Ronald Willmann

Hundsgemein


In der Regel ging er ja den Hund ausführen. Manchmal auch zu den Skatfreunden in die Gartensparte „Sommerglück“, aber meistens war es der Hund.
„Er braucht mal wieder die große Runde“, sagte er einmal die Woche zu seiner Frau und diese ließ dann den Klumpen Hackepeter, den sie soeben für ihren träge und lustlos dreinblickenden Spaniel-Spitz-Mischling namens Mausi vorgesehen hatte, dezent auf den Küchentisch zurück gleiten.
Ihr Mann hatte ja Recht. Er hatte sowieso immer Recht, wie er ihr desöfteren erklärte, aber in diesem Fall wirklich. Mausi war – wie allerdings seine beiden Herrchen auch – unübersehbar etwas zu füllig gebaut und bewegte sich entschieden zu wenig. Ebenfalls wie auch seine Herrchen bereits im fortgeschrittenen Alter, lag der lethargische Nachfahre einst wilder, unbändiger Raubtiere – allzu viele Züchtungsstufen lagen leider dazwischen – den lieben langen Tag gelangweilt in der Küche oder vor dem Fernseher und wartete darauf, dass ihm Frauchen ein lecker Häppchen zusteckte. Bekam er dies, quittierte er die Zuwendung mit einem mürrischen, lustlosen Knurren, denn richtig satt wurde er offenbar nie.
Manchmal, in stillen, seltenen Momenten, wenn sie wie stets allein in der Küche hantierte, dachte die Frau dann: „Ganz wie sein Herrchen“, ihr seit 34 Jahren angetrauter Gemahl, der einst versprach, alles für sie zu tun und sie auf Händen zu tragen. Was am besten für sie zu tun war, das legte er freilich selbst fest und das auf Händen Tragen – sie hatten halt beide etwas zugelegt in den letzten 34 Jahren. „Wenigstens bin ich nicht allein und ihn wird mir schon keine wegnehmen“, sagte sie sich manchmal im inneren Zwiegespräch, wenn sie ihn in Cordhose, Unterhemd und herunter hängenden Hosenträgern, eine Flasche Bier in der Hand und die Fernsehzeitung in der anderen, auf dem Sofa sitzen sah. Sie hätte es schlimmer treffen können, befand sie, ohne dass sie auf Anhieb hätte sagen können, wie das aussehen sollte.
„Ich mach mal wieder die große Runde“, kündigte er an und sie dachte, das könne den beiden nur gut tun. Der Mann schnappte sich Jackett, Portmonee, Hut, Hundeleine und Mausi und ging nach draußen. Sie hatte es nie verstanden, warum er sich vorher immer umzog, aber so war er nun mal: Wenn er meinte, er müsse zum Hund ausführen oder Skat spielen frische Wäsche anziehen, dann war es eben so. „Pass im Park auf die anderen Hunde auf“, rief sie ihm aus Sorge um Mausi nach und er grüßte als Entgegnung noch einmal mit dem Hut und ging. So war es jedes Mal, ein unverzichtbares Ritual.
Draußen lenkte der Mann seine Schritte in Richtung Park und der lustlos dreinblickende Hund trottete gelangweilt hinter ihm her. Was die Frau nicht mehr sah und bis zu dem einen bewussten Tag auch nie erfahren sollte, war, dass er gar nicht in den Park hineinging, sondern vor der Hauptallee rechts abbog und den Weg zum nahe gelegenen Taxistand einschlug.
Hier begann für ihn sein ganz persönliches Ritual, egal ob er sich zum Skat oder zur „großen Runde“ verabschiedet hatte. „Wie immer?“, fragte ihn der Chauffeur, der mit seiner Taxe ganz vorn in der Reihe stand, und der Mann nickte nur kurz. Hier kannte ihn jeder und keiner musste erst lange fragen.
Der Taxifahrer nahm ihm den Hund ab und öffnete die Beifahrertür. Während der Mann sich in den Sitz wand, gab der Fahrer Mausi an einen Kollegen weiter. So lange ihre kleine Ausfahrt zu immer demselben Ziel dauerte, würde der träge Hund unter der Obhut der wartenden Taxifahrer zurückbleiben. So, wie es sich ergab, war jeder mal dran und viel aufzupassen gab es ohnehin nicht. Zumal sich der Mann nicht nur für die gebotene Diskretion, sondern auch für die dem Vierbeiner angediehene Fürsorge recht spendabel zeigte. Mancher der Fahrer ließ Mausi einen Happen seines Pausenbrotes oder der Currywurst zukommen und der Hund nahm alles ohne äußere Regung an. Wenigstens machte er keinen Ärger.
