Es
war mal wieder soweit. Heilig Abend, der 24. Dezember. Der
Schwarzwald lag unter einer wunderschönen Schneedecke, wie aus
Zucker. Georg Kessler saß wie jedes Jahr in seinem Zimmer und
bereitete sich auf seinen Auftritt vor.
Dieses
Jahr war alles anders, Georg hatte erfahren, dass er Krebs hatte, ein
unheilbares Magenkarzinom. Er würde nur noch wenige Monate zu
leben haben, ein tolles Weihnachtsgeschenk! 54. Er war doch erst 54
und sollte die Welt schon verlassen? Schönes Weihnachten!
Er
hatte Weihnachten immer gehasst, immer schon! Seit Lore ihn gezwungen
hatte, den Weihnachtsmann zu mimen, das war 74', als Thomas sechs
war. 30 Jahre, wo waren diese Jahre nur geblieben? Verloren. Sein
ganzes Leben war an ihm vorbei gerast, sein Leben hatte keine Zeit
gehabt, es wollte als Erster durchs Ziel. Ungerecht!
Er
stand auf und lief auf und ab durch sein Arbeitszimmer. Hier war sein
Freiraum, die Todeszone seiner Frau. Irgendwann hatte sie sich bereit
erklärt, ihn da nie zu stören. Abstand zu halten – Nur so
funktionierten lange Ehen. Er stand an dem Fenster und schaute aus
dem alleinstehenden Einfamilienhaus hinunter in das verschneite
Möhln. Das Dorf lag 200 Meter am Fuße des Berges, auf dem
sein Großvater das Haus errichtet hatte. Die hellen Punkte, der
erleuchteten Fenster, in der dunklen Schneelandschaft schienen sein
Herz kurz zu erwärmen. Gestern war er in Freiburg gewesen, sein
Vater sagte immer, er solle nicht in die Stadt fahren, von da kam
noch nie was Gutes! Dieses Mal hatte der alte Mann wohl Recht gehabt.
Unten,
vor seinem Haus, standen die Autos seiner Kinder. Thomas' Hyundai Bus
für seine siebenköpfige Familie, Maiks Defender, der auch
schon bessere Tage gesehen hatte, genau wie der versoffene Kerl
selbst und der blaue Ford Escort von Heidis Mann Paul. Sie waren alle
da und das verdammte Haus erschallte von ihren Stimmen und roch nach
Lebkuchen und Spekulatius.
Thomas'
Frau Hellen war nicht nur eine Gebermaschine, sondern auch noch eine
Backfabrik. Jedes mal, wenn sie auftauchten, roch das ganze Haus nach
verdammtem Fressen. Fressen für ihre verkackte Brut!
Georg
ging zu seinem gemütlichen Ohrensessel zurück, der neben
der kleinen, fahrbaren Bar stand und nahm das Glas mit Jack Daniels
in seine runzlige, zittrige Hand. Er wollte nicht sterben, sollten
die anderen doch verrecken! Warum er?
„Big
Daddy! Hast du alles, was du brauchst?“ Lores Stimme schepperte
von unten herauf und brannte in seinen Ohren. Er gab ihr keine
Antwort. Natürlich hatte er alles! Ein großes Stück
des gemeinen, hinterhältigen Ks, was wollte er mehr?
'Big
Daddy', wie er den schnulzigen Namen hasste. Lore hatte ihn vor
Jahrzehnten so getauft, als sie in einem Straßburger Kino „Die
Katze auf dem heißen Blechdach“ mit Paul Newman und Elisabeth
Taylor gesehen hatten.
Zu
Anfang ihrer Beziehung, wollte Georg sie nur flach legen, doch dieses
Sumpfhuhn wurde sofort schwanger. Sie schenkte ihm auch drei Kinder,
genauso wie die Schreckschraube in diesen sentimentalen Film und, oh
Wunder, sein Lieblingssohn wurde ein genauso arrogantes Arschloch wie
Paul Newman in dem Film. Er soff sich die Seele aus dem Leib, der
verdammte Bursche. Georg nippte an seinem Whiskey.
„Big
Daddy! Hast du nicht gehört? Es wird auch langsam Zeit!“
Georg
grunzte laut. Röchelte und hustete dann. Unten schrien die
beiden Zwillinge von Tom und sie schienen ihre jüngere Schwester
zu verfolgen. Georg hatte ihre Namen vergessen,so wie sie ihn das
ganze Jahr vergaßen. Nun, Opa war wohl leichter zu merken und
so sprachen sie ihn wenigstens zu Weihnachten an. Die vier Kleinen
konnte er sich gar nicht mehr merken und so nannte er sie still für
sich: Tick. Trick, Track und Fick. Die Große hieß Lucy,
glaubte er wenigstens, der nachfolgende Junge Kai. Georg hatte sich
nie für Thomas interessiert, er war stets Mamas Liebling
gewesen, warum sollte ihm seine Familie scheren?
