Als ich meinen Wagen aus dem Parkplatz rangierte war
ich um einiges besser gelaunt als ich es zu dem Zeitpunkt zu dem ich
die Anstalt betreten hatte war. Ich blickte in den Rückspiegel
um den gigantischen Komplex noch einmal ins Auge fassen zu können.
Dieses Mal schien der Schrecken und die Ähnlichkeit fast
verflogen, denn irgendwie war ich froh, dass das was wir in dieser
Anstalt untergebracht hatten hinter dicken Mauern eingesperrt war. Es
wäre nicht auszudenken gewesen, wenn diese Leute frei
herumliefen und irgendwann, wenn die Demenz weit genug
Fortgeschritten sein würde, Menschen anfielen und somit
vielleicht sogar die Seuche zu einer Epidemie oder gar Pandemie
machten.
Ich seufzte und zwinkerte um trotz meiner
tränennassen Augen einen klaren Blick auf die Landstraße
zu behalten.
Ich musste an Anna denken. An Anna und all die
anderen. Es hatte hauptsächlich junge Menschen, wie sie,
erwischt und verurteilte sie nun zu einem langsamen aber
warscheinlich schmerzlosen Weg in den unvermeidlichen Wahnsinn. Keine
Heilung stand in Aussicht. Aber, man musste auch daran denken, dass
nur ein verschwinden geringer Prozentsatz der Menschheit bisher an
der Russell-Pest erkrankt war und es somit höchst wahrscheinlich
war, dass sie eines Tages, wie so viele andere Virusinfektionen,
einfach in das Nichts zurück verschwand aus welchem sie einst
gekommen war. Nun, Nichts konnte man nicht sagen, denn man hatte der
Welt ja bereits einen Namen für Jenes vorgesetzt, womit man
jedoch alles andere als zufrieden war.
Bei mir war das natürlich nicht anders. Zwar
hatte ich nun einige Antworten auf meine Fragen bekommen und der
offensichtliche Zustand der Patienten hatte mich in meiner
Unternehmungslust recht stark gebremst, doch gab es immer noch, oder
gerade erst jetzt, Dinge, aus welchen ich mir keinen Reim machen
konnte, von welcher Seite her ich sie auch betrachtete. Zu Beispiel
war es mir immer noch schleierhaft, wie Benarex, meines Wissens nach
ein Megakonzern im Bereich von medizinischem Großhandel und
-Versorgung, an die Patente für das Genom dieses verflixten
Viruses kommen konnte. Soweit ich wusste war Benarex ursprünglich
in Lichtenstein beheimatet gewesen, vor einigen Jahren aber in die
Schweiz gewechselt. Genauso wie SAPharm aus den USA in dieses Land
gekommen war.
Ach, wie weit war es schon wieder mit diesem Land,
nein mit dieser Welt gekommen. Wenn ich nun nicht den Anschluss an
die richtige Seite finden würde, dann wäre ich sicher
verloren, wie viele Unschlüssige vor mir. Sollte es jedoch die
Falsche sein, dann, ja dann, würde es mir zwar nicht unmittelbar
schlecht ergehen, doch mein Nachruf würde wohl ziemlich darunter
leiden. Die Söhne der Hyäne, so hießen sie doch?
Egal, irgendwie so ähnlich. Sie, gegen die freie Welt. Und
diesmal war es keine freie Welt, wie sie uns oft von der Großmacht
vorgegaukelt wurde, sondern diesmal war die Bedrohung sogar hier in
unserem Land, oder vielleicht auch nur hier, offensichtlich. Wieso
eigentlich? Wieso hatte sich diese Organisation zu aller erst an die
deutsche Regierung und nicht an, meinetwegen, die Amerikanische oder
Britische gewandt?
Ich versuchte mich wieder auf die Straße zu
konzentrieren, die sich vor mir durch den rostroten Buchenwald wand.
Ich fuhr vorsichtig, denn hier war schon zu viel geschehen, für
was ich jetzt keine Zeit hatte.
Ich musste noch einmal mit Theodor reden, bevor ich
mich ganz und gar festlegen konnte. Da er mich seit dem Anschlag
nicht mehr kontaktiert hatte, vermutete ich eine Verbindung zwischen
seiner losen „Organisation“ und den Hyänen. Sollte sich dies
Stimmen, so würde er mir entweder nichts davon erzählen,
oder er würde versuchen mich für sich zu gewinnen, was ich
keinesfalls zulassen durfte.