Unterdessen hielt das Taxi bereits vor einem Etablissement namens „Je t’aime“, mit bunter Neonreklame über der Eingangstür. Der Vergleich mit bestimmten Vierteln in St. Pauli war gar nicht so weit hergeholt, denn der Geschäftszweig des „Je t’aime“ ging in dieselbe – quasi die horizontale - Richtung. „Also bis dann“, verabschiedete sich der Mann bei seinem Fahrer und dieser wusste, dass er jetzt ungefähr eine dreiviertel Stunde, selten länger, zu warten hatte, bevor es wieder an den Ausgangspunkt ihrer Fahrt zurückging. Dort würde der Mann seinen Hund in Empfang nehmen und gemeinsam kehrten sie dann von der „großen Runde“ heim. Der Hund, obschon stets lustlos und missgelaunt, war ein treuer und vor allem verschwiegener Begleiter. Und Frauchen war froh, dass er wieder einmal so ausgiebigen Auslauf bekommen hatte, wofür es sicher einen leckeren Belohnungshappen gab. Mit selber Laufen hatte es Frauchen nicht so sehr.
Im „Je t’aime“ ging es weit weniger schweigsam zu als auf dem späteren Heimweg. Als guter Stammgast wurde der Mann mit großem Hallo begrüßt. Von jungen Damen. Ausgesprochen reizend – man könnte auch sagen: aufreizend – gekleidete junge Damen. Eine nahm ihm den Hut ab, eine den Mantel, eine brachte ihm ein Bier und eine rückte ihm einen Sessel in einer der diskret abgetrennten Sitzecken zurecht. Man setzte sich und wie stets pflegte der Mann in die Runde zu fragen: „Na, wie wäre es mit einem Fläschchen Schampus zum Aufwärmen?“. Erneut großes Hallo, eine der Damen holte Rotkäppchen, die Flasche zu 40 Euro, man stieß neckisch an und der Mann hatte seine Hände überall, wie es ein reihum gehendes Kichern und Glucksen kundtat – nur nicht am Sektglas.
Dann musste es recht schnell gehen, schließlich warteten nacheinander Taxi, Hund und Frau auf ihn. Mit einer der ihn umgebenden Damen – er liebte die Abwechslung – ging er in eines der Separees, ausgestattet mit eigener Toilette, dunklen Brokatvorhängen und großem Bett. Die diesmal leer ausgehenden Kolleginnen erhielten jede ein kleines Dankeschön in finanzieller Form und konnten sich damit trösten, dass sie auch wieder einmal an die Reihe kämen. Der Mann genoss einen Ruf als generöser, gesitteter Herr mit Anstand und dem nötigen Kleingeld.
Was in dem Zimmerchen geschah, darüber schweigt der Chronist und das geneigte Publikum möge hier seine Fantasie spielen lassen. Jedenfalls ging nach zirka einer halben Stunde die Tür wieder auf, der Mann ließ sich Hut und Jackett geben, während seine Begleiterin noch rasch einige Geldscheine in ihr Strumpfband schob. Man verabschiedete sich per Wangenkuss und draußen, vorm „Je t’aime“, warf der Taxifahrer die angerauchte Zigarette weg und hielt ohne jegliches anzügliche Grinsen die Beifahrertür auf.
„Na, euch ist bestimmt kalt geworden nach eurem langen Spaziergang“, stellte Frauchen fest, als Mann und Hund zu Hause ankamen. „Es geht, wir haben uns ja bewegt, stimmts, Mausi?“, entgegnete ihr Gatte und Mausi widersprach nie. Ihr war es ja gut gegangen, sie hatte zu fressen gekriegt und würde jetzt sicher noch etwas bekommen und alles Andere zählte nicht.
