Germaine Adelt

...und sie fragt sich

   Diesmal kam sie eindeutig zu spät. Noch ehe sie die Tanzfläche erreicht hatte, krachte Gerds Faust in den Kiefer des anderen. Dieser hob durch die Wucht ein wenig vom Fußboden ab und kippte dann wie ein gefällter Baum einfach um. Strafend sah sie Gerd an. Der aber widerstand trotzig ihrem Blick. Der andere rührte sich nicht. Kein Stöhnen, kein Jammern, kein Fluchen. Er lag einfach nur so da.

   Besorgt beugte sie sich über den Fremden und fächelte ihm mit der flachen Hand etwas Luft zu. Diese Situation war wie so oft absurd. Gerd verprügelte einen Mann, meinte, es für sie zu tun, und ihr Mitgefühl für den Unbekannten ließ sie jetzt neben ihm knien.

   „Komm“, brummte Gerd. „Lass ihn!“

   „Was sollte das?“

   „Der Typ hat dich ja wohl angemacht!“

   „Er hat mich um einen Tanz gebeten“, widersprach sie leise.

   „Und hast du gewollt?“

   „Eigentlich nicht.“

   „Also!“

   Der Fremde lag noch immer regungslos da. Sie machte sich ernsthaft Sorgen und fühlte zaghaft seinen Puls. Gerd ließ sie gewähren, so wie er es immer tat. Sie spürte die neidischen Blicke einiger Anwesender im Saal, die vermutlich ihre Seele verkauft hätten dafür, dass Gerd mit einem ihrer Widersacher genauso verführe.

   „So geht das nicht weiter!“, flüsterte sie.

   Fragend hob Gerd die Arme: „Was verlangst du? Soll ich zusehen, wie der Typ dich nicht in Ruhe lässt, obwohl du mehrfach ‚nein’ gesagt hattest?“

   „Und was war mit dem von voriger Woche?“

   „Hat er dich nun bedrängt oder nicht?“

   „Und all die anderen!? Dir ist jede Ausrede recht.“

   „Ich liebe dich doch, Saskia.“

   „Ich weiß“, murmelte sie leise und widmete sich wieder dem Fremden. Es half nichts, sie mussten einen Krankenwagen rufen. Als sie versuchte, den großen, schweren Mann in die stabile Seitenlage zu wuchten, kam er laut stöhnend wieder zu sich und torkelte benommen nach draußen.

   Die Combo spielte weiter, als sei nichts geschehen. Sie wusste, dass sie so etwas nicht mehr lange mitmachen würde. Doch als sie später neben Gerd saß und ihren Kopf an seine Schulter lehnte, war es wieder da. Das Gefühl der Geborgenheit. Nur bei diesem Mann fühlte sie sich sicher. Niemand würde ihr wehtun, solange sie in seiner Obhut war. Sie liebte diesen Mann nicht wirklich. Sie hatte ihn nie geliebt und es tat ihr fast leid. Denn er verehrte sie, wie sie es noch nie erlebt hatte. Er würde für sie sterben, für sie töten. Sie war seine Göttin, der er nie etwas antun könnte.

   Manchmal verwünschte sie den Tag, an dem sie bei ihrer Schulfreundin Birgit übernachtet hatte und am nächsten Morgen regelrecht in die Arme ihres großen Bruders gelaufen war, der unerwartet Wehrdiensturlaub bekommen hatte. Gerds Arme. Auf den ersten Blick ahnte sie, dass es um ihn geschehen war. Sie selbst war sich nicht so sicher. Der Altersunterschied war ihr schlichtweg zu groß. Aber als sie in seine traurigen Augen sah, wurde ihr klar, dass ihr Mitgefühl am Ende größer sein würde.

   Zu gern wäre sie jetzt einfach nach Hause gegangen, um allein zu sein und vielleicht Musik zu hören. Am liebsten die von Udo. Sein neuer Song „Sie ist vierzig“ lief zurzeit im Radio rauf und runter. Leise summte sie die Melodie. Es war, als habe Udo ihr Leben beschrieben. Zumindest dieser eine Satz wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen, traf er doch so sehr auf sie zu, wenn man ihn geringfügig änderte.

   Sie ist siebzehn und sie fragt sich, war das wirklich schon alles, was für sie vorgesehen war.

 

   Gerd redete schon lange von Verlobung. Für ihn war das eine ganz normale Konsequenz, bis sie achtzehn war und er sie heiraten konnte. Alle beneideten sie um den zehn Jahre älteren Handwerker, der in absehbarer Zeit das Geschäft seines Vaters übernehmen sollte. Besonders ihre Eltern waren angetan von dem netten, jungen Mann, der ihre Tochter so sehr liebte. Sie wollte das alles nicht, aber niemand fragte sie mehr.

   Sie wollte einfach keinen Mann an ihrer Seite, bei dem sie ihr Leben lang aufpassen musste, dass er mit seinen großen, kräftigen Händen nicht irgendwann jemanden aus Versehen totschlug, nur weil der sie schief angesehen oder nach der Uhrzeit gefragt hatte.

   Sie ist siebzehn und sie fragt sich, war das wirklich schon alles, was für sie vorgesehen war.

 

   Sie war so müde. Ständig musste sie wachsam sein, besonders wenn Gerd getrunken hatte und in seinen Weltschmerz versank. Wie oft musste sie ihn dann beruhigen, Schlimmeres verhindern. Und immer war es ihr gelungen. Wie sie sich fühlte, interessierte niemanden.

   Auf dem Weg zur Toilette kämpfte sie nur mühsam gegen den Drang an, einfach wortlos nach Hause zu gehen. Als sie ihr müdes Gesicht im Spiegel sah, beschloss sie, Gerd zu verlassen. Sie wollte und sie konnte nicht mehr. Zugegeben, sie mochte ihn, sehr sogar. Aber die ganz große Liebe, für die man sich selbst aufgeben würde, war es einfach nicht.

   Der Gedanke, wie er darauf reagieren würde, machte ihr Angst. In seinem unbändigen Schmerz würde er unberechenbar sein. Der Zeitpunkt musste gut gewählt werden. Dann, wenn sie ganz alleine waren und sich niemand in der Nähe befand, den er verletzen könnte.

   Die Tür öffnete sich und Birgit stand vor ihr: „Er will noch mit seinem Motorrad weg“, flüsterte sie aufgeregt. „Du musst was unternehmen!“

   Saskia stöhnte leise: „Wo will er denn hin?“

   „Kennst ihn doch, einfach so umherfahren.“

   „Was soll ich denn machen?“

   „Irgendwas“, bettelte Birgit. „Dir wird schon was einfallen. Wir können ja irgendwas am Motorrad … Ich habe mal gehört, dass der Motor einfach ausgeht, wenn man Zucker in den Tank schüttet.“

   Saskia schwieg. Sie hatte keine Ahnung von Technik. Ihr war aber klar, dass sie es tun würde.  Die Angst, dass ihm etwas passieren könnte, war dann doch zu groß. Es waren nur ein paar Schritte zu ihm nach Hause und Gerd war an der Bar. Er würde es also nicht bemerken.

 

   Sein Motorrad stand wie immer neben der Garage. Birgit verschwand im Haus und kam mit einer großen Tüte Zucker wieder. „Geh schon“, sagte Saskia und nahm ihr die Tüte ab: „Verschaff mir etwas Zeit.“

   Lange betrachtete sie den Zucker. Wenn sie alles in den Tank schüttete, würde er es kaum bis zum Ortsausgangsschild schaffen. Sofern Birgit Recht hatte. Allerdings war es die Gelegenheit, ihren Plan noch heute Nacht umzusetzen. Sie musste ihn nur überreden, zur alten Fabrik zu fahren. Die kilometerlange Chaussee lag so weit abseits, dass sie kaum befahren war. Sollte er auf dieser Strecke eine Panne haben, würde es Stunden dauern, bis Hilfe käme, wenn überhaupt. Er müsste dann notgedrungen sein Motorrad schieben und wenn sie dann bei ihm wäre, hätte sie ausreichend Zeit, diese Beziehung behutsam zu beenden, ohne dass er anderen Schaden zufügen konnte.

   So nahm sie nur eine Handvoll Zucker und streute ihn in den Tank. Dann wartete sie geduldig auf ihn. Sie wusste, dass er gleich kommen würde. Sie wusste auch, dass sie ihn überreden konnte, sie mitzunehmen.

 

   Der kalte Fahrtwind tat ihr gut. Die Geschwindigkeit hatte etwas Berauschendes. Noch einmal lehnte sie sich an seinen großen, breiten Rücken. Zum letzten Mal, immerhin würde nach dem Rückweg Schluss damit sein.

Zu spüren wie der Motor plötzlich blockierte, war ein faszinierendes aber auch beängstigendes Gefühl.

   Sie ist siebzehn und sie fragt sich, war das wirklich schon alles.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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