Eine Idee schlich sich auf leisen Sohlen in meine
Gedanken und brachte mich zu einem Grinsen, welches langsam immer und
immer breiter wurde.
Natürlich! So konnte das etwas werden. Sobald
ich es, wie auch immer ich es schaffen wollte, fertiggebracht haben
würde Theodor zu kontaktieren, würde ich einen Anruf bei
der Polizei tätigen. Man könnte dann sicher die nötigen
Schritte unternehmen um mir und Europa Gewissheit zu verschaffen.
Den Rest der Fahrt sann ich darüber nach, wie
ich Theodor zu fassen bekommen würde.
Als ich schließlich meinen Wagen zum halten
gebracht hatte, musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass ich
mich vor der Tür des Verlages befand und nicht wie geplant vor
meiner trauten Wohnung.
So beschloss ich die Gelegenheit zu nutzen und noch
einmal nach dem Rechten zu sehen. Es hatte sich sicher in letzter
Zeit eine Menge Papierkram angesammelt um welchen ich mich kümmern
musste. Außerdem konnte ich nur hoffen, dass Berla dafür
gesorgt hatte, dass die Zeitung weiterhin pünktlich
herausgekommen war. Um dies herauszufinden begab ich mich sofort nach
oben zu meinem Büro, in dessen Vorraum wie immer Frau Berla an
ihrem Schreibtisch arbeitete.
„‘n Morgen, Frau Berla.“, grüßte
ich freundlich.
Sie blickte mich erstaunt an und schaute dann auf
ihre Armbanduhr. „Morgen? Es ist halb vier.“
„Oh,“, meinte ich. „Auch egal.“ Ich wusste
nicht, wie ich fortfahren hätte sollen denn ich hatte ihren
anklagenden Blick bemerkt. Ich wusste, dass ich meine Pflichten
vernachlässigt hatte, aber ich war mir auch sicher, dass ich
dafür eine hervorragende Geschichte an Land gezogen hatte, fast
so, wie die Reporter in alten amerikanischen Filmen. Ich beschloss
also mir meine Betretenheit nicht anmerken zu lassen und fuhr fort.
„Nun öh,“, begann ich noch unsicher. „Haben
sie, haben sie dafür gesorgt, dass die Zeitung während
meiner Abwesenheit pünktlich herausgekommen ist?“
Die Sekretärin seufzte laut und schaute mich
wieder mit ihrem zerschmetternden Blick an. „Alles können sie
auch nicht von mir verlangen. Ich habe mein Bestes gegeben, muss aber
sagen, dass wir doch drei Ausgaben nicht mehr rechtzeitig
fertigbekommen haben.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Kein Problem.
Überhaupt kein Problem. Das Geld bekommen wir bald wieder rein.“
Ich grinste, doch sie schien keineswegs glücklich
über die momentanen Umstände zu sein.
„Ich weiß nicht wie sie sich das
vorstellen.“, knurrte sie.
Ich verbreiterte mein Grinsen um einige Millimeter.
„Ganz einfach, ich habe eine hervorragende Titelgeschichte, für
die wir sogar das Weltgeschehen um einige Seiten verschieben können.“
„Na dann raus damit!“, seufzte sie ungläubig,
vielleicht sogar etwas gelangweilt.
„Nun, ich war in Bitterwasser und...“, begann
ich.
„Damit werden sie sicher noch Ärger
bekommen.“
„Nein, nein, Berla, sie verstehen nicht. Nicht auf
die übliche Methode, ich habe mich schlicht und einfach
offiziell als Pressevertreter angemeldet und nach einigem hin und her
sogar einen Termin beim Leitenden Beobachter -was immer das auch für
ein Posten sein mag- bekommen.“
„Was sie nicht sagen.“, murmelte Frau Berla.