So hatten alle Beteiligten ihr Gutes von diesen Ausflügen und man hätte sicher noch ewig in diesem Zustand allgemeiner Zufriedenheit miteinander und voneinander leben können. Wenn nicht eines bewussten Tages etwas vorgefallen wäre, was im Spielplan zu diesem Stück so nicht vorgesehen war.
Wieder einmal war die große Runde dran und Mann und Hund hatten sich auf ihre gewohnte Strecke begeben. Die Frau saß, nachdem sie die Küchenarbeit erledigt hatte, in der Stube und löste ein Kreuzworträtsel, während nebenbei eine Gerichtsshow im Fernsehen lief. Da klingelte das Telefon. Eigentlich ging ja immer ihr Mann ran, wenn es klingelte, doch da er nicht da war, fiel dieser Part ausnahmsweise ihr zu. „Ja?“, fragte sie unsicher die Sprechmuschel, nachdem sie den Hörer abgenommen hatte. „Hallo, gib mir mal den Kalle!“, dröhnte es vom anderen Ende. Sie erkannte die Stimme als einem der Skatfreunde ihres Mannes zugehörig und erklärte mit Bedauern im Tonfall, Karl-Heinz sei gerade mit dem Hund spazieren und komme sicher erst in einer halben, dreiviertel Stunde wieder. „Gottverdammich, das kann doch nicht wahr sein!“, stellte die Stimme am anderen Ende der Leitung fest, um dann ihre Missstimmung näher zu erläutern: Kalle habe das letzte Mal den Schlüssel zu ihrem Vereinszimmer mitgenommen, weil er im Laufe der Woche das Leergut wegbringen wollte. Nun sei Kalle nicht da, der Schlüssel ebenso wenig und ausgerechnet heute wollte man mit den Sportfreunden von den „Herzbuben“ und vom Skatclub „Schell Wenzel“ ein kleines Turnier spielen. „Alle sind schon da und wir kommen nicht rein und alle Sachen – Skatkasse, Skatbuch, Karten und auch die vereinseigenen Bierreserven - sind da drin“, hörte die Frau einer allmählich ins Weinerliche umschlagenden Stimme nicht ohne innere Rührung zu. „So ein Schlüssel hängt hier am Brett. Also, ich denke mal, in einer dreiviertel Stunde…“ Die Stimme ließ sie gar nicht ausreden. „Eine dreiviertel Stunde???“, dröhnte sie jetzt wieder. „Eine dreiviertel Stunde, das ist völlig unmöglich. Nein, ich sterbe und wir sind als Skatklub auf die Knochen blamiert!“. Die Lösung, den drohenden Tod und die noch schlimmere Blamage abzuwenden, ließ jedoch nicht lange auf sich warten. „Elfriede, du bist unsere einzige Hoffnung. Du musst uns den Schlüssel bringen!“ „Aber…“ „Kein Aber, meine herzalle! rliebst Gute, du musst! Kalle wöllte das auch so. Weißt du was, bei euch ist doch gleich um die Ecke ein Taxistand. Du nimmst dir ’ne Droschke, bringst uns den Schlüssel und natürlich bezahlen wir dir die Fahrt einschließlich Rückfahrt bis vor die Haustür. Elfriede, lass uns um Gottes Willen nicht hängen!“
Es lag nicht in ihrer Art, solche Entscheidungen selbst zu treffen, aber ob der Dringlichkeit war sie schon fast umgestimmt. Ein zaghaftes „Also ich weiß nicht…“ wurde durch ein herzhaftes „Elfriiiede!“ beiseite gewischt und seufzend tauschte sie Kittelschürze gegen Mantel und begab sich mit dem Schlüssel, eine schriftlichen Nachricht auf der Kommode für ihren Gatten zurück lassend und dennoch mit schlechtem Gewissen, zu dem auch ihr bekannten Taxistand.
