Sie war
auf ihrem Weg.
Zu beiden
Seiten standen Bäume. Der Himmel breitete sein schönstes
Licht über ihr aus. Am Abhang zu einer Ebene hörte der
Bewuchs zu beiden Seiten auf und sie blieb stehen. In einer Senke vor
ihr breitete sich ein großer Garten aus. Es war ein so
großartiger Anblick. Und doch passte der Garten hier nicht hin.
Sie versuchte sich aus den Augenwinkeln heraus zu vergewissern, dass
alles wirklich wäre, dass sie durch den lichten Wald gegangen
war. Doch die Welt hinter ihr verschwand wie in einem Nebel, und es
war ihr, als ob die Welt rechts und links und hinter ihr in diesem
Moment nicht mehr zu existieren schien. Es war, als sei ein Kapitel
ihres Lebens in diesem Moment zu Ende gegangen.
Daher
richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit nun auf den Garten, der vor
ihr lag. Es war mehr als ein Garten. In ihm schien sich die ganze
Welt zu spiegeln. Seen und Flüsse, Hügel und Ebenen, Wälder
und Wiesen, Straßen und Wege waren zu sehen. Würde sie
ihren Weg weiter gehen, könnte sie geradewegs zu einem asiatisch
aussehenden Haus am anderen Ende des Gartens kommen. Gerade, als sie
so bewundernd da stand und sich noch überlegte, wie wunderschön
das alles sei, trat ein Mann in einem Kimono aus dem Haus. Er blieb
einem Moment oben stehen und sah zu ihr hin. Dann ging er die wenigen
Stufen hinunter in den Garten. Wieder sah er zu ihr hin und verneigte
sich. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er sie ganz
freundlich an. Es war ihr, als sei sie zu ihm heran gezoomt worden,
oder er sei im Bruchteil einer Sekunde näher an sie heran
getreten, oder der Garten sei gerade geschrumpft. Denn der Mann
erschien ihr so nahe, dass sie ihm fragen konnte, was das für
ein wunderschöner Garten sei. Der Mann antwortete:
„Das
ist der Garten der Wahrheit. Du darfst ruhig herein kommen.“
Dabei
machte er eine einladende Geste. Sie war unsicher und fragte deshalb:
„Auf
welchem der Wege soll ich denn gehen, es gibt so viele?“
„Das
liegt ganz bei dir. Du musst dich entscheiden.“
Und er
erklärte ihr, dass man von dort, wo sie stehe, kaum mehr als
zweidimensional sehe. Deshalb solle sie sich gut überlegen,
welchen Weg sie einschlage. In Wirklichkeit sei vielleicht der
anscheinend längere Weg am Rande des Gartens sogar der kürzere
oder bequemere, während der direkte Weg geradeaus vielleicht
viel mehr Mühe mache, weil sich Täler und Berge dort auftun
könnten und man dadurch länger brauche, um an sein Ziel zu
kommen.
„Aber
nur Mut“, ermunterte er sie, und er breitete mit dem Lächeln
eines Weisen seine Arme aus.
„Du
wirst deinen richtigen Weg finden.“
Mit vor
der Brust gekreuzten Armen verneigte er sich wieder, drehte sich um,
stieg die Stufen hinauf und verschwand im Eingang.
Ihr war,
als sei der Garten plötzlich wieder viel größer als
gerade noch zuvor, das Haus viel weiter entfernt von ihr. Nach einem
kurzen Moment des Nachdenkens, was ihr wohl passieren könnte,
wenn sie den direkten Weg weiter gehen würde, entschloss sie
sich, auf dem geraden Weg zum Haus weiter zu gehen, egal, wie viele
Berge zu überwinden und Täler zu durchqueren waren.
Vorsichtig
betrat sie den paradiesischen Garten.
In
Gedanken hörte sie noch die Worte des Weisen, bevor sie zügig
weiterging. Alles erschien leicht und die Bäume schienen sich
ihr zuzuneigen, Vögel zwitscherten fröhlich, der Himmel
schien sie zu umarmen.
Doch ihre
Gedanken betraten andere Welten, in denen es nicht so hell war. Und
bei jedem der dunklen Gedanken schienen die Täler, die sie
durchquerte, tiefer und die Berge vor ihr höher zu werden. Das
ging eine ganze Weile so. Doch dann wurde sie sich dessen bewusst und
blieb überrascht stehen. Das war es, was der Weise ihr hatte
sagen wollen. Und sie begriff, dass ihre Gedanken ihr Leben
beeinflussten.
Sie nahm
sich vor, gleichmütiger zu werden, Dinge einfach auf sich
zukommen zu lassen und sich dann erst mit ihnen auseinander zu
setzen. Diese Erkenntnis ließ sie ganz leicht werden. Ihr wurde
warm vor Freude, etwas Wichtiges gelernt zu haben.
Mit einem
dankbaren Blick nach oben ging sie weiter auf ihrem Weg.