Stefan Schöner

Schnee

Schnee

 

„Wach auf! Wach auf!“
Jemand rüttelt an meinem Fuß.
Ich fahre aus dem Schlaf hoch und sehe meine Frau am Fußende meines Bettes stehen. Fix und fertig angezogen, mit Wollmütze, Schal, Wintermantel und Handschuhen.
Ihr Gesichtsausdruck ist besorgt.
Geradezu alarmiert.
Mein Blick streift den Wecker: Viertel nach fünf am Morgen. Eigentlich eine Zeit, zu der meine Frau normalerweise schon zu ihrem Arbeitsplatz unterwegs sein sollte. Dass sie noch zu Hause ist und mich weckt, kann nur eines bedeuten: Es ist etwas passiert.
Etwas Schreckliches.
Mein Herz beginnt zu klopfen. Vor meinem inneren Auge tauchen nacheinander Bilder von einem zerknautschten Autowrack, einer Intensivstation mit piepsenden Apparaten und einem offenen Grab auf. Unserem Sohn ist etwas zugestoßen, da bin ich mir sicher.
„Was ist los?“, bekomme ich schließlich beklommen heraus. Es klingt etwas verschlafen.
„Ich kriege das Auto nicht vom Parkplatz“, jammert meine Frau, „und ich bin schon zehn Minuten zu spät dran.“
Ich gucke sie einen Augenblick ungläubig an. Das ist natürlich noch viel schlimmer als alles, was ich befürchtet hatte. Immerhin hat meine Frau ja bloß so an die hundert Überstunden auf ihrem Zeitkonto, da zählt jede einzelne Minute...
Erleichtert aufatmend lasse ich mich in mein Kissen zurücksinken.
„Wieso kommt du nicht vom Parkplatz?“, erkundige ich mich schließlich. „Hat dich jemand eingeparkt?“
„Nein“, informiert mich meine Frau ungeduldig, „der Wagen sitzt fest. Im Schnee.“
Schnee?
Ich schaue aus dem Fenster: Tatsächlich! Alles weiß.
Nicht nur ein bisschen.
Ordentlich.
Müssen mindestens dreißig Zentimeter sein, die heute Nacht gefallen sind.
Na klasse.
 
Seufzend erhebe ich mich, streife meine Hausschuhe über und wickle mich in meinen dicken Frottee-Morgenmantel, während meine Frau ungeduldig zappelt und demonstrativ auf die Uhr schaut.
Ja, ja, ihre Verspätung...
An der Wohnungstür greife ich noch schnell nach meinem Hausschlüssel und begebe mich dann ins Freie, um nach dem meuternden Gefährt meiner Frau zu sehen.
Gar nicht so kalt, denke ich, als ich aus dem Haus trete.
Vielleicht knapp über Null.
Nicht so schlimm.
Unser Hausmeister hat trotz der frühen Stunde schon den Gehweg vor dem Haus und den Fußweg von der Straße zum Eingang vom Schnee freigeräumt, registriere ich.
Sehr lobenswert.
Guter Mann.
Die Auffahrt zum Parkplatz hat er aber übersehen.
Muss ich ihn bei Gelegenheit mal drauf hinweisen.
Nein, nicht nur übersehen, merke ich nach wenigen Schritten.
Er hat den vom Gehweg geräumten Schnee in die Einfahrt geschaufelt, so dass sich hier stellenweise mehr als ein halber Meter der weißen Pracht türmt.
Dieser Drecksack.
 
Ich stapfe zum Wagen meiner Frau, der sich in der ungeräumten Auffahrt quer gestellt hat. Schnee rieselt mir in die Hausschuhe, durchnässt die Hosenbeine meines Pyjamas und den Saum meines Morgenmantels.
Mich schaudert.
So ein Mist.
Der Wagen sitzt fest, das sehe ich auf den ersten Blick. Meine Frau hat ihn mit der ihr eigenen Zielsicherheit in die höchste verfügbare Schneewehe in der ganzen Umgebung gesteuert, und dort ist er bis über die Oberkanten der Räder versunken.
Zwar nur fünf Meter von der Straße entfernt, aber im Augenblick könnten das auch fünf Kilometer sein.
Fantastisch.
 
Ich lasse mich in den Fahrersitz gleiten und bemühe mich dabei vergebens, nicht allzu viel Schnee in den Wagen rieseln zu lassen.
Wo ist denn der Zündschlüssel?
Hat meine Frau wohl abgezogen.
Egal.
Ich hole meinen Hausschlüssel aus der Tasche des Morgenmantels, denn an seinem Bund befindet sich der Zweitschlüssel zu ihrem Wagen, und starte den Motor.
Ein leichter Druck aufs Gaspedal... der Wagen rollt ein, zwei Zentimeter vorwärts... und die Räder drehen durch. Die Fahrzeugelektronik lässt ein ganzes Feuerwerk an bunten Warnleuchten auf dem Armaturenbrett aufblitzen.
So geht´s also tatsächlich nicht.
Ich beginne, den Wagen vor und wieder zurück schaukeln zu lassen, in der Hoffnung, dass eines der Räder greift. Meine Frau erkennt, was ich beabsichtige, und unterstützt meinen Plan, indem sie beginnt, das Auto anzuschieben. Leider schiebt sie aber immer dann nach vorne, wenn ich den Wagen nach hinten rollen lassen will, und so scheitert auch dieser Plan.
So geht´s auch nicht.
Hm...
Schließlich kommt mir ein Gedanke.
Im Kofferraum befindet sich doch noch eine alte Wolldecke, wenn ich nicht irre...
Ich hole die Decke, räume den Schnee vor einem der Antriebsräder zur Seite, und stopfe die Decke unter das Rad. Dann starte ich erneut den Motor, und... jawohl... es klappt... der Wagen rollt an und erreicht die Straße.
Hurra!
Ich steuere den Wagen an den Straßenrand und mache den Fahrersitz für meine Frau frei, die ihn ungeduldig umgehend einnimmt.
„Fahr vorsichtig!“, rufe ich ihr nach, während sie hektisch die Tür ins Schloss wirft und mit der höchsten gerade noch vertretbaren Geschwindigkeit abfährt. Die mittlerweile fünfzehn Minuten Verspätung wollen ja aufgeholt sein...
 
Ich wende mich wieder dem Haus zu und klaube auf dem Weg zur Tür die Wolldecke, die als Anfahrhilfe so gute Dienste leistete, aus dem Schnee. Mittlerweile ist mir ganz schön kalt geworden, denn nur im Pyjama und Morgenmantel sind auch Temperaturen über null Grad auf Dauer nicht gerade angenehm, vom Schnee in meinen Hausschuhen ganz zu schweigen. Jetzt noch mal eine halbe Stunde ins Bett...
Ich taste nach meinem Hausschlüssel... und greife ins Leere.
Der Schlüssel!
Verdammt, wo ist der Schlüssel?
Irgendwo im Schnee?
Ich schaue mich kurz um – und dann fällt es mir ein: Mein Hausschlüssel hängt am Reserve-Autoschlüssel meiner Frau.
Dem Autoschlüssel, der jetzt im Zündschloss ihres Wagens steckt.
Des Wagens, der gerade irgendwo auf der Bundesstraße in Richtung ihres Arbeitsplatzes schlingert.
So ein verdammter Dreck!
So fängt der Tag ja richtig gut an.
Ich denke kurz an mein Handy, will meine Frau anrufen, dass sie mir meinen Schlüssel zurückbringen möge, aber das ist natürlich ein geistiger Kurzschluss. Mein Handy liegt ja im Haus, gemütlich im Warmen. Um an den Apparat heranzukommen, brauche ich natürlich erst man den Hausschlüssel.
Das kann jetzt dauern.
Zwar nicht ewig, immerhin kommt unser Sohn in einer guten halben Stunde von seiner Arbeit nach Hause. Aber eine halbe Stunde, die kann sich ziehen. Bei diesem Gedanken wird mir gleich noch mal so kalt wie bisher.
Ich fluche leise vor mich hin, was aber natürlich auch nichts nützt. Es bringt mir den Schlüssel nicht zurück.
Ich schüttle über mich selbst den Kopf und sorgfältig den Schnee aus der Wolldecke. Zwar ist sie alt, abgewetzt und jetzt auch nicht allzu sauber. Trotzdem kann ich mich irgendwie des Verdachts nicht erwehren, dass ich sie jetzt doch noch mal brauchen werde...
 
ENDE

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Stefan Schöner).
Der Beitrag wurde von Stefan Schöner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Stefan Schöner als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Starke Mütter weinen nicht von Linda Mertens



In ihrer Biografie beschreibt die Autorin in sensibler und eindrucksvoller Weise den verzweifelten Kampf um das Glück ihrer kleinen Familie. 19 Jahre stellt sie sich voller Hoffnung den Herausforderungen ihrer schwierigen Ehe..........doch am Ende bleibt ihr nichts als die Erinnerung.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Humor" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Stefan Schöner

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Röhre von Stefan Schöner (Wahre Geschichten)
Die zärtlichen Worte eines Streithahnes von Michael Reißig (Humor)
Keine Antwort von Ariane Hofmann (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen