Eva D.

Abschied

23:17 Uhr.

Seit wie vielen Stunden ich hier wohl schon sitze?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.
Ich sitze einfach nur hier und starre auf all diese Geräte. Ich starre und ich flehe sie an.
Du musst es einfach schaffen. Du musst!
Ich achte auf jede Unregelmäßigkeit, jeder meiner Muskeln ist angespannt.
­– Auf einmal ein Ton.
Ich will nicht wissen, was er bedeutet.
Ich weiß es.
 
Dein Atem setzt aus.
Meine Gedanken beginnen zu rasen.
Ich denke zurück an den Tag deiner Geburt, meine Erleichterung, unser Glück.
Wir haben so lange auf dich warten müssen, dass wir fast daran zerbrochen sind. Seit Jahren hatten wir uns ein Kind gewünscht und die Hoffnung schon fast aufgegeben. Ich kann die Freude kaum beschreiben, die ich empfand, als ich erfuhr, dass du in meinem Bauch heranwächst.
Wir gaben dir jeden Tag meiner Schwangerschaft einen anderen Namen, weil wir uns nicht einig werden konnten. Du solltest einen Namen bekommen, der ausdrückt, wie sehr wir uns auf dich gefreut haben und einen, mit dem du selbst ein Leben lang zufrieden sein würdest. Wir haben uns vorgestellt, wie jeder Name klingt, wenn du erst erwachsen bist und etliche haben uns dann nicht mehr gefallen.
Wenn du erst erwachsen bist…
…und dein Atem setzt ein.
 
Dein Atem setzt aus.
Ich erinnere mich an dein erstes Wort, deine ersten Schritte, deine Neugier.
Womöglich sagen alle Eltern von ihrem Kind, dass es besonders lernfähig ist. So auch wir. Vermutlich ist das deshalb so, weil es uns als eine erstaunliche Leistung erscheint, wie viel und wie schnell der eigene Sprössling versteht und dazu lernt. Es ist wie ein Wunder.
Du hast 1000 Fragen am Tag gestellt und viele davon nur einmal. Jede Antwort hast du dankbar aufgesogen und hattest sofort eine neue Frage parat. Oft hast du dir auch selbst die Welt erklärt und zwar auf eine erfrischend einfache Art und Weise. Jede deiner Entdeckungen hat auch uns ganz neue Einblicke eröffnet. Wir fingen an, uns zu fragen, wieso uns die meisten Dinge zuvor so unheimlich kompliziert vorkamen.
Ich bin mir sicher, auch hierfür hättest du eine einfache Erklärung.
…und dein Atem setzt ein.
 
Dein Atem setzt aus.
Ich sehe dein Lachen vor mir, deine Lebhaftigkeit, die vielen schönen Momente mit dir.
Man hört von allen Eltern, dass Kinder ihr Leben unheimlich bereichert haben. Vor dir hatte ich nur eine blasse Vorstellung davon, wie Recht sie haben könnten. Für mich war das nur eine leere Phrase, eine Worthülle, die erst in dem Moment Bedeutung bekam, als du in unser Leben getreten bist. Deine schier unbändige Energie war einfach nur ansteckend und gab uns die Kraft, auch Zeiten zu überstehen, in denen wir allein wohl verzweifelt wären. Du warst unser Alles, unser Halt, unser Trost.
Am liebsten mochte ich unsere gemeinsamen Abende auf der Hollywoodschaukel im Garten. Vor allem wenn es dunkel war und Papa und du gemeinsam nach unseren Sternenbildern gesucht habt. Wie begeistert du warst, als du eines Nachts dein erstes Glühwürmchen gesehen hast! Du hast es zu deinem Lieblingstier erklärt und wir gaben dir einen neuen Spitznamen.
Von da an warst du unser kleines Glühwürmchen. Du solltest für immer leuchten.
…und dein Atem setzt ein.
 