„Opa
ist nicht der Weihnachtsmann!“ heulte das jüngste Mädchen.
„Opa
ist ein alter Furz!“ Lucy.
Dieses
kleine Miststück! Sie lungerte bestimmt wieder vor dem Fernseher
herum und glotzte MTV und schaufelte Lebkuchen in sich rein. Lore
nannte sie insgeheim eine Hure. Alles was kürzere Röcke
trug als ein Gürtel und dann noch im Winter bauchfrei herum
lief, war für seine ach so anständige Frau eine Hure. Da
machte ihre Enkelin keine Ausnahme. Ja und wirklich, wenn Lucy nicht
seine Enkelin und er nicht schon so alt wäre, dann würde
er... ja dann...
„Wo
hat der alte seinen Stoff versteckt Mom?“
Maik
brauchte seinen Whiskey nicht mehr, er hatte wohl auf der Fahrt genug
getankt, so wie er lallte. Seine junge Frau würde ihn jetzt
bestimmt tadelnd ansehen. Georg mochte seine Schwiegertochter,
Chantal war schon in Ordnung!
Er
trank den Whiskey aus, dann stand er auf und versteckte die Flasche
in der Schublade seines Schreibtisches und schlurfte zur Türe.
Er hielt inne. Jemand kam hoch, zwei Personen. Sie schlichen an
seiner Türe vorbei in sein Schlafzimmer, wo er seit Jahren nicht
mehr geschlafen hatte. Bestimmt Geschenke verstecken.
Sein
Krebs meldete sich und er krümmte sich vor Schmerz. Er wollte
sich nicht vom Alkohol auflösen lassen, wäre ja auch zu
schön gewesen. Ärzte wollen schließlich auch leben.
Er knurrte vor Schmerz, dann öffnete er die Türe und trat
in das Chaos seines Lebens. Unten krakeelte eines seiner Enkelkinder
und der Duft von Kaffee und Backwerk traf ihn wie ein Faustschlag.
Er
schaute nach Rechts und erkannte, dass die Schlafzimmertüre
einen Spalt breit auf stand. Langsam und leise näherte er sich
ihr und spähte hindurch. Was er sah, ließ seinen Magen
verkrampfen. Lucy lag auf dem Rücken auf dem Bett seiner Frau, (
Es gehörte nur noch ihr.) sie trug ein Shirt mit der Aufschrift
„SLIPKNOT“, unter der sich hässliche Fratzen versammelten.
Es ging ihr bis knapp unter der Brust und das Piercing in ihren
Bauchnabel blitzte im Halbdunkeln. Ihren zu kurzen Lederrock hatte
sie hoch gerollt und der Kopf seines Schwiegersohns klemmte zwischen
ihren Schenkeln. Paul war für Georg immer nur ein Stelzbock
gewesen, aber dass er seine Frau, die im neunten Monat schwanger war
mit ihrer Nichte betrog, setzte sogar diesem Versager die Krone auf.
Lucy
schaute ihn an, was sollte er sagen? Heidi würde sterben. Sein
Herz wollte stehen bleiben und der Blick seiner Enkelin wurde
eiskalt. Sie grinste ihn bösartig an und schien seine Gedanken
zu erraten. Sag' s doch du alter Furz!
Drauf
geschissen!
Was
hatte er damit zu tun, dass sich seine Tochter einen solchen Arsch
als Mann zugelegt hatte?
Nichts!
„Big
Daddy! Es ist gleich sechs!“ Lore ließ ihn zusammen zucken
Sag'
doch du alter Furz!
Er
drehte sich angewidert weg und schüttelte den Kopf. Sie war doch
erst fünfzehn! Was war nur passiert, er selbst war doch noch gar
nicht so alt. Abgesehen von seinem tödlichen Krebs war er noch
ganz fit. Er war kein Fünfzigjähriger, wie sein Großvater
einer gewesen war, er versteckte selber noch ganz gerne hin und
wieder eine Salami unter einem Rock. Er fühlte sich noch so jung
und war dem Tode doch so nah... Sein Vater feierte Weihnachten auf
Mallorca!
Scheiß
Weihnachten! Scheiß Familie! Scheiß Krebs!
„Big
Daddy!“ kreischte Lore.
