Diethelm Reiner Kaminski

Das verlorene Paradies



Bis vor zwei Wochen ging es meinen siebenundzwanzig Hühnern und den beiden Hähnen richtig gut. Sie lebten, verglichen mit dem traurigen Los ihrer Millionen Artgenossen in engsten Käfigverschlägen, geradezu in einem Hühnerparadies. Auf einem Grundstück von mehr als zehntausend Quadratmetern am Rande eines kleinen Dorfes im Sauerland. Darauf gab es Kastanien-, Apfel- und Walnussbäume, auch ein paar Linden und Buchen. Dazwischen vereinzelte Rasenflächen  und einen Tümpel. Das Grundstück wurde von hohen Böschungen mit Flieder- und Holunderbüschen und dichten Brombeerhecken begrenzt. Die Hühner konnten sich den ganzen Tag auf dem naturbelassenen Gelände tummeln, nach Würmern scharren und sich die Mägen mit Vogelmiere, ihrer Lieblingsspeise, vollschlagen. Die Hennen kamen freiwillig nur zum Schlafen, Eierlegen und Brüten in die Ställe.

Meine Großmutter hatte mir Haus und Stallungen, Garten und Grundstück vererbt. Das traf sich gut, denn ich hatte das Leben in der Großstadt satt und sehnte mich nach Rückzug und Ruhe. Meine Ersparnisse und das Erbe reichten für meine bescheidenen Bedürfnisse aus. Auch meine Hühner trugen durch fleißiges Eierlegen zu meinem Lebensunterhalt bei. Wie schade, dass meine Großmutter nicht mehr erleben durfte, wie ich ihren Hühnerhof ganz in ihrem Sinne führte: größtmögliche Freiheit den Hühnern und wenig Arbeit für den Hühnerhalter. Meine ganze Mühe bestand darin, die Stallungen in großen Abständen zu säubern, die Vollzähligkeit der Hühner zu überprüfen und die Eier einzusammeln und sie an Selbstabholer zu verkaufen. Um Futter und Wasser brauchte ich mich nicht zu kümmern. Das suchten sich die Hühner allein. Und für den Nachwuchs in ihrem Hühnerharem sorgten die beiden Hähne, ohne dazu ermuntert werden zu müssen.

Die Idylle änderte sich schlagartig. Keine Hühnerpest, kein räuberischer Fuchs, der den Hühnern den Garaus machte, kein Preisverfall beim Eierverkauf, sondern etwas völlig Unerwartetes. Der Feind lauert ja meist dort, wo man ihn am wenigsten erwartet. Eines Morgens fiel mir auf, dass sich das Grundstück irgendwie verändert hatte. Es wirkte kahler, weniger grün, erschien mir auch zertrampelter als sonst. Die Bäume standen noch, auch Büsche und Sträucher waren wie sonst. Doch selbst die Hühner verhielten sich anders. Normalerweise verstreuten sie sich über das gesamte Grundstück, um nicht von anderen bei der Futtersuche gestört zu werden.

Doch jetzt standen oder lagen sie in Gruppen phlegmatisch im Sand und blickten mich mit ihren gelben Augen vorwurfsvoll an. Was war geschehen? Was fehlte den Tieren? Ich war mir keiner Schuld bewusst.

Ich machte einen Inspektionsgang, um herauszufinden, was nicht in Ordnung war. Lange entdeckte ich nichts, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas fehlte. Aber was?

Und dann kam mir auf einmal die Erleuchtung. Den Boden bedeckte keine Vogelmiere mehr. Dieses unscheinbare Unkraut, im Volksmund auch „Hühnerdarm“ genannt,  überzieht sonst einzelne Flächen wie mit einem Sternchenteppich. Vogelmiere ist die Lieblingsspeise von Hühnern. Und auf einmal war dieser Teppich verschwunden. Konnten ihn meine Hühner in einem Anfall von Heißhunger verschlungen haben? Aber in solchen Mengen? Unmöglich! Außerdem deuteten die vielen frischen Fußspuren auf menschliche Eindringlinge hin. Aber wer stiehlt Unkraut, und dann so radikal, dass keine Pflanze übrig geblieben war? Wer selber Hühner züchtet, hat auf seinem Grundstück auch Vogelmiere, weil er die Futtervorlieben von Hühnern kennt. Die Konkurrenz konnte es also nicht gewesen sein.
Das Rätsel löste sich schneller auf als gedacht. Beim Durchblättern der Lokalzeitung entdeckte ich die Annonce des Dreisterne-Restaurants „Zum goldenen Löffel“, das seit Jahren Gäste zahlungskräftige Gäste von nah und fern in unser Dorf lockt.

Die Anzeige enthielt ein viergängiges Mittagsmenü zum Sonderpreis von 88 Euro inklusive Vogelmieren-Biowein zur „Entschlackung Ihres Körpers“. Bestandteil des Menüs war eine „sensationell neue Salatkreation aus pflückfrischen Vogelmierenblättern und –blüten“.
Sollte ich etwa meine siebenundzwanzig Hühner nebst Hähnen ins Dreisterne-Restaurant einladen, damit sie wieder an ihre Leckerbissen kamen? Oder sollte ich lieber warten, bis die Vogelmiere nachgewachsen war?

Ersteres hätte ich mir nicht leisten können. Bei aller Liebe zu den Hühnern, aber so weit ging sie dann doch nicht.
Also blieb mir nichts weiter übrig, als Tag für Tag die Traurigkeit mit den Tieren zu teilen und zu hoffen, dass ihre Leckerbissen bald nachwuchsen und so bald nicht wieder von dreisten Dieben ausgerupft würden.

Dass sich die Enttäuschung der Hühner negativ auf die Eierproduktion auswirkte, liegt auf der Hand, aber nicht nur das: Die Eier schmeckten nach dem Verschwinden der Vogelmiere von ihrem Speisezettel einfach scheußlich. Auch deswegen, weil mich immer wieder die eine Frage quälte und mit Zorn erfüllte: Müssen die Reichen jetzt selbst schon den Hühnern das Futter wegfressen?

Ich werde doch einen Elektrozaun um mein Grundstück errichten müssen. Und das Luxusrestaurant „Zum goldenen Löffel“ werde ich, drei Sterne hin oder her, aus Protest niemals betreten.


20.09.2011

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gesellschaftskritisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Schief gewachsen von Diethelm Reiner Kaminski (Satire)
irgend etwas ist anders, als sonst ! von Egbert Schmitt (Gesellschaftskritisches)
„Die Fahrausweise bitte...!“ von Klaus-D. Heid (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen