Michael Böhme

Demokratie - alle Macht geht vom Volke aus

Zu einer funktionierenden Gemeinde gehört eine ›gesunde Kommunalpolitik‹. Natürlich steht in einem geordneten Gemeinderat auch eine ›gesunde Opposition‹ zur Verfügung. Ganz wie in der großen Bundespolitik wird hier in dem kleinen Dorf eine ›gesunde‹ politische Meinungsbildung betrieben. Die vielgenannten Bürgerinnen und Bürger – in Wahlkampfzeiten eine häufig gebrauchte Vokabel – haben dann die vermeintliche Möglichkeit die Geschicke ihrer Gemeinde mitzubestimmen. Wie in der großen Bundespolitik werden die Wähler vor der Abstimmung für intelligent gehalten, sind die Wahllokale geschlossen, die Partei hat Stimmen verloren, dann hat man es dem Wähler nicht richtig erklären können.

Ich hatte mich für die alternative Wählerliste entschieden. Das sollte meine neue politische Heimat werden. Also ging ich zu einer Wahlveranstaltung, die in dem einzigen Gasthof des Dorfes stattfand und war erstaunt, wie viele Mitbürger die Politik der Alternativen - wie sie nur genannt werden - unterstützen wollten. ›Vielleicht lag es an der Abwechslung, die es in einem kleinen Ort, wie diesem so selten gibt‹, dachte ich mir. Mühsam suchte ich mir an den langen Tischen einen freien Platz, fragte höflich, ob der von mir ausgesuchte Stuhl noch frei wäre und setzte mich, dass einladende Kopfnicken meiner Tischnachbarn abwartend. »… oder ist die alternative Politik das, wonach die Bürger so gesucht haben?«, fragte ich, die politische Diskussion suchend, meinen Tischnachbarn zu meiner Linken. »Wohl eher weniger«, befand er knapp und erklärte mir, er wäre nur hier, weil im Fernsehen sowieso nichts Vernünftiges gesendet würde und schließlich habe man offensichtlich den Termin so gelegt, dass nicht etwa ein Bundesligaspiel die ›Vollblut-Politiker‹ an die Apparate fesseln könnte. Das ermutigte mich ungemein zu folgender Schätzung, wie viel Prozent der Anwesenden, – in der Politik geht es schließlich oft um Prozentpunkte – aus demselben Grund, wie der meines Nachbarn, hier sein könnten. Prüfend überflog ich mit einem Blick die Interessenten in dem Saal. Am Vorstandstisch herrschte plötzlich eine zunehmend geschäftige Unruhe. Der politische Abend wurde durch den Parteivorsitzenden mit endlos langen Sätzen eingeläutet. Ich erkannte auf Anhieb, dass dieser Mann, ein bedeutender Kommunalpolitiker sein müsse. Er holte soweit aus, bis er zu den Anfängen seiner politischen Laufbahn zurückgekehrt war und endete mit der Tatsache, dass er – eine logische Konsequenz, wie er meinte – zum Bürgermeister dieser Gemeinde gewählt wurde. Nun aber hätte er von der Doktrin der Landes- und Bundespolitik endgültig genug. Schließlich sei er es doch gewesen, der aus unserem Dorf, das gemacht habe, was es jetzt ist. »Und so blicke ich voller Stolz auf meinen … unseren Ort inmitten der ›Nolde Landschaft‹«, erklärte er mit einem sanftmütigen Blick zur Saaldecke. Es folgte eine endlos wirkende rhetorische Pause. Warum allerdings ein großer Maler für die Beschreibung der tiefsten Provinz herhalten musste, das blieb für mich ein Mysterium. Nachdem er spürte, dass seine Redezeit abzulaufen schien, übergab er das Wort an den Kassenführer, der natürlich gewissenhaft die Kasse geführt hatte; was ebenso selbstverständlich von einem der Kassenprüfer bestätigt wurde und ebenso bedenkenlos wurde der Vorstand mit einem Beifall von allen Pflichten und sonstigen ›Ungereimtheiten‹ entlastet. »So eine Entlastung ist eine großartige Formsache. Fast wie eine Amnestie von allen Sünden«, flüsterte ein anderer Tischnachbar, der sich aber gleich eine Hand vor den Mund hielt und verlegen zum Vorstandstisch schaute. Es folgte eine lange Aufzählung der Dinge, die von alternativer Politik ins Leben gerufen und heute einen festen Platz im Gemeindeleben innehaben. Ein besonderer Vorteil schien, dass der Bürgermeister ebenfalls der Vorsitzende der alternativen Wählerliste war. Ich war mir ganz sicher. Hier traf ich auf wahren politischen Geist. Der zweite Vorsitzende nahm die Mitgliederliste vor und stellte mit lauter Stimme fest. »Es sind über die Hälfte ›Nichtmitglieder‹ hier versammelt.« Rasch setzte sich eine Funktionärin in Bewegung und verteilte hastig Mitgliedsanträge, die ebenso zügig ausgefüllt wurden, um dann auf dem Vorstandstisch einer weiteren politischen Bearbeitung zugeführt zu werden. Ja, es war schon ein Privileg, schnell und unbürokratisch ein Mitglied der politischen Gruppierung zu werden und zutiefst demokratisch über die zu vergebenden Ämter abzustimmen. »Es wird, wie in anderen Vereinen auch, die zu verrichtende Arbeit auf den Schultern der Amtsträger verteilt. Schließlich ist ein für die zu verrichtende Arbeit gewählter Amtsträger ein Werkzeug des Vorsitzenden, der zufrieden die Tätigkeiten seiner Untergebenen überblickt und die Lorbeeren für die geleistete Arbeit bekommt. Keine eigenen Ideen, dafür aber Gehorsam und eine genaue Beschreibung, wie die jeweilige Aufgabe zu bewältigen ist. Wenn etwas schief geht, dann hat natürlich der Amtsträger den ›schwarzen Peter‹. Oder sehen sie das anders?«, fragte mein Tischnachbar, der sich auch vehement weigerte, ein Mitglied unserer alternativen Politik zu werden. »Ich bin schließlich nur hier, weil im Fernsehen…“

»…nichts kommt. Das sagten sie bereits«, mischte sich der Nachbar von der anderen Seite ein. Diese überaus politische Diskussion wurde durch einen strengen Blick über die schmale Lesebrille der einzigen Frau aus den Vorstandsreihen erstickt. »Bevor wir nun die Ämter verteilen…«, begann der Vorsitzende und Bürgermeister, darauf bedacht, dass sein Bürgermeisteramt hier keinerlei Einfluss auf die Abstimmung haben dürfe, »möchte ich darauf hinweisen, dass die Vorschläge zu Amt und Personen an der Tafel notiert werden.« Er setzte sich wieder hin und alle schauten gebannt auf die große Tafel. Nur sehr zögerlich, wie eine zarte Blume, die auf steinigem Boden wächst, kamen erste Vorschläge. »Ich schlage Jan Martin vor!«, rief einer mit fester Stimme. »Das kannst du vergessen!«, rief dieser genauso zurück. »Schlage dich selber vor.“
»Macht man nicht. Man will sich nicht vordrängeln.“
»Ich möchte mich vorschlagen…«, meldete sich ein kleines Männchen, der in der Nähe des Vorstandes saß. »Das würde den Abstieg des Dorfes bedeuten…«, rief einer, der ein Landwirt zu sein schien. Hart sauste seine große Faust auf den Tisch. Wieder herrschte eine nervenzerreißende Pause. Nach einer ganzen Weile besannen sich die Anwesenden und irgendwann waren alle Vorschläge an der schwarzen Schiefertafel zu lesen. Niemand der Anwesenden hatte sich selber vorgeschlagen. »Immer werden die Kompetenzen und überragende Talente, die in den Kandidaten schlummern, von anderen erkannt. Vielleicht ahnt man gar nichts von seinen enormen Qualitäten«, sagte mein Nachbar, sich vorsichtig zu mir herüberbeugend. Der Vorsitzende und Bürgermeister stand auf und bekundete seinen Unmut. »Ich will ja nicht in die demokratischen Prozesse eingreifen, nein das steht mir nicht zu, aber ich hätte mir doch gewünscht, dass mehr Frauen den Zugang in die Ämter finden würden.« Er machte weder eine lange rhetorische Pause. »Aber das wird sicher nur ein Wunsch von mir bleiben«, sprach er bedächtig, die leuchtenden Augen zur Saaldecke gerichtet und setzte sich wieder hin. »Ich habe einen Antrag zu Geschäftsordnung zu machen!«, meldete sich einer der vorstandsnahen Parteimitglieder. »Ja? Was denn, Peter?«, fragte das, mit dem Amt der Wahlen beauftragte Vorstandsmitglied. »Ich finde es nur Recht, wenn…«, sagte er und suchte nach einem Verbündeten in der langen Vorstandsreihe. »… wenn wir einen Teil, ich denke da an etwa Neunundvierzigkommaneun Prozent, mit Frauen besetzen würden. Die anderen Parteien haben ja auch einen gewissen Frauenanteil.“
»Das ist so wie bei der Milchquote«, erklärte mein Nachbar in der Gewissheit, man könne das irgendwie vergleichen. »Peter, du weißt, dass der Punkt Vorschläge zu machen eigentlich vorüber ist. Wir können nicht…«, erinnerte der Wahlführer. Weiter kam das Vorstandsmitglied jedoch nicht. Der Vorsitzende und Bürgermeister, immer noch darauf bedacht, dass sein Bürgermeisteramt hier keine Gültigkeit habe, erklärte, sichtlich mit sich und den Statuten ringend – die eine Partei nun einmal hat. »Ich kenne Peter schon lange, und ich denke, wir können hier einmal eine Ausnahme machen.« Suchend schaute er nach links und rechts auf seine Vorstandsmitglieder, die zustimmend nickten oder emsig in ihren Akten blätterten. Es herrschte eine Totenstille. Sanft durchbrach der Vorsitzende das Schweigen. »Nun, ihr seht, es ist also möglich, noch einige Vorschläge zu machen. Ihr wisst auch, dass mein Amt des Bürgermeisters hier keinen Einfluss finden darf. Aber ich würde mir wünschen, dass Petra und Martina sowie Erna und als Kulturbeauftragte vielleicht…«, er blickte wieder sanft zur Saaldecke, »Sophie Müller gewählt werden. Aber wie gesagt…«, er machte schon wieder eine bedenklich lange Pause. »…also wie gesagt, ich kann und darf den demokratischen Entscheidungsprozess nicht beeinflussen. Ich nehme mir jedoch das Recht, auch einmal öffentlich nachdenken zu dürfen.“
»Ich schlage zusätzlich Sophie vor!«, meldete sich lautstark ein linientreuer Parteifreund. »Muss ich? Eigentlich will ich nicht!«, stellte Sophie Müller, die designierte Kulturbeauftragte, fest nach dem alle Wahlgänge vorüber und, wie mein Nachbar mir erklärte »im Block« abgestimmt wurde, gab es für die gewählten brandneuen Amtsträger nur noch ein einstimmiges »Ich nehme die Wahl an und danke für das Vertrauen.« Lobend erwähnte der Vorsitzende und Bürgermeister, der schon wieder darauf bedacht war, dass sein Bürgermeisteramt hier nichts gelte, das tiefe demokratische Verständnis, das die Mitglieder der ALW heute hier an den Tag gelegt hätten, und es wäre nun ein Leichtes die Mehrheit in dem neuen Gemeinderat zu erlangen. »Mit dieser Mannschaft überhaupt kein Problem!«, ergänzte der Kassenwart, den Vorsitzenden mit Lob bedenkend. Nachdem alles geklärt schien, verabschiedete der Vorsitzende die Wahlversammlung und bat darum, dass jeder einzelne alle Getränke, die er während des Abends zu sich genommen habe, auch zu bezahlen. Schließlich könne die Wählergemeinschaft nicht für den Durst ihrer Mitglieder aufkommen. Mit einem beruhigenden Gefühl, etwas gelernt und die große Politik hautnah miterlebt zu haben, ging ich zufrieden nach Hause.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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