Lucy
kam aus dem Schlafzimmer und rückte ihren Rock zurecht. „Na
Opa, alles gesehen?“
Sterbt
doch alle! Fahrt zur Hölle und nimmt diesen ganzen Scheiß
mit euch! Er schritt die große Treppe ins Erdgeschoss herunter,
Lucy und Paul folgten ihm. Unten lief seine jüngste Enkelin in
ihn rein. Fick! Selbst als er ihr Gesicht erkannte, fiel ihm ihr Name
nicht ein.
„Opa,
Opa! Du bist doch nicht der Weihnachtsmann, oder?“
„Natürlich
ist er das! Dumpfbacke!“ Einer der Zwillinge.
Georg
sagte nichts. Weder zu ihr, noch zu den anderen. Hellen ließ
den Hefeteig fallen, den sie gerade zu einem Zopf geformt hatte und
kam aus der Küche auf ihre Rasselbande zu. „Was hat Big Mama
gesagt? Ihr sollt Opa in Ruhe lassen! Ihr wisst doch, er mag
Weihnachten nicht, er ist dann immer komisch und verschwindet dann
immer.“
Sie
kniff ihm verschwörerisch ein Auge zu, so als haben sie das
Kennedyattentat ausgeheckt. Lucy pflanze sich mit einem unschuldigen
Lächeln auf das Sofa und schaute auf den Fernseher in dem eine
halbnackte Kapelle herum wirbelte, die sich die „Red Hot
Chillipeppers“ nannten. Paul stand hinter ihr und ging ihr zart
durchs Haar. Georg drückte ihn bei Seite und stapfte mit
schweren Schritten zum Keller. Der Hass in ihm zerfraß ihn,
mehr noch, als es der Krebs tat. Mit zittrigen Fingern drückte
er den Knauf der Kellertüre und starrte in das Dunkel des alten
Gewölbes, indem sein Großvater noch seinen Wein lagerte.
Die alte Treppe führte in die Dunkelheit, die warm und muffig
war, da sich im Weinkeller nun eine Heizanlage befand. Er kippte den
Lichtschalter um. Wütend stieg er auf die erste Stufe, sie
knarrte unter seinem Gewicht, dann die nächste, immer tiefer in
das feucht warme Verlies.
Spinnweben
wollten ihn aufhalten, so, als sei nicht nur seine Krankheit anders
in diesem Jahr. Da hing sie. Die alte, fleckige
Weihnachtsmannuniform. Sie war genau so kaputt, wie sein Leben, er
roch seine Whiskeyfahne und ekelte sich vor sich selbst. Er stieg in
die Hosen, dann in die Jacke, setzte die Mütze auf und band sich
den falschen Bart um. Zog die klobigen Stiefel an und schlurfte
Richtung Hinterausgang. er blickte noch einmal zurück und
entdecke eine Spinne, die ein Insekt fing, was wohl auch den Winter
in seinem Keller überleben wollte. Eine Gänsehaut legte
sich auf seinen Nacken und ließ ihn schaudern. Er öffnete
die kleine Holztüre und die Kälte wollte ihn erschlagen.
Warum
mache ich den ganzen Mist eigentlich? Er hasste seine Enkelkinder,
seine ganze Familie, sie waren Parasiten, die nur darauf warteten,
nach seinem Tod die ersparten Eigentümer unter ihren
spinnenhaften Finger zu verteilen. Er würde sterben. Warum saß
er nicht mit seinem knochigem, weißen Hintern am Strand auf
Kuba?
Ein
feines Klingeln holte ihn aus seinen Gedanken. Hufe kratzten über
etwas – Seinem Dach? - etwas schnaubte. Er blickte hinauf zu
seinem Dach und entdeckte auf dem Giebel etwas rot leuchtendes.
Rudolph, dachte er mit einem Grinsen im Gesicht und hustete kurz.
Ein
Surren zerschnitt den frühen Abend und Georg machte einige
Saltos rückwärts und landete mit dem Hinterkopf im Schnee.
Sein Körper stand vor ihm, kopflos und Blut spritzte aus dem
Ding, was einmal sein Hals war. So, als hätte sein Körper
noch nicht mitbekommen, dass etwas fehlte, machte er noch einige
Schritte und krachte dann wie ein Sack in den Schnee.
Georg
sah mit weiten Augen die rot weiße Figur vor sich. Der
Weihnachtsmann ist eine Erfindung von Coca Cola, war der letzte
Gedanke in seinem Hirn. Santas Gesicht war wutentbrannt, auf seinen
Schultern trug er eine blutige Sense. Er bückte sich zu ihm
runter, der Atem des Weihnachtmannes roch nach modriger Erde. „Jetzt
bekommt ihr was ihr verdient habt!“
Als
er noch versuchte, aus nicht mehr existierenden Lungen, Luft zu holen
sah Georg Kessler, wie der Weihnachtsmann auf sein Haus zu schritt
und Ho, ho, ho rief.