Tilman Otto Wagner

ZERO

Kosmische Antimaterie ... Geburt ... das Erwachen! Das Syntagma definiert sich über die Identifikation, Registrierung und Taufe des Individuums. Der Mensch ist gefangen in einem System. Strampelnd und kreischend, mit den Armen wild herumfuchtelnd, versucht er als Neugeborenes dieser unabdingbaren Realität zu entkommen. Er ist ein Teil des Prozesses. Hineingeboren in die hermetisch isolierte, plastische Innenwelt des determinativen Geflechts. Der Säugling erblickt das Licht / die Dunkelheit der Erde; sein „alter ego“ bewegt sich hinab, geistig und physisch der anorganischen Wirklichkeit innewohnend. Der Mensch wird, ohne Gegeninitiative entwickeln zu können, in die „Zone“ hineingeschleudert. Seine Identität verschmilzt mit dem sterilen, anorganischen Umfeld! Das regelmäßige, beständige Herzklopfen begleitet seinen gesamten Lebensverlauf. Es ist das Artefakt einer menschlichen Existenz. Dagegen steuert das mechanische Rauschen der Maschinen. Er ist mittlerweile dem routinierten Lebenskurs eines arbeitenden Beamten verfallen. Seine individuelle Natur passt sich allmählich dem Schematismus an. Kleine, lebendige Fragmente seiner frühen Kindheitserinnerungen lösen sich im Über – Ich auf. Er atmet – schläft – fühlt - arbeitet. Er ist Mensch und Materie zugleich. Seine Charakterzüge sind stereotyp mit dem Lebens-, und Arbeitsraum der objektiven Realität verknüpft. Sein Gesicht ist nicht erkennbar – Mensch des New Age. Er wacht jeden Morgen um 7:00 Uhr auf, verrichtet seine kulinarischen, digestiven und hygienischen Angelegenheiten, kleidet sich an (graue Stoffhose, schwarzer Pullover, langer, dunkler Mantel), und verlässt mit einer blauen Aktentasche in der linken Hand seine Wohnung. Auf den metallischen Treppen, welche sich von der Ebene seiner Etage zum Gelände hinunterstrecken, sitzen drei junge Frauen. Er schreitet durch die winzige Lücke, welche ihre Körper freigeben, hindurch, den Blick nach vorne gerichtet. Die kurze Begegnung prallt wie ein harter Gegenstand an ihm ab. Zielstrebig setzt er se! inen Weg zum Parkplatz fort; an den zwei rissigen Betonaußenwänden der Nachbarshäuser vorbei, auf die knorrige Tanne am Ende des Schleichweges zu. Seine Schritte gleichen einem Uhrwerk. Der Körper scheint von einem unsichtbaren Etwas gesteuert zu werden. Das Auto bringt ihn zum erwünschten Ziel. Er parkt den Wagen auf dem riesigen Gelände, unter den Büroräumen seines Arbeitsplatzes. Hunderte Automobile stehen auf dem glatten Zementteppich des Parkplatzes. Er schließt die Wagentür ab, vergewissert sich, daß er den vorgeschriebenen Parkabstand der Verkehsrnormative einhält, und geht mit immer schneller werdenden Schritten auf den aschgrauen Bau zu. Seine stumpfe Wahrnehmung steuert ihn über den Eingang des Hauptgebäudes auf den Fahrstuhl zu. Er durchquert lange Gänge von exaktem, geometrischem Muster. Rechteckige Fenster geben seinen regelmäßigen Gang wieder. Die graue Masse des Gebäudes nimmt seinen vorbeistreifenden Körper vibrierend auf. Kubistische Strukturen kennzeichnen die steril-kalte Innenwelt, in welcher er einen winzigen Kontrapunkt zum Gesamtgeflecht des Systems einnimmt. Er gleitet gleichmäßig, wie ein Magnet über einen Metalltisch, durch die Gänge voran. Vor dem Aufzug bleibt er stehen. Er betätigt den Rufknopf. Wartend, balanciert er die blaue Aktentasche in seiner rechten Hand. Statische Stille im Raum. Mensch (HERZKLOPFEN) und Maschine (FAHRSTUHLGERÄUSCH) – der Versuch des Humanoiden, in einer technologischen Welt Lebensberechtigung zu finden. Er steigt in den Fahrstuhl ein. Kaltes, schimmerndes Licht verhüllt seine gläserne Silhouette. Die Maschine nimmt seinen Körper mechanisch auf. Knochen und Ektoplasma werden gescannt. „Press Button ! ------ Door Opened ! Press Button ! ------ Door Closed !" Auf dem weiss-quadratischen Boden von symmetrischer Radikalität tanzen die Schatten seiner Bewegungen auf und ab, den hybriden Raum seiner Wahrnehmung sezierend. Er steigt die schwarz-weißen Treppen, welche unter seinen Füssen heranwachsen hinauf, jeden Schritt gleichmäßig und kontrolliert aufsetzend. Si! e bringe n ihn nach oben, zu den Kontrollräumen der Institution. An der Logistikabteilung des Unternehmens vorbei, schreitet er durch einen langen, schmalen Gang aus synthetischem Plasma hindurch. Die Decke des Raumes vibriert flackernd auf das Chromrot der Rohre und Stromleitungen herab. Das System nimmt lebendige, organische Form an. Milchgläserne Außenfenster würgen die dünne Innenluft des Gebäudes