Dort stand gerade mal noch eine Taxe in der Abenddämmerung. Doch der Fahrer war nicht allein. „Na, jetzt haben sie mich ganz allein hier mit dir zurückgelassen. Was mach’ ich nur mit dir, wenn ich jetzt auch weg muss? Naja, die 127 und auch die null-38 müssten jeden Moment wieder hier sein, dann kommt die Ablösung für dich!“
Vorerst kam Elfriede – und sie nahm wahr, mit wem der Taxifahrer soeben gesprochen hatte. Völlig verdattert abwechselnd den Fahrer und den ihr mehr als bekannt vorkommenden Hund anstarrend, zeigte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Letzteren und fragte ganz perplex: „Der Hund, was macht der denn hier?“
Dem Taxifahrer war anscheinend nur aufgefallen, dass sich ihm ein potenzieller Fahrgast näherte, nicht aber, in welch seelische Verwirrung diesen der Anblick des missmutigen Mischlings gestürzt hatte. Er beruhigte die Frau: „Machense sich keenen Kopp über die Töle, auf die passen wir hier immer mal uff. Sein Herrchen, irgendso’n alter Lüstling, lässt ihn immer bei uns am Stand zurück, wenn er sich in’n Puff kutschieren lässt. Der iss völlig harmlos, der Kleene, wenn Sie gleich loswollen, pack ich ihn auf den Rücksitz, der stört Sie übahaupt nich und ansonsten sinn meine Kollejen in zwee Minuten wieder hier, die übernehmen dann den Flokati!“ Und er hantierte sofort am Funkgerät, um herauszufinden, ob 127 oder null-38 tatsächlich in zwei oder vielleicht schon einer Minute wieder zurück seien.
Er hatte geglaubt, die Frau mit seinen Worten zu beruhigen und er fand, mit seinen wohlgesetzten diplomatischen Argumenten ihre eventuellen Bedenken bezüglich des Hundes komplett zerstreut zu haben. Beim gut gemeinten Versuch, den Sprechfunk in Gang zu bringen, entging ihm, wie die Frau mit aufgerissenem Mund und unnatürlich geweiteten Augen verzweifelt versuchte, an ihrer Handtasche Halt zu finden und schließlich gerade noch so den Laternenpfahl zu fassen kriegte. Als Nächstes spürte er zwei weibliche Hände, die sich in seine Schulter krallten und hörte eine keuchende Stimme fragen: „Und, wo ist das, wo dieser, der, dem der Hund gehört, wo der sich hinfahren lässt?“
Taxifahrer sind ja von Natur aus oder zumindest durch langjährige Berufserfahrung stets so etwas wie ein bisschen Psychologe. Und so dämmerte es auch unserem Kollegen ganz allmählich, dass es wohl nicht allein eine Hundeallergie sein konnte, die ihr eigentümliches Verhalten beim Anblick des treuen Gefährten erklären konnte. Jetzt kam er in Erklärungsnot. Er kannte ja den Hundebesitzer, hatte ihn schon mehrmals gefahren und wusste, dass diesem Diskretion über alles ging. Nie im Leben wäre er darauf gekommen, was die Beiden wirklich verband, aber im wurde klar, dass er jetzt vorsichtig sein musste. „Wo wollten Sie denn eigentlich hin?“, stammelte er in bemühtem Hochdeutsch, was seine innere Verunsicherung überdeutlich ausdrückte. Vielleicht ließ sich das heikle Thema umgehen. „Der Hund, das ist mein Mann, also, nicht der Hund, das ist meiner, ich meine, der Mann, dem der Hund gehört – das ist mein Mann!“, rief die Frau jetzt, immer noch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Mausi zeigend, was diese nur mit einem gelangweilten Knurren beantwortete.
„Ach du Scheiße!“, entfuhr es dem Taxifahrer. Etwas Schlagfertigeres war ihm in dem Moment nicht in den Sinn gekommen. Er versuchte sich in Schadensbegrenzung. „Also, wo genau die hingefahren sind, das weiß ich auch nicht, wir sagen das immer so mit dem Puff, einfach so als Gaudi, ich wusste ja nicht, dass Sie… Also, wirklich, nehmense das jetzt mal nicht zu wörtlich, war’n blöder Gag, ich weiß, Tschuldigung, ich wollte hier bestimmt nichts lostreten. Also“, fasste er seine Erklärung noch einmal in Kurzform zusammen, „also, ich hab nix gesagt, vergessen Sie das am besten gleich!“
Die Frau war allerdings nicht in der Lage, irgendetwas zu vergessen und wahrscheinlich hatte sie die gut gemeinten Erklärungsversuche gar nicht gehört, weil sie jetzt abwechselnd mit Schluchzen und Schnäuzen beschäftigt war. Schließlich fiel dem Taxifahrer nichts Anderes mehr ein, als die Frau in den Arm zu nehmen und ihr den Rücken zu tätscheln. Und auch ihm war zum Heulen zumute.