„He, vergessen sie nicht, dass sie bei mir
angestellt sind. Also...“
Nach etwas zwanzig Minuten hatte ich ihre die ganze
Geschichte samt meinen Mutmaßungen erzählt und sie
angewiesen mir sämtliche Telefonbücher zu bringen, die sie
im Verlag finden konnte und mich für die nächsten Stunden
nicht zu stören. Ich grub mich lange und tief in diese
einseitige Lektüre hinein, blätterte und suchte, bis ich
schließlich im örtlichen Register, welchen ich mir
natürlich bis zuletzt aufgehoben hatte, die gesuchte Nummer
entdeckte. Ein weiterer Erfolg, den ich heute verzeichnen konnte. Nun
konnte ich endlich die Ereignisse weiter voran treiben und wenn mein
Plan aufging, dann war ich bereits ein mehr als aktiver Teil im
ewigen Spiel der Weltgeschichte. Ich würde einer derer sein, die
die Seuche und vor allem den Wahnsinn, der ihr folgte, in die
Schranken gewiesen hatten. Ich würde es mit diesem Schachzug,
welcher zweifelsfrei recht genial war, endlich zu etwas bringen.
Würde ich letztendlich erfolg haben, so sähe man mein
Konterfei in jedem Magazin und in jeder Zeitung, meine
Berichterstattung würde zu Legende und mein Name unsterblich.
Bevor ich weiter in meinem augenblicklichen
Zukunftswahn schwelgen konnte wählte ich langsam und beinahe
feierlich die Nummer Anton Theodors.
Schon der erste Ton des Freizeichens wurde
abgebrochen.
„Dr. Theodor?“, schallte die weiche Stimme des
alten Mannes aus dem Hörer.
„Ja, Schleifer hier.“, antwortete ich mit
gespielter Hast „Sie, ich habe die Anstalt einmal in Augenschein
genommen und habe einige interessante Neuigkeiten für sie, aber
sie wissen ja, über das Telefon... Der Große Bruder sieht
dich.“
„Ja.“ Ein kurzes Rascheln war zu hören und
eine lange Pause folgte. Sicher wurde der Telefonhörer
zugehalten, während Dr. Theodor mit jemandem sprach. Dies gefiel
mir ganz und gar nicht, doch noch konnte ich jederzeit einen
Rückzieher aus meinem Plan machen. Schließlich musste ich
mich nur vor meiner Selbst rechtfertigen. Nein, ich wollte es tun.
Das Risiko war erstaunlich gering und der Lohn bestimmt nicht von
schlechten Eltern.
Endlich, nach beinahe zwei Minuten, nahm Anton das
Gespräch wieder auf.
„Wir treffen uns fünfzehn Minuten beim
;Elli’s’. Sie wissen sicher wo das ist?“, meinte der Alte.
„Natürlich.“
Er legte auf, keine Verabschiedung oder ein weiteres
Wort.
Dass er während des Gespräches auf Kohlen
gesessen war, hatte jeder merken können. Hier hatte ich meinen
Beweis, dass ich keinen Falschen erwischen konnte. Die Situation war
auch für ihn nach den Anschlägen der „Kinder“ recht
brenzlig geworden und er musste noch vorsichtiger als sonst sein,
sonst würde man seine Verstrickungen sofort aufdecken. Seine
Zelle war es schließlich, die am nächsten an der
Öffentlichkeit arbeitete. Damit würde schon bald Schluss
sein.
Ich blätterte weiter im Telefonbuch, bis ich
die Nummer der örtlichen Polizeidirektion gefunden hatte.
Exakt vierzehn Minuten später schlenderte ich
die Straße zu „Elli’s Vorstadtcafé“ hinauf und
blickte durch die Glasfront in den langen, niedrigen und spärlich
beleuchteten Gastraum des Cafés, doch ich konnte Theodor nicht
unter den wenigen Gästen ausmachen. So setzte ich an einen der
Imbisstische, die vor dem Haus auf dem sonnenbeschienen Gehsteig
standen. Zum wiederholten Male schob ich verstohlen die Hand unter
meine Jacke, die ich trotz der Hitze anziehen hatte müssen, und
überprüfte den Betrieb und die Fokussierung meiner guten
alten Versteckten Kamera.
„Ah, Herr Schleifer! Gut sie einmal wieder zu
sehen.“
Die Stimme Antons hinter mir ließ mich
ruckartig die Hand aus der Innentasche reißen und brachte mich
augenblicklich in eine Aufrechte Sitzhaltung.
„Ah,“, hustete ich erschrocken und versuchte
mich so schnell wie möglich wieder zu fassen. „Her Theodor,
ich habe schon auf sie gewartet. Ist etwas dazwischen gekommen?“
Er schüttelte den Kopf als er mir gegenüber
Platz nahm. „Fragen sie nicht. In letzter Zeit sind die Dinge nicht
mehr so gut gelaufen, wie wir alle Anfangs gedacht haben.“
„Die Anschläge?“, fragte ich.