ab. Am entgegengesetzten Ende des Ganges befindet sich eine Türe. Auf halbem Weg bleibt er stehen. Er dreht sich wie ein Rotor um 180 ° um. Frozen Moment. Dann dreht er sich zurück, und setzt seinen Weg fort. In der zweiten Etage des Hauptgebäudes, hinter dem Treppenaufgang, befindet sich sein Bürozimmer, auf welches er, den blauen Aktenkoffer fest mit seinen schwarzen Lederhandschuhen umklammernd, zugeht. An der linken Außenwand des Raumes hängt ein isoliertes Bild auf dem immensen Dispersionsweiss der Betonfläche. Das Büro ist durch eine Metallbrücke zugänglich, welche den Klang seiner Schritte widerhallen lässt. In der Mitte der stählernen Zugangskonstruktion bleibt er stehen, seinen Blick auf das Gemälde an der linken Wand richtend: Menschen, gefangen in einem geschlossenen Raum, die schwarzen Gitterstäbe im Hintergrund ... lebendige Pinselführung in der Gestaltung der Hominiden. Kopfschüttelnd geht er weiter. Er sucht in seinem Büro Zuflucht. Die Türe aufsperrend, vorsichtig eintretend, Mantel und Handschuhe ablegend, taucht der Homo oeconomicus in das zeitlose Arbeitsbecken des Systems ein. Mit roboterhaften Bewegungen führt er sein tägliches Pensum aus: telefonieren, „computern“, Akten ordnen, Bleistifte, Heftklammern, Dokumente sortieren, Buch führen, notieren, eintragen ... kalkulieren ... Der Tag bricht an, und ab noch dazu. Es ist dunkel. Er kleidet sich an, greift nach der blauen Tasche und verlässt das Arbeitszimmer. Die graue Brückenkonstruktion herab, endlose Gänge aus Glas und Metall hindurchgehend, gelangt er zum Fahrstuhl. „Press Button ! ----- Door Opened !" Er steigt ein. "Press Button ! --! ---- Door Closed!” Die Türen schließen sich geräuschlos hinter seinem Rücken. Das Herzklopfen hält inne. Eine bleierne Ruhe erfüllt den Innenraum des Fahrstuhles. Rotes Licht. Mechanische Geräusche. Die kalte Gefahr des Raumes schimmert in seinen Augen. Vergeblich versucht er die Glaswände des Plasmas zum Einsturz zu bringen. Sie gelieren unter dem Druck seiner geballten Fäuste. Rotes Licht. Angsterfüllte Schreie. Kettengeräusche klirren aus den leuchtenden, roten Zahlen der Innenwände heraus. Er liegt zusammengekauert am Boden. Die possessive Gewalt der systematischen Apparatur nimmt von seinem zitternden Körper Besitz. Er versucht die Aktentasche - das einzige possessorische Relikt – als Schutz einzusetzen. Die Daten seiner Existenz: Sozialversicherungsnummer, meldeamtliche Registrierungsscheine, Urkunden, Akten und Zeugnisse - gefaltet und gepresst in eine blaue Stofftasche. Der Mensch im Bewusstsein des Zellenstadiums. Der Ausbruch aus dem hermetischen System. Er läuft auf die Türe zu. Seine Bewegungen dehnen sich elastisch aus. Der Körper sucht das Vakuum seiner Umgebung aufzulösen. In der rechten Hand baumelt die Aktentasche an seinem Körper entlang. Die ektoplasmischen Rohre der Decke metamorphosieren in organische Existenz von winzigen, schimmernden Lichtreflektionen, welche sich millionenfach im kalten Metall auflösen. Plötzlich löst sich sein Griff. Die Tasche fällt zu Boden. Er zögert ... kehrt um... bückt sich nach der Aktentasche ... hebt sie auf ..., dann läuft er auf den grell leuchtenden Ausgang zu. Er versucht die Türe zu öffnen. Sie ist versperrt. Er schlägt mit geballten Fäusten auf sie ein. Blitzartig zuckt sein Körper aus dem Bett hoch. Er wacht schweißgebadet in seinem Bett auf, öffnet die Augen, feuchtet seine Lippen an, atmet tief und schwer. Er hatte einen seltsamen Albtraum. Dann macht er sich auf den Weg zur Arbeit. Es ist bereits 7:01 Uhr. In der zweiten Etage des Hauptgebäudes angelangt, bleibt er auf der Metallbrücke stehen. Er betrachtet kurz das Gemälde an der! Außenwa nd seines Büroraumes, schüttelt den Kopf, und schreitet mechanisch weiter. Ein rhythmisches Klirren begleitet seine Schritte. Angstschreie und heiseres Lachen erfüllen den Raum ... Er sitzt in einem schwarzen Sessel vor dem Computer und tippt. Zwei weiße Sessel umgeben einen schwarzen Metalldrehstuhl unter dem rechteckigen Fenster, hinter welchem ein großer Baum seine Krone ausbreitet. Er ist von der plastischen Innenwelt abgeschnitten. Die gleichmäßigen Linien des Raumes verlaufen wie ein kryptisches Muster an seiner Bewegungslosigkeit entlang. Die kalte Stille breitet sich im Schwarz-Weiß der hermetisch-amorphen Zelle aus, in welcher seine Fingerbewegungen die einzige Regung des starren Zeit – Ort – Geflechtes sind, in das er allmählich versinkend hineinwächst.

2006

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