Dein Atem setzt aus.
Mir fallen die vielen Schreckmomente ein, die Sorgen, die ich mir um dich gemacht habe.
Auch du hast zu den Kindern gehört, die eines Tages auf die Idee kommen, auszuprobieren, ob ein Kirschkern in eines seiner Nasenlöcher passt. Du hast gelacht bis zu dem Moment, als du gemerkt hast, dass du ihn nicht mehr herausbekommst. Dann hast du bitterlich zu weinen angefangen. Als die Kindergärtnerin und wir nicht mehr weiter wussten, sind wir zum Arzt gefahren. Wir hatten die Befürchtung, dass wir ihn herausoperieren lassen müssen, aber du warst ein Routinefall. In wenigen Minuten warst du den Kern wieder los und wir alle beruhigt.
Riesige Angst um dich hatten wir, als du dich beim letzten Stadtfest inmitten der Menge losgerissen hast, weil irgendetwas deine Aufmerksamkeit erregt hatte. Du warst plötzlich zwischen all den Menschen verschwunden. Mein Herz pochte bis zum Hals, wir sind hilflos umhergeirrt, haben verzweifelt nach dir gerufen und dich schließlich weinend an einem Zuckerwatte-Stand gefunden.
Alles kein Vergleich zu der Angst vor deinem Tod.
…und dein Atem setzt ein.
 
Dein Atem setzt aus.
Der Augenblick, der alles verändert hat, drängt in sich mein Bewusstsein.
Als der Anruf kam, war ich gerade von der Mittagspause zurück. Die Kaffeetasse fiel mir aus der Hand und zerbrach am Boden.
Unfall. Wiederbelebung vor Ort. Schwere Kopfverletzungen.
Die Worte hallten in meinem Ohr wider und sie verstummten, als ich einfach zusammenbrach. Seit ich wieder aufgewacht bin, bin ich nicht von deiner Seite gewichen.
Ich weine, ich bete und ich klammere mich an die winzige Hoffnung, du könntest es schaffen.
Die Ärzte geben dir keine Chance mehr. Ich solle Abschied nehmen, haben sie gesagt.
Ich sehe dich an und spüre deinen Schmerz als wäre es meiner.  
Ich wünschte, es wäre meiner.
…und dein Atem setzt ein.
 
Dein Atem setzt aus.
Ich fühle mich schuldig, mache mir Vorwürfe.
Mir dreht sich der Magen um.
Wieso war ich nicht da? Was es unser Fehler? Hätten wir es verhindern können?
So viele Fragen, auf die niemand eine Antwort kennt.
Ich weiß, es ist sinnlos und doch ahne ich es. Ich werde sie mir noch oft stellen. Sie werden mich den Rest meines Lebens wie Gespenster verfolgen.
Es kommt mir einfach so verkehrt vor. Wie kann eine Mutter ihr Kind für immer verabschieden?
Kinder sollten nicht vor ihren Eltern gehen. Niemals.
… und dein Atem setzt ein.
 
Papa ist jetzt auch hier. Wir sagen beide nichts.
Er hält meine Hand, und wir zusammen deine.
Ich spüre, dass unser Abschied endgültig bevorsteht.
Wenn du doch nur noch einmal die Augen öffnen würdest! Deine wunderschönen Augen – Wie könnten sie für immer geschlossen bleiben?
Irgendjemand hat beschlossen, dass du stirbst. Und wir können nichts dagegen tun.
„Es tut mir so leid, mein Kind.“
Ich hoffe, du weißt, wir sind da. Wir werden dich immer lieben.
Ich weine leise vor mich hin,
und dein Atem setzt aus…
 
Zeitpunkt des Todes: 23:32 Uhr.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Eva D.).
Der Beitrag wurde von Eva D. auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Eva D. als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Tanz der Zauberfee von Hartmut Pollack



Hier ist ein Buch geschrieben worden, welches versucht, Romantik in Worten zu malen. Gefühle in Worte zu fassen, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu überschreiten, ist immer wieder für den Poeten eine große Herausforderung. Zur Romantik gehört auch die Liebe, welche im zweiten Teil des Buches Platz findet. Liebe und Romantik sind und werden stets die treibenden Kräfte im menschlichen Leben sein. Hartmut Pollack legt ein neues poetisches Büchlein vor, das die große Bandbreite seiner lyrischen Schaffenskraft aufzeigt. Der Poet wohnt in der Nähe von Northeim in Südniedersachsen in der Ortschaft Echte am Harz. Die Ruhe der Landschaft hilft ihm beim Schreiben. Nach seinem beruflichen Leben genießt er die Zeit als lyrischer Poet. In kurzer Zeit hat er im Engelsdorfer Verlag schon vier Bände mit Gedichten veröffentlicht.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (4)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Abschied" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Eva D.

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ein ganz besonderer Tag von Eva D. (Unheimliche Geschichten)
Wieder geht ein Jahr von Rainer Tiemann (Abschied)
Sommer in den Städten von Norbert Wittke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen