Diethelm Reiner Kaminski

Was denken Sie in der Küche



„Entschuldigen Sie bitte, hätten Sie eine Minute Zeit für mich? Ich bin Mitarbeiter des Instituts für Psychologie, Referat ‚Die Frage der Woche‘. Würden Sie mir bitte, möglich spontan und ohne lange nachzudenken, die folgende Frage beantworten:
‚Was denken Sie, wenn Sie in der Küche stehen?‘“
Frau Wagensiel schaute den Frager entgeistert an, stellte dann aber doch ihre beiden schweren Einkaufstaschen ab und sagte zögernd: „Was ich denke, wenn ich in der Küche stehe? Ehrlich gesagt, wenn ich darüber nachdenke, ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber in der Küche sitze ich gewöhnlich: beim Backen, beim Kartoffelschälen, wenn ich unser Silber putze. Ich habe nämlich Krampfadern, müssen Sie wissen, und da bekommt mir das Stehen nicht so gut.“
Marek Poschkura war leicht irritiert: „Ein interessanter Aspekt, über den wir noch nachdenken müssen, in der Tat, vielleicht müssen wir wirklich differenzieren, denn eine Prämisse, der wir aber wohlgemerkt noch nachgehen müssten, könnte lauten: Unsere Körperhaltung beeinflusst unser Denken. Eventuell sogar unser Erinnerungsvermögen. Für heute aber treffen wir noch keine Unterscheidung. Ich wiederhole die Frage:  „Was denken Sie, wenn Sie in der Küche stehen?“
Greta Wagensiel wiegte ihren Kopf: „Also eigentlich habe ich gar nicht Zeit groß zu denken, wenn ich in der Köche Gemüse schneide oder Schnitzel paniere. Da schalte ich das Denken meistens ab, damit ich mir nicht mit dem Messer in den Finger schneide.  Und dann läuft ja auch das Radio, damit es mir nicht so langweilig ist. Jetzt sind Sie bestimmt enttäuscht.“
„Nein, ganz und gar nicht. Das ist nämlich genau unser Ansatz: Die meisten Leute, und insofern überrascht mich Ihre Antwort nicht, glauben nur, sie würden an bestimmten Standorten und bei bestimmten Verrichtungen nichts denken. Ein gewaltiger Irrtum. Wir vom Institut für Psychologie haben uns zur Aufgabe gemacht, möglicherweise wird sogar eine Lebensaufgabe daraus, diesen fatalen Irrtum aufzuklären. Am liebsten gehen wir natürlich empirisch vor. Was halten Sie davon, wenn ich Sie in Ihre Küche begleite, damit sie mir sozusagen am Puls des Geschehens authentisch berichten können, was sie gedacht haben, während wir in der Küche standen.“
Greta Wagensiel zögerte. „Zwar wohne ich nicht weit, aber ich kenne Sie doch gar nicht. Man hört in letzter Zeit so viel…“
Schon hatte Herr Poschkura Ausweis und Visitenkarte aus der Westentasche gezogen und hielt sie Frau Wagensiel unter die Nase: „Darf ich Ihre durchaus verständlichen Bedenken zerstreuen? Für solche freiwillige Mitarbeit steht mir sogar ein kleiner Etat zur Verfügung und ich könnte Ihnen Ihr Entgegenkommen mit 50 € pro angefangener Stunde vergüten. Ich helfe Ihnen natürlich, Ihre Taschen zu tragen.“
Schon hatte er die Einkaufstaschen aufgehoben und sagte: „Gehen Sie nur voraus.“
„Pro angefangener Stunde“, murmelte Frau Wagensiel, die ihren inneren Widerstand fast aufgegeben hatte. „So viel Zeit habe ich eigentlich nicht. Mein Mann kommt um 12.00 Uhr, da muss das Mittag pünktlich auf dem Tisch stehen.“
„Jetzt haben wir ja auch erst neun Uhr“, sagte Herr Poschkura, ich halte Sie bestimmt nicht länger auf, als Ihnen lieb ist.“
Herr Poschkura hatte sich an den Küchentisch gesetzt, während Frau Wagensiel sich daran machte, die Einkäufe auszupacken und in der Speisekammer zu verstauen. „Lassen Sie sich bitte nicht stören, aber ich muss meine knappe Zeit genau einteilen“, entschuldigte sie sich, als sie wieder in die Küche trat.
Und was denken Sie dabei?“, kam Poschkura auf den Anlass seines Hausbesuchs zurück.
„Was ich dabei denke?“, wiederholte Gerda Wagensiel die Frage des Interviewers, „was soll ich schon dabei denken? Dass ich heute Frikadellen und Möhrengemüse zum Mittag machen und noch Möhren und Kartoffeln schälen muss. Und dass mein Mann herummault, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht und er warten muss. Und dass er mich nie lobt, da kann das Essen noch so gut gelungen sein, und dass er wieder fragt, was ich den ganzen Vormittag getrieben hab, in der Wohnung sei nicht viel von Hausfrauenaktivitäten zu sehen, und dass er mir wieder Vorhaltungen macht, ich könne nicht wirtschaften und würde zu viel Geld ausgeben. Andere Frauen, z. B. seine Mutter und seine Schwestern, kämen mit viel weniger aus und lebten dabei besser als wir.“
Frau Wagensiel hatte sich so richtig in Fahrt geredet.
„War doch meine Rede“, ermunterte Poschkura sie. „Von wegen nicht denken. Die richtige Frage löst die Zunge.“
Gerade wollte Frau Wagensiel den Mann bitten, ihre Bemerkungen anonym zu behandeln, da kam ihr Poschkura zuvor und sagte mit veränderter routinierter Ansagerstimme: „Vielen Dank, liebe Frau Wagensiel, dass Sie unseren Hörerinnen von Radio 777 für die Livesendung ‚Hausfrauen heute‘ so bereitwillig Einblick in Ihre alltäglichen Gedanken gewährt haben. Wenn Sie uns jetzt bitte freundlicherweise Ihre Telefonnummer verraten würden, damit unsere sicherlich brennend interessierten Hörerinnen Gelegenheit hätten, Ihre Probleme zu diskutieren und eventuell sogar dazu beizutragen, sie noch heute zu lösen. Doch erst einmal eine kurze Pause mit flotter Musik. “
Der Seidenschal um Herrn Poschkuras Hals war leicht verrutscht. Erst jetzt bemerkte sie das kleine Mikrofon, das darunter verborgen war.
Mit einem schnellen Griff riss sie es ihm vom Hals.
„Sie gemeiner Schuft, wenn das mein Mann hört. Sind Sie noch zu retten?“, schimpfte sie.
„Tut mir leid“, sagte Poschkura, „Ihr Beitrag ist schon gesendet. Sehen Sie es doch von der erfreulichen Seite. Der Sender zahlt Ihnen 500 €, wenn Sie die angekündigten Anrufe entgegennehmen und sich kurz mit Ihren Leidensgenossinnen unterhalten.“
„Warum fragt er mich jetzt nicht, was ich in der Küche denke?“, schoss es Frau Wagensiel durch den Kopf. „Fünfhundert Euro, ganz für mich, selbst verdientes Geld, endlich einmal kann ich mir etwas für mich kaufen, ohne bei meinem Mann betteln zu müssen, und einen Denkzettel hat mein Mann schon lange verdient. Das ist es, was ich denke.“
„Gut, einverstanden“, sagte Frau Wagensiel, aber erst das Honorar bar auf den Tisch.“


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