckenschwarm kamen die Wesen über ihn, bissen ihn, rissen das Fleisch von seinen Knochen und spieen ihm ihren eiterähnlichen Speichel entgegen. Immer wieder rutschte Morgenstein auf dem blutnassen Boden der Kammer aus. Immer wieder schaffte er es, sich aufzurichten, um sich erneut dem Kampf zu stellen. Eigentlich war er schon längst tot – aber sein Zorn, seine Wut und sein unbändiger Lebenswille halfen ihm, noch eine Weile am Leben zu bleiben.

Sieben Stunden kämpfte er gegen das Unmögliche an, dann war die Schlacht für ihn verloren.

„Herr Morgenstein? Was haben Sie denn dieses Mal gemacht, hm? In Ihrem Zimmer sieht’s ja aus, als hätten hier die Hottentotten gehaust! In einer halben Stunde gibt’s Frühstück!“

Der alte Morgenstein wurde langsam wach. Er hatte ins Bett gemacht. Die Schwestern kannten das schon. Sie würden das Bettzeug wechseln und kein weiteres Wort darüber verlieren.

Es waren doch wunderbare Wesen, diese Krankenschwestern...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.09.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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