Marianne Drews

Fräulein Osthues

Montag erste Stunde bei Fräulein Osthues. Nach dem Morgengebet kam wie immer die von mir so gefürchtete Frage: „Wer war gestern nicht in der Messe? Bitte aufstehen!“
Und wieder der innere Kampf. Soll ich freiwillig aufstehen oder es drauf ankommen lassen?
Ich bleibe heute mal sitzen, vielleicht übersieht sie mich ja einmal. Aber schon hörte ich ihr zischende Stimme. „Nanne wann warst du denn gestern in der Kirche?“
„Ich, ehm, ich war um zehn Uhr im Hochamt Fräulein Ostheus,“ stotterte ich vor mich hin.
Um neun Uhr war immer der Kindergottesdienst, indem dann auch Fräulein Osthues saß und darauf achtete, wer alles von ihren Schäfchen in der Messe war. Um zehn Uhr begann die Messe für die Erwachsenen, das so genannte Hochamt. Diese Messe war so langweilig, dass Kinder sie nur in Notfällen und unter Qualen besuchten.
„So, so, im Hochamt also, dann erzähle uns doch mal was gepredigt wurde, Nanne.“
Oh je, das auch noch. Ich spürte förmlich wie die Spannung in der Klasse stieg, und hörte ich da nicht ein leises Kichern?
„Ich habe nicht zugehört,“ sagte ich leise.
„Na dann sage uns doch mal einen Namen aus dem Evangelium von Gestern.“
Sie lies aber auch nicht locker und ich merkte wie sie es genoss. Wie konnte eine so alte Frau so gemein sein. Und als lange keine Antwort von mir kam sagte sie mit einem schadenfrohem Grinsen: „Du hättest bloß den Namen Jesus erwähnen müssen. Kannst dich wieder setzen.“
So ähnlich lief das Ritual jeden Montag ab. Meistens stand ich freiwillig auf, denn ich war fast nie Sonntags im Gottesdienst, aber Fräulein Osthues immer.
Ich war natürlich nicht die einzige die aufstand, aber auf mich hatte sie es besonders abgesehen.
„Na Nanne warum war’s du denn mal wieder nicht beim Gottesdienst?“
„Ich habe verschlafen,“ war meistens meine ehrliche Antwort oder:
„Ich hatte Bauchschmerzen,“ war meine meiste Ausrede.
Aber meine Antworten waren für Fräulein Osthues nicht die Richtigen. Ich musste weitere Warum- und Wieso- Fragen über mich ergehen lassen und damit wurde die peinliche Prozedur von ihr in die Länge gezogen.
Bis zur fünften Klasse war ich ein ruhiges und etwas schüchternes Kind. Niemals wollte ich in der Schule auffallen, was mir die ersten vier Schuljahre auch gut gelungen ist. Doch dann dieser Schulwechsel. Neue Wohnung neue Schule, neue Klassenkameradinnen. Diesmal war es eine reine Mädchenklasse. Und eine neue Lehrerin. Fräulein Osthues!
Weil ich katholisch getauft wurde haben mich meine Eltern auf eine katholische Volksschule geschickt, die damals noch bis zur achten Klasse ging. Religiöse Erziehung habe ich aber von ihnen nie erfahren. Mein Vater war ein Atheist, der sich grundsätzlich weigerte eine Kirche zu betreten. Meine Mutter, wie ich katholisch, ging nur zu besonderen Anlässen wie Hochzeit, Kommunion oder Beerdigung in die Kirche. Selbst an hohen Feiertagen besuchte sie nie die Messe.
So war ich, obwohl katholisch getauft, für mein Fräulein Osthues ein armes Heidenkind, das auf den rechten Weg gebracht werden musste. Vielleicht meinte sie es ja wirklich gut mit mir und wollte nur, dass auch ich in den Himmel komme.
Auf eine andere Weise versuchte sie mir Rechtschreibung bei zubringen. Dass ich es nicht konnte, war mir bis zu diesem Schulwechsel nicht ins Bewusstsein gedrungen.
Nie hatte mich jemand für meine schulischen Leistungen getadelt oder gelobt. Schule war kein Thema. Ich ging hin und gut war's. Mein Vater vertrat die Ansicht, dass ich sowieso früher oder später heirate. Für ihn Grund genug sich nicht um meine Schulnoten zu kümmern.
Da war Fräulein Osthues ganz anderer Ansicht. Ihr waren die ungewöhnlich vielen Fehler in meinen Diktaten und Aufsätzen ein Dorn im Auge. Aber je mehr sie mich dafür tadelte um so mehr wurden es.
Das aller Schlimmste waren aber die Berichtigungen. Während die anderen Mitschülerinnen ziemlich schnell damit fertig waren, konnte ich meistens das ganze Diktat nochmal schreiben. Aber damit nicht genug, natürlich war die Berichtigung nie fehlerfrei, so dass ich sie mehrmals schreiben musste. Fräulein Osthues übersah nie einen Fehler und gnädig war sie schon gar nicht.
Einmal ging sie soweit, dass sie mir mit dem Zeigestock auf die Finger schlug als ich zum x-ten mal meine fehlerhafte Berichtigung vorlegte. Da spürte ich aber auch zum erstenmal, dass die anderen Mädchen in der Klasse Mitleid mit mir hatten.
