Iris Klinge

Überlebenstraining

 
Der Direktor der American High School in Bonn, an der ich Französisch unterrichtete, kam eines Tages zu mir und fragte, ob ich Lust hätte, an einem Sommercamp im Norden von Kanada teilzunehmen. Dort würde eine spanisch sprechende Betreuerin für eine Gruppe von mexikanischen Kindern gebraucht. Diese hatten sich neben den vielen amerikanischen Kindern angemeldet.  – Meine eigenen Kinder durften ebenfalls teilnehmen.
 
Wir starteten unsere Reise ins Abenteuer an einem Freitagabend mit dem Zug in Richtung Frankfurter Flughafen, nachdem wir vorher noch die Großeltern besucht und mit ihnen einen Waldspaziergang unternommen hatten.
 
Bereits im Flughafen klagte mein 12 jähriger Sohn über Grummeln im Bauch, das sich dann während des Nachtflugs zu einem Brechdurchfall entwickelte. Während des ganzen Fluges hielt er die Stewardess auf Trab und gestand mir zerknirscht, er habe im Wald Wasser aus einer Pfütze  getrunken.
 
Beim Anflug auf Toronto wurde das Bodenpersonal alarmiert, ein Rollstuhl und ein Krankenwagen standen bereit. Wir drei wurden sofort in ein nahegelegenes Krankenhaus verfrachtet, wo wir auf der Quarantänestation landeten. Ich kam mir vor wie eine Aussätzige.
 
Als erstes mussten die Formalitäten erledigt werden, dann wurde mein Sohn untersucht. Am folgenden Tag, nachdem die Ärzte festgestellt hatten, dass wir keine Gefahr für die kanadische Bevölkerung darstellten, durften wir weiterfliegen in Richtung Northbay. Von dort ging die Reise weiter gen Norden in das Temagami -Gebiet, ursprünglich Indianerland, das aus unzähligen Seen, Inseln und Wäldern bestand.

Das Sommercamp lag auf einer kleinen Insel im Temagami See und bestand aus etlichen Blockhäusern, die rund um ein Zentrum gebaut waren, in dessen Mitte das große Zelt stand, in dem für die 200 Kinder und Jugendlichen gekocht wurde. Französisch sprachige Helfer verwöhnten uns unermüdlich mit wundervollen Mahlzeiten.

So gab es jeden Sonntagmorgen eine Schlafanzug-Party mit Crèpes und Ahornsyrup neben den anderen Zutaten wie Früchten, Nüssen, Müsli, Kakao und verschiedenen Tees.

 Am 24. Juli wurde das Sommer- Weihnachtsfest gefeiert mit einem Tannenbaum, an den jeder eine kleine selbst gebastelte Dekoration hängen musste, und einem Festschmaus mit gefülltem Truthahn.
 
Es gab alle nur denkbaren Wassersport Aktivitäten im Angebot, Segeln, Windsurfen, Schwimmwettkämpfe und vor allem das Kanufahren. Mit den Booten ging es tagelang auf Tour in die Wildnis, von See zu See, dazwischen mussten die Kanus auf dem Rücken der Teilnehmer getragen werden. Abends dann das Schichten des Lagerfeuers, das Aufbauen der Zelte, und das Aufhängen der Nahrungsmittel in den umliegenden Bäumen, damit die nachts streunenden Bären sie nicht erreichen konnten. Die Mückenplage war entsetzlich. Dafür entschädigte uns der Sternenhimmel und das Schauspiel der Nordlichter in den verschiedenen Grün-und Blautönen.
 
Die im Camp zurück Gebliebenen konnten inzwischen an Workshops teilnehmen. Es gab Kurse im Töpfern, Schnitzen, Malen in verschiedenen Techniken und vieles mehr. Der Direktor des Feriencamps hatte einen großen Ofen angeschafft, in dem die getöpferten Werke der kleinen und großen Künstler nachts gebrannt wurden. Dieser riesige Brennofen stand in einem Holzhaus auf Pfählen und wurde mit Gas befeuert.
 
Dann passierte das Unvorstellbare.

Es war der 29. Juli 1981, der Tag, an dem Prinz Charles seine Lady Di zum Traualter führte. Morgens um 10 Uhr begannen in London die Feierlichkeiten.
 
Ich wache auf und schaue auf die Uhr. Fünf Uhr morgens, es wird gerade hell. Ich denke, jetzt ist es gerade 10 Uhr in England, und Lady Di bereitet sich auf ihre Heirat mit Prinz Charles vor.
 
In diesem Augenblick erschüttert eine Explosion die Insel. Ich sehe, wie das Holzhaus, in dem der Keramikofen steht, in die Luft fliegt. Eine Stichflamme entzündet die Bäume ringsum, alles steht in Flammen. Sofort meine mexikanischen Schützlinge aus dem Schlaf gerissen. Wir laufen hinunter zum Strand, einige schreiend, alle im Schlafanzug oder Nachthemd bibbernd. Dann renne ich noch mal zurück ins Blockhaus, um wenigstens meinen Reisepass zu retten.
 
Wenig später treffen die ersten Boote ein, um alle Bewohner des Camps  zu evakuieren. Vom Festland aus beobachten wir die Bemühungen der Feuerwehr, den Brand zu löschen, der die Bäume  rings um das explodierte Blockhaus erfasst hat.
 
Glücklicherweise konnten die Wohnhäuser gerettet werden. Der Brand war nach ein paar Stunden gelöscht. Wir kehrten zurück auf die Insel, doch der Schock saß tief. Die folgenden Nächte schrien einige meiner mexikanischen Schützlinge im Traum nach ihrer Mama und mussten getröstet werden.
 
(Für mich war das Zusammentreffen der Explosion mit dem Beginn der Hochzeitsfeierlichkeiten in England ein böses Omen. Und das hat sich bewahrheitet.)
 
Eine Kommission kam auf die Insel zur Untersuchung des Vorfalls. Der Direktor wurde auf der Stelle entlassen, denn er hatte unverantwortlich gehandelt, indem er einen viel zu schweren Brennofen umgeben von unzähligen Gasflaschen in einem Holzhaus auf Pfählen installieren ließ.
 
Alles war noch einmal glimpflich abgelaufen. Doch das Feriencamp, das als Überlebenstraining angekündigt worden war, hatte nun seinen Namen zu Recht verdient.
 
Zum Trost für die traumatisierten Mexikanischen Kinder durften sie eine Busreise nach Montreal und Quebec antreten, auf der ich sie begleitete. Auf diese Weise lernte ich einen neuen, interessanten Teil Kanadas kennen, in den ich später zurückkehren sollte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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