Rebecca Wolf

Eine Geschichte über Entscheidungen

Bewusste Entscheidungen treffen war nie meine Stärke. Lieber lass ich mich mitreissen von anderen. Sie gehen vor, ich folge nur. Und wenn sie fallen, kann ich kurz vorm Abgrund stehen bleiben.  Viele Unentschlossene werfen eine Münze. Wie können sie behaupten, unentschlossen zu sein? Ist es kein bewusster Entschluss, die Münze zu nehmen? Sie zu werfen? Ihrem Urteil zu trauen? Die Entscheidung als die eigene zu verkaufen?
Wer weiß schon, was das Beste für einen  selber ist? Weiß man das nicht immer erst im Nachhinein? Wie kann ich je wissen, was richtig war, wenn ich nicht weiß, wie sich die andere Variante anfühlt? Reue. Reue ist mein ständiger Begleiter. Zweifel und Reue gehen Hand in Hand. Alles beginnt mit einem Lachen. Alles endet mit einem Lachen- nur ist es nicht immer das eigene.

Um 7 Uhr klingelte mein Wecker. Wie jeden Morgen. Ich kann mich nicht entschließen, ihn am Wochenende abzustellen. Wochenende. Das ist heute. Das ist morgen. Das ist alles. Für mich ist es nichts. Müßg stehe ich auf. Daran ändert auch die Marmelade nichts, die mir Lust auf Frühstück verschaffen soll. Auf dem Weg zum Kühlschrank laufe ich an Leichen vorbei. Weiße Blätter. Sie schreien mich an. Wollen Aufmerksamkeit, wollen gehört werden. Sie wollen Leben. Sie wollen mich. In einem Anflug von Trotz springe ich kurz auf einem herum. Es bleibt an meinem nackten Fuß kleben und begleitet mich in die Küche. Die Katze miaut. Die Katze miaut. Die Katze miaut. Was soll mir das sagen? Die letzte Milch geht für den Kaffee drauf. Lebenselixier, braune Suppe. Ein bisschen schütte ich in den Napf. Angewidert läuft die Katze davon. Sie hat keinen Namen. Ich konnte mich nicht entscheiden. Nun sitze ich am Küchentisch. Noch ist die Welt um mich herum leise. Als sei sie jemals laut. Wie lächelt man? Ich weiß es nicht. Das Brot schmeckt alt. Ist es auch. Wann war ich zuletzt einkaufen? Oder draussen? Wie lange ist die letzte Dusche her? Gedanken kreisen. Bei manchen wie ein Adler. Bei mir wie eine Motte. Träge. Gefangen in der Dunkelheit. Wer braucht schon Licht?

Niemand weiß, wie der andere fühlt. Man sieht nur vor die Stirn. Sonntags kommen sie. Schauen mich traurig an. Bringen Kuchen mit. Manchmal auch nur Kekse. Die Kekse sind teuer erkauft. "Wie fühlst Du Dich? Wie geht es Dir? Können wir Dir helfen?" Die Antworten auf diese Fragen sind der Preis. Sie wollen helfen, das sagen sie. Manchmal kommen sie nicht. Das hilft mir sehr. Ich mache ihnen die Fragen nicht zum Vorwurf. Doch wie soll ich mich dazu entschließen, zu antworten, wenn ich doch keine Antworten habe? Ich fühle mich wie jemand, den ich nicht kenne. Und manchmal, wirklich nur manchmal, ist da ein Hauch von dem, was ich einmal war. Was ich einmal wusste. Was ich einmal konnte. Die Zeit vergeht und bleibt nicht stehen. Nur bei mir. Gefangen in einer Endlosschleife wiederholt sich jeder Tag auf's Neue. Und nie wird sich etwas ändern.

An manchen Tagen ist sie noch bei mir. Sie hält meine Hand. Stellt Blumen auf. Singt ein Lied. Schimpft über den Nachbarshund, der immer bellt. "Nein, einen Hund, den will ich nicht. Lieber eine liebe Katze." Kaufen wollte sie nie eine. Dafür haben wir Zeit, wenn wir alt sind, meinte sie. Sie ist voller Energie, manchmal will sie in der Küche tanzen. "Dafür sind wir zu alt", sage ich. Schatten huschen über ihre Augen. Große, blaue Augen. Weit wie das Meer. Warm wie ein Frühlingstag. Und oft voller Wolken, wenn ich mich nicht entscheiden kann, sie einfach zu lieben. An manchen Tagen ist sie noch bei mir. Sie hält meine Hand.

Ein Trauerzug geht über den Friedhof. Still folgt er dem Sarg. Ein Behältnis für Knochen und Staub und Asche. Wo bewahrt man eine Seele auf? Bis dass der Tod uns scheidet folge ich dir. Heute nicht. Der Mann, der dort geht, das bin nicht ich. Ich tanze mit dir in der Küche. Kaufe dir deine verdammte Katze. Und ich halte Deine Hand.
5 Jahre sind eine kurze Zeit. 5 Jahre sind eine Ewigkeit. Für mich sind sie nichts.

Die Katze hat nicht geholfen. Soll sie auch nicht. Ich will allein sein. Die Katze will das auch. Wir passen gut zueinander. Kann ich die Katze alleine lassen? Für den, der stirbt, ist es einfach. Der Hinterlassene, der hat es schwer. Er muss sein Leben neu ordnen. Ich kann mich nicht entschließen, das zu tun.  Wie kann ein Himmel voller Sterne je wieder von Bedeutung sein, wenn alles Licht gegangen ist? Das Röhrchen steht vor mir. Es lächelt mir zu. Zaghaft versuche ich, zurück zu lächeln. Es will mir nicht gelingen. Was sind Tränen? Ich weiß es nicht. Meine Hand greift nach dem Röhrchen. 4 Jahre steht das Röhrchen auf dem Küchentisch. Der Inhalt soll mir Schlaf bringen. Traumlosen Schlaf. Wie kann ich meine Träume aussperren, wenn sie mein Schlüssel zur Erinnerung, mein Schlüssel zu glücklichen Tagen sind? Das Telefon klingelt. Ich gehe nicht dran und hypnotisere die Tabletten. Die Papiere rufen nach mir. Sie wollen gefüllt werden. Rechnungen. Briefe von alten Bekannten. Anweisungen. Ein Testament. Zusammen mit dem Telefon ergibt ihr Rufen eine altbekannte Sinfonie. Wer schreit lauter? Der Alltag, der mich einholt oder das, was ich nicht auszusprechen wage?

Bewusste Entscheidungen treffen war nie meine Stärke.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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