In meiner vorherigen Schule hatte ich nur mit jungen Lehrern und Lehrerinnen zu tun. Aber Fräulein Osthues war alt. Damals wurden noch alle Lehrerinnen, die nicht verheiratet waren, und das waren die meisten, Fräulein genannt. Fräulein Osthues war gar so alt, dass sie zu ihrer Anfangszeit unverheiratet sein musste um Lehrerin sein zu dürfen. War ihre Strenge dadurch begründet?
Unter ihre Fittiche schaffte ich die Versetzung in die sechste Klasse mal gerade so, aber diese mußte ich dann doch wiederholen. Das war dann die Krönung meines Leidens mit dieser Lehrerin.
Ich weiß noch wie ich mich am Tage der Zeugnisvergabe vor Scham in unserem Keller verkroch und hoffte, das Haus stürzt über mich ein und begräbt mich für alle Zeiten.
Dem geschah aber nicht so und nach einiger Zeit nahm ich allen Mut zusammen und verließ mein Versteck. Meine Eltern nahmen die Sache wie immer gelassen.
"Na dann wiederholst du sie eben," war ihr einziger Kommentar.
Aber für mich war die Pein ja noch lange nicht vorbei. Ich musste nach den Ferien als Sitzenbleiberin in eine neue Klasse. Es waren die schlimmsten Ferien meines Lebens. Der einzige Lichtblick, ich bekomme eine neue Lehrerin. Fräulein Osthues ade!
Doch es kam alles anders.
Erster Schultag nach den Osterferien, damals waren die Einschlungen und Versetzungen noch im Frühjahr. Mit klopfenden Herzen machte ich mich auf dem Weg. Unterwegs traf ich mal wieder eine Schülerin aus der Vorklasse, die jetzt auch meine Klasse sein würde. Ich bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
"Guten Morgen Nanne," begrüßte sie mich.
"Morgen," sagte ich und überlegte krampfhaft dabei, wie ich es ihr sagen sollte. Hoffentlich grüßt sie mich dann auch noch. Wer will schon mit einer Sitzenbleiberin was zutun haben.
Ich hatte einen dicken Klos im Hals.
"Ehm, du ich komme jetzt in deine Klasse," stotterte ich.
"Au fein dann können wir zusammen sitzen," kam es wie aus der Pistole
geschossen.
Na das war ja mal wirklich eine gute Überraschung. Doch noch stand mir ja der Rest der Klasse bevor. Aber mein Herz klopfte schon nicht mehr so schlimm und mein Klos im Hals war nur noch ein Klößchen.
Aber auch meine neuen Mitschülerinnen nahmen mich nach der Vorstellung durch die neugewonnene Freundin gleich in die Klassengemeinschaft auf. Und als es dann zur ersten Unterichtstunde klingelte war ich frohen Mutes.
Doch dann ging die Klassentür auf und ich traute meinen Augen nicht.
'Oh mein Gott, das kann doch nicht war sein', dachte ich angsterfüllt.
Fräulein Osthues wie sie leibt und lebt. Sie packte ihre Aktentasche aus, wahrhaftig.
'Deswegen hat sie mich sitzen lassen, damit sie mich weiter unter ihr Fittiche hat. Nimmt das Leiden denn gar kein Ende?'
Das Leiden nahm dann aber doch ein Ende, denn zu meiner großen Überraschung begann Fräulein Osthues gleich nach der Begrüßung und dem Morgengebet Aufgaben zu verteilen.
"Wer gießt hier immer die Blumen?" fragte sie in die Klasse hinein.
Als sich keiner Meldete fiel plötzlich mein Name.
"Nanne, dann bist du von nun an für die Blumen verantwortlich," bestimmte Fräulein Osthues.
'Warum gerade ich,' fragte ich mich im Stillen,'weiß sie, dass ich mit Blumengießen nichts am Hut hab? Und wenn Ferien sind muß ich dann so 'n ollen Blumenpott mit nach Hause nehmen?'
"Wer holt denn immer den Kakao vom Hausmeister?"war die nächste Frage.
"Ist immer jemand anderes,"tönte es aus der Klasse.
" Gut, Nanne du übernimmst das auch und such dir mal jemand aus, der mit dir geht!"
Huch, was war denn nun passiert, das waren ja ganz neue Töne. Dies war eine Aufgabe die mir hohes Ansehen in der Klasse verschaffte, wußte Fräulein Osthues das denn nicht? Doch sie wußte es, da war ich mir nach kurzem Überlegen ganz sicher. Denn mit dem Holen des Kakaos konnte man eher aus dem Untericht gehen und das war nur besonderen Schülerinnen vorbehalten.
Nun war ich nicht nur die Auserwählte, nein ich durfte auch jemand auswählen, das war Anerkennung in nie dagewesenen Maßen. Ich wählte natürlich meine neue Freundin.
Was war nur in Fräulein Osthues gefahren. Ich erkannte sie nicht wieder. Ihr mußte wohl ein Engel begegnet sein, der ihr so etwas wie Gnade für meine arme Seele eingegeben hat.
'Aber mal abwarten wie die nächsten Montage ablaufen, dachte ich mißtrauisch.
Doch nie mehr kam die gefürchtete Frage:
"Wer war nicht beim Gottesdienst?"
Drei Monate später ging Fräulein Osthues in Pension und ich blühte in der neuen Klasse auf.











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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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