Margrit Baumgärtner

Zufall oder Schicksal

Es zog sie nicht mehr oft an diesen Ort. Seitdem ihr Pferd Sina im Alter von 20 Jahren gestorben war, konnte Beate diesen Pferdehof nicht mehr genießen. Im letzten Sommer, an einem sonnigen Augustmorgen, hatte man ihre kleine, braune Stute an ihrem vertrauten Liegeplatz im Offenstall gefunden. Sie stand nicht mehr auf. Aus nicht ersichtlichen Gründen war sie gestorben.

Der Schock und die Trauer hielten Beate für viele Monate gefangen. Nie würde sie wieder so eine innige Beziehung zu einem Pferd haben. Sina war etwas ganz Besonderes gewesen. So unscheinbar ihr Äußeres war, so vertrauensvoll war sie im Umgang. Beate liefen immer wieder Tränen über das Gesicht, wenn sie an die gemeinsamen 13 Jahre dachte. Erst seit wenigen Wochen kam sie wieder zu diesem Hof, den weitläufigen Weiden und dem großen Offenstall. Sie beobachtete wieder die vielen Pferde und Ponys, den Reitbetrieb am Wochenende, viele Reiterinnen und Reiter. Mit einem Seufzen, aber auch wieder mit Ruhe und Zufriedenheit konnte sie den Anblick in sich aufnehmen.

Seit einiger Zeit war ihr im Offenstall ein neues Pferd aufgefallen: Offenbar ein junger Schimmel-Wallach, dessen Fell noch überwiegend grau und die Mähne schwarz war. Nur ganz vereinzelt schimmerten ganz weiße Stellen an seinem Körper. Er würde erst mit den Jahren immer weißer undsomit zum "richtigen" Schimmel werden. Schon jetzt aber war dieser graue Schecke eine auffallende Schönheit. Viel wichtiger aber: Er war sehr freundlich und zutraulich. Beate hatte schon mehrmals am Zaun gestanden, ihn gerufen und gestreichelt. Wie ruft man ein fremdes Pferd, dessen Namen man nicht kennt... Beate hatte intuitiv in einem Blitzgedanken einen Namen gefunden: "Silver" - diese Bezeichnung war sofort in ihrem Kopf gewesen. Und obwohl alle Schimmel diesen Entwicklungsprozess zeigen - vom schwarzen Fohlen zum grauen Jungtier zum weißen Pferd - schien ihr diese Bezeichnung für dieses Pferd ganz speziell zutreffend und passend.

Einige Male hatte sie also "Silver" besucht, er schien sich sogar an ihr Rufen gewöhnt zu haben und reagierte prompt. Wem dieses schöne Pferd wohl gehörte, nie konnte Beate eine Person erblicken, die sich um den Grauen kümmerte oder ihn zum Reiten abholte. Das änderte sich an einem herrlichen Septembertag:

Es war viel los an diesem Sonntag, alle Pferdebegeisterten wollten den warmen Herbsttag genießen. Familien mit Kindern kamen zum Ponyreiten, Reiterinnen und Reiter meldeten sich zu einem mehrstündigen Ausritt an. Privatpferdebesitzer waren eifrig mit ihren eigenen Pferden beschäftigt oder mit dem Putzen von Sattel und Zaumzeug. Der Offenstallbereich war bis auf zwei braune Pferde leer - auch "Silver" war nicht da. Britta ging über das große Gelände und schaute dem Treiben zu. Wie sehr liebte sie diesen Ort eigentlich...wie schön es hier war...wie viele Erinnerungen hier in der klaren Luft zu schweben schienen...ach, Sina...!

Sie setzte sich auf eine Bank, schaute und wartete. Auf was ? Wäre es nicht schön, wenn Silver irgendwann von einem Ausritt zurückkäme...? Es dauerte kaum eine halbe Stunde, als Beate am Ende eines Waldweges ein silbergraues Pferd mit einer Reiterin erblickte. Beide kamen näher zum Absattelplatz. Ja, es war "Silver". Die Reiterin stieg ab, band ihn an einem Halfter an und reichte ihm einige Möhren. Beate konnte nicht anders, sie ging näher heran und suchte den Blickkontakt zu der Reiterin. "Schönes Pferd", begann sie ein Gespräch. "Ist das Ihrer ?"


"Nein", lautete die Antwort, "ich reite ihn nur ab und zu. Die Besitzerin kann das aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr, sie muss den Wallach verkaufen." Beate zuckte unmerklich. Verkaufen - dieses freundliche Pferd - diesen schönen Grauschimmel - was für eine Gelegenheit - sollte sie vielleicht fragen - war das nicht schon längst "ihr Silver"?! "Können Sie mir Kontakt zu der Besitzerin verschaffen ?" "Natürlich, ich gebe Ihnen die Handynummer gleich..."

Während das Pferd in den Offenstall gebracht wurde, wartete Beate mit zitternden Beinen, aber auch mit wachsender Entschlossenheit. Die Reiterin kam zurück und reichte ihr einen kleinen Zettel. "Bitteschön, rufen Sie doch gleich an." "Das werde ich machen. - Ach, übrigens: Wie heißt das Pferd eigentlich ?" 

Die Antwort kam laut und deutlich: "Silverado - aber er wird immer kurz SILVER genannt."

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