Kerstin Köppel

Der Käfer 2

Der Käfer 2

 

Seit einigen Wochen befand sich Max in der Psychiatrie des Waldkrankenhauses Seelenfrieden. Da er sich wenig kooperativ zeigte, nicht einmal den Mund zum Essen aufmachte, musste Dr. Flocke ihm eine Magensonde legen und Beruhigungstabletten verordnen. Nun war Max sehr ruhig und war nur noch manchmal, wenn der Blutspiegel des Medikamentes sank, in der Lage, über Flucht nachzudenken oder über die Ergebnisse seiner ins Labor eingesandten Gewebeproben von Moritz. Er starrte an die Decke und dachte über Samson nach, ein Käfer in Kafkas gleichnamiger Erzählung. Wie Max lag Samson auf dem Rücken und konnte sich nicht bewegen, obwohl beide nicht fixiert waren, wie es in der Fachsprache heißt. Samson, dachte Max, war ein Käfer, der starb, weil er sich nicht wieder auf seine Bauchseite umdrehen konnte. Nicht ohne Hilfe. Und ihm half niemand. Und er starb, weil die Menschen sich vor ihm ekelten. Diese kreischende Stille seiner sich von ihm abgewandten Familie, ließ Samson schnell sterben, wie ein Säugling, der nur versorgt wird, mit dem niemand spricht und der schließlich vergessen wird.

Max wollte überleben und nicht nur das.  In wachen Momenten, wenn er einigermaßen scharf denken konnte, überlegte er,  wie er die Medikamente wieder aus seinem Mund bekam, ohne dass dies Schwester Arachno merkte. Einige nannten sie Schwester Nightinggale. …  Florence Nightinggale war eine britische Krankenschwester des 19. Jahrhunderts, die in der englischen Folklore als „Lady with the lamp“ bekannt wurde, weil sie mit einer Petroleumlampe ins Lazarett zu den Patienten ging. Das ist zweifelsohne wert ein Lied zu komponieren. Oder ein Gedicht zu schreiben. Ihre Mutter jammerte, „Wir sind Enten, die einen wilden Schwan ausgebrütet haben.“, dass ist verbürgt. Wohl deshalb,  weil Florence der damaligen Frauenrolle, um 1850,  so gänzlich entsagte. Florence Nightinggale ist durchaus als Frauenrechtlerin zu werten, die  sich auch für die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge der armen Bevölkerung einsetzte. Und, sie soll sehr streng gewesen sein, hieß es in machen Berichten über sie. Deshalb nannte Max Schwester Arachno, Schwester Nightinggale, die auch sehr streng war. Unerbittlich, um es genau zu nehmen. In Maxens Krankenzimmer, das mit Heu ausgelegt war, lagen noch eine Stabheuschrecke und eine Küchenschabe, die anscheinend von einem menschlichen Fuß überlaufen