So warteten beide, verschmolzen zu einem einzigen Häufchen Elend, bis die nächste Taxe am Stand eintraf. Es war weder 127 noch null-38. Es war Zwo-null-acht und ihm entstieg der Mann, der seinen Hund wieder abholen wollte. Dass es seine Frau war, die in den Armen des Taxifahrers lag, ging ihm erst auf, als er bereits auf dem Fußweg stand.
Eines Halts hätte auch er jetzt dringend bedurft, denn ihm wurde sofort klar, dass sich hier etwas zusammenbraute. Vorerst versuchte er dem mit Forschheit zu begegnen. „Na“, sagte er, seine Unsicherheit überspielend, „da bin ich mal kurz weg und schon liegst du in den Armen eines Anderen!“ Der Andere ließ die Frau instinktiv sofort los und deren Schluchzen ging in ein lautes Kreischen über. „Hund ausführen!“, schrie sie ihn an. „Hund ausführen bist du also, und das mit dem Taxi und ohne Hund! Wo warst du, du Schuft“ – und ohne eine Antwort abzuwarten setzte sie sofort hinzu: „Ich weiß, wo du dich rumtreibst, ich weiß alles, komm’ mir nicht mit irgendwelchen Ausreden!“
Der Blick des Mannes wanderte langsam und eindringlich von seiner Frau zu dem Taxifahrer, der ihr eben noch den Rücken getätschelt hatte, und diesem wurde immer mulmiger zumute. „Also, ich konnte ja wirklich nicht wissen, das ist ja nun nicht meine Schuld, man sollte so was eben auch nicht machen – also ich sag jetzt gar nix mehr, mich geht das ja nichts an!“ Ihm fiel ein, dass er beinahe seinen Dialysepatienten vergessen hätte und dringend weg müsse. Und ehe noch irgendjemand etwas erwidern konnte saß er in seiner Taxe und brauste davon. „Ich Idiot“, knirschte er während der Fahrt, „warum konnte ich nicht meine Klappe halten! Nie wieder erzähl ich was, nie wieder!“
Die Szene am Taxistand war damit noch nicht zu Ende. Die Frau schwankte einen Moment lang in der Überlegung, ob sie nun einen Nervenzusammenbruch, einen Heulkrampf oder doch eine große Schimpfkanonade lostreten sollte. Sie entschied sich für taktische Rache. Noch nie hatte sie so schnell einen Plan gefasst und in die Tat umgesetzt. Sie packte ihren Mann am Arm, zog ihn resolut zu dem Taxi, mit dem er gerade erst angekommen war und befahl dem Fahrer: „Sie bringen uns jetzt dorthin, wo Sie vorhin mit meinem Mann waren. Auf der Stelle!“ In ihrer Art hatte sie etwas, was sowohl ihren Gatten als auch den Taxifahrer zu der sofortigen Einsicht kommen ließ, jetzt besser nichts zu erwidern. Mausi kam noch mit auf die Rückbank und schweigend ging die Fahrt von neuem los.
Am „Jet’aime“ angekommen war es diesmal die Frau, die den Fahrer zum Warten aufforderte. Und zu ihrem Ehemann gewandt: „Na los, oder weißt du nicht, wo hier die Türe ist!“ Der jahrzehntelang tief in ihrem Inneren verborgene Michael Kohlhaas war in ihr erwacht und machtvoll bestimmte er ihr Handeln.
Es war das erste Mal, dass Mausi mit in dieses Etablissement kam. Der Mann konnte sich keinen Reim daraus machen, weshalb seine Frau den Hund jetzt mitnahm. Doch er hatte sich bereits in sein Schicksal ergeben und hoffte nur noch, dass dieser Albtraum irgendwann vorüber gehen möge. Er wünschte inständig, er würde demnächst aufwachen und könnte erleichtert sagen: „Boah, war das ein Unfug, den ich da geträumt habe!“ Noch hielt der Traum an und ein Fünkchen verbliebene logische Denkfähigkeit sagte ihm zugleich, dass es doch ein bisschen mehr als ein Traum war.