„Ich sagte fragen sie nicht.“, sagte er etwas
eindringlicher.
Ich zog die Augenbrauen hoch.
Während die Bedienung unsere Bestellungen
aufnahm blieb mir noch etwas Zeit um darüber nachzudenken wie
ich ihn zum reden zu bekommen sollte, ohne ihn zurück zum
eigentlichen Thema unseres Treffens zurückzuführen. Was das
anging, stand ich auf verlorenem Posten, schließlich hatte ich
fast nichts, was für ihn von Relevanz gewesen wäre in
Bitterwasser erfahren und auch vor dem Treffen weder die Zeit noch
die Voraussicht gehabt mir etwas passendes aus den Fingern zu saugen.
Es blieb mir also nur noch ein Ausweg: Sturmangriff.
Ich lehnte mich etwas weiter über den Tisch und
flüsterte: „Die Sache mit Bitterwasser ist ernster, als ich
angenommen habe. Sie benutzen es nicht nur zur Verwahrung oder zur
Forschung, nein, ich glaube sie wollen eher auf eine, sagen wir,
etwas endgültigere Lösung hinaus.“
Die Gesichtszüge des alten Mannes sackten für
einen Moment ab, doch er war sehr darauf bedacht sich nichts von
seiner Bestürzung anmerken zu lassen. „Meinen sie, dass es so
schlimm ist“, hauchte er atemlos.
Ich beschloss besser gleich mit der Tür ins
Haus zu fallen, denn so war es mir eventuell möglich ihn in
seiner Erregung unvorsichtig werden zu lassen. „Friedrich Berg ist
tot.“, antwortete ich, langsam nickend.
Für einige Sekunden starrte er mich ungläubig
an, dann presste er seine Rechte gegen die Stirn. „Nein!“,
wisperte er.
„Doch!“, meinte ich und griff nach seiner Hand.
„Über ihre Tochter konnte ich nichts herausbekommen, doch wenn
sie etwas tun wollen, verstehen sie, dann jetzt.“
Der Alte hatte nun die Hand um sein Kinn gelegt und
blickte mich traurig an. „Nur was?“
Verschwörerisch blickte ich mich um. „Sie
haben doch sicher Verbindungen. Sie könnten doch sicher ein
treffen arrangieren.“
„Sie meinen mit den ;Kindern der Hyäne’.
Nein.“
„Was meinen sie damit?“, fragte ich verwirrt.
Er lehnte sich zurück und verschränkte die
Arme auf dem Tisch. „Ich will es nicht tun. Das ist zu gefährlich
und selbst wenn, würden sie ihnen niemals vertrauen.“
„Wir können es versuchen.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Diese Leute
sind wahnsinnig“
„Ist das ihr letztes Wort?“, wollte ich wissen.
„Schließlich, bleibt ihnen nicht viel anderes übrig.“
„Nun sein sie endlich ruhig“, herrschte mich
Theodor an und zog einen teuren Kugelschreiber aus seiner
Brusttasche. Er kritzelte hastig etwas auf die dünne, mit Kaffee
getränkte Serviette, die unter seiner Tasse gelegen hatte.
Schließlich streckte er mir die Hand entgegen, wartete aber
nicht darauf bis ich verstanden hatte und sie ergriff. „Guten Tag“,
sagte er und ging.
Etwas verdutzt über sein schnelles verschwinden
nahm ich die klebrige Serviette an mich, verschwendete aber keinen
Blick auf die dort notierten Daten. Nachdem ich die Rechnung –er
hatte mir auch seinen Kaffee überlassen- beglichen hatte, ging
ich zu dem dunkelblauen BMW, der etwa zehn Meter vom Café auf
der anderen Straßenseite stand. Vorne saßen zwei sich
erschreckend ähnlich sehende Männer mit Schnauzbärten
in schwarzen Lederjacken, weißen T-Shirts und Jeans. Das
typische Aussehen von Zivilpolizisten. Jedes Mal fragte ich mich wo
der Sinn darin lag auch den Freund und Helfer in zivil zu
uniformieren.
„Fahren sie mich bitte schnell zu meiner
Redaktion“, sagte ich zum Fahrer. „Ich muss den Speicher der
Kamera auswerten.“