Das positive Ergebnis wurde von den drei Physikern überschwänglich gefeiert. Zuerst mit Sekt und als der Sekt aufgebraucht war, mit Rotwein und dann auch noch mit Bier. Kurz nach Mitternacht rief Roberto, ein spanischer Physiker in diesem Team, alkoholisiert seinem Arbeitskollegen zu:
„Lass uns nach Hause gehen, aber vorher noch etwas aufräumen“.
Dann packte jeder seine Sachen und Roberto griff nach seinem Regenmantel, stopfte ihn in den Pilotenkoffer, knipste das Licht aus und ging zu seinem Auto. Er hatte nicht bemerkt, dass er daneben gegriffen hatte. Nicht den Regenmantel, sondern den Tarnmantel hatte er in seinen Pilotenkoffer gestopft. Auf dem Parkplatz stellte er seine Tasche neben seinem Auto ab, um auf seine Arbeitskollegen zu warten. Plötzlich sah er ein Taxi, rannte zur Strasse, winkte es herbei und stieg ein. Da er alkoholisiert war, hatte er das Gefühl, mit dem Taxi die richtige Wahl getroffen zu haben. Nun stand sein Pilotenkoffer alleine neben dem Auto auf dem Parkplatz.
Das kleine Büro in dem Haus neben dem Imperial College wurde von mir abgeschlossen. Müde ging ich zum Parkplatz, sah den Pilotenkoffer, öffnete ihn und sah den für mich wertlosen Umhang. Ich nahm an, dass jemand die Sachen hier abgestellt hat, weil er sie nicht mehr brauchte. Auf diesem Parkplatz wurden öfters Sachen abgestellt, die keiner brauchte. Eine schlechte Angewohnheit ist das. Ich packte die Tasche in den Kofferraum und fuhr nach Hause und nach einem kühlen Bier schlief ich auch gleich ein.
Am nächsten Morgen ging ich nach dem Frühstück zum Auto, öffnete den Kofferraum und sah mir den Inhalt der Pilotentasche genauer an. Was würden die Kinder und meine Frau sagen, wenn ich mit diesem Umhang zu ihnen kommen würde? Also zog ich diesen Umhang an, entdeckte auf der Innenseite den Schalter, den ich verwundert und neugierig betätigte und ging in den Garten. Marion, meine Frau und die Kinder, Mirco und Melina, saßen am Tisch und unterhielten sich. Als ich neben ihnen stand, wurde ich von niemandem beachtet.
„Hallo ihr drei“ sagte ich laut.
Alle drei blickten sich erschrocken um, aber nicht in meine Richtung. Dann unterhielten sie sich weiter. Nun hatte ich den Eindruck, dass sie mich nicht sahen. Bin ich für sie unsichtbar? Ich ging in das Haus zum Badezimmer und schaute in den Spiegel. Staunend sah ich, dass ich mich im Spiegel nicht sehen konnte und ging ich in die Küche, nahm ein Tablett, stellte drei Gläser mit Apfelsaft darauf und trug das Tablett in den Garten, zu dem Tisch, an dem Marion, Mirco und Melina saß. Ungläubig blickten alle drei auf das Tablett und beobachteten, wie es sich langsam und für sie schwebend auf den Tisch senkte.
„Eine Erfrischung gefällig?“, fragte ich und sah in die erschrockenen Gesichter.
„Ein fliegendes Tablett, das sprechen kann?“, sagte Marion leise.
„Lass uns einen Test machen“, sagte Mirco. „Jeder nimmt sein Glas, trinkt es aus und stellt das leere Glas wieder auf das Tablett. Als die leeren Gläser auf dem Tablett standen, sagte Mirco:
„Liebes Tablett, bring doch bitte die leeren Gläser in die Küche“. Und wieder staunend und ungläubig beobachteten sie, wie das Tablett durch den Garten in die Küche schwebte.
Als ich in der Küche ankam, knipste ich den Schalter im Umhang aus, schlüpfte aus ihm und versteckte ihn in meinem Schrank. Dann nahm ich das Tablett, goss neuen Apfelsaft in die Gläser, ging in den Garten und setzte mich zu meiner Familie.
Sofort erzählt Marion aufgeregt von dem fliegendem Tablett und Mirco forderte es mehrmals auf, zu fliegen. Aber es rührte sich nicht. Im laufe des Abends und auch in den nächsten Tagen haben alle zwischendurch an das Erlebnis mit dem Tablett gedacht und ich überlegte, was ich alles mit diesem Tarnmantel machen könnte. In die Bank gehen und dort sich selbst bedienen? Unsinn! Anderen Menschen helfen, ohne dass sie es merkten? Ich öffnete die Schranktür und sah, dass der Umhang weg war. In diesem Moment kam Marion und sagte mir, dass sie, als sie die gebügelten Hemden in den Schrank hängen wollte, den komischen Umhang sah. Und da er nicht zu mir passte, hatte sie ihn entsorgt. Die Müllabfuhr wäre auch schon da gewesen und hatte alles abgeholt. Nun schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf: „Wie gewonnen – so zerronnen“.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.09.2006.
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