Der Empfang fiel diesmal weniger euphorisch auf. Nicht nur, weil der Mann ja soeben gegangen war, sondern auch, weil eine grimmig dreinblickende Frau, noch dazu mit Hund, hinter ihm durch die Tür trat. „Meine Damen“, sagte diese und legte all ihren verletzten Stolz in ihre Rede, „Sie haben sich lange genug um meinen Mann gekümmert. Ich weiß nicht, wie viel Geld er bei Ihnen gelassen hat, aber es wird wohl reichen, dass Sie sich von nun an um seinen Hund kümmern können!“
Mit diesen Worten drückte sie der nächstbesten der Angesprochenen die Hundeleine in die Hand und Mausi machte es sich auf dem dichten Teppichflor bequem, selbstverständlich ohne eine emotionale Regung zu zeigen. Mit einem Schweif von beinahe körperlich fassbarer Verachtung und ihrem Mann im Schlepptau zog sie von dannen.
Warum hatte sie den Hund weggegeben? Diese Frage ließ den Mann auch Wochen später nicht los. Es war ihr Liebling, sie hatte ihn von vorn und hinten verwöhnt, wie ein kleines Kind förmlich in Watte gepackt. Und dann das! Der Hund konnte ja eigentlich wirklich nichts dafür, so selbstkritisch war der Mann durchaus.
Wenn seine Frau, die ihn entgegen anfänglicher Befürchtungen nicht vor die Tür setzte, mit ihm darüber geredet hätte, dann wäre ihm bewusst geworden, dass sie dem Hund tatsächlich eine Art Mitschuld gab. Sie war irgendwie enttäuscht von ihm. Jahrelang war er ihr einziger Vertrauter, den sie umsorgen konnte, der ihr immer zuhörte oder zumindest nicht widersprach, wenn sie das Wort an ihn richtete. Er war ihr Freund, ihr Seelentröster, ohne dass er das gewusst hätte. Und dabei wusste er doch, was ihr Mann hinter ihrem Rücken trieb, er war – zumindest beinahe – dabei, wie er sie hinterging und ließ sich dann noch den speckigen Nacken von ihr kraulen und mit Häppchen füttern. Das war einfach nicht richtig! Warum hatte er sich das nicht von ihrem Mann geholt, wenn er schon dessen Komplize und Vertrauter war?
Es ist fraglich, ob der Mann diese Gedankengänge verstanden hätte. Auch die Damen, die sich in der Tat um den mürrischen, aber doch auch auf eine gewisse Art süß aussehenden Hund kümmerten, hätten das wohl nicht verstanden. Das Seelenleben einer Frau, einer in ihrem Stolz und ihrer Ehre verletzten noch dazu, zeigte hier Tiefen, die Außenstehende nur schwer nachvollziehen können.
Am „Jet’aime“ hing fortan ein Schild unter der Neonreklame: „Dieses Objekt wird von einem Wachhund gesichert!“ Die Taxigenossenschaft hatte einen Fahrgast verloren, der Park indessen zwei neue Spaziergänger gewonnen. Die Frau, die in einem stillschweigenden Übereinkommen von nun an das Zepter übernahm und zu einem völlig neuen Selbstwertgefühl fand, ordnete hin und wieder, wenn ihr danach war, an: „Na komm, heute machen wir mal wieder die große Runde!“ Sie entdeckte ihre Freude am Laufen und schnappte sich dann ihren Gatten. Von nun an führte der Spaziergang am Parkeingang die Hauptallee entlang und durch die zahlreichen Nebenwege voller Grün und Natur. Allein wollte sie ihn nicht mehr gehen lassen.
Der Skatklub in der Gartensparte musste an dem bewussten Tag eine schimpfliche Niederlage einstecken. Von den „Herzbuben“ und den „Schell-Wenzeln“ mit Schimpf und Schande belegt, durfte man in historisch überschaubaren Zeiträumen kein Turnier mehr ausrichten. Was Wunder, wenn man es nicht einmal fertig bringt, ein offenes Zimmer und Skatkarten zu organisieren!
Der Verlust eines langjährigen Mitglieds war da leichter zu verschmerzen. Eine sonderlich tragende Säule des Vereins war der Mann ohnehin nie gewesen. Dafür war er einfach zu selten da. Er musste ja ständig mit seinem Hund durch die Gegend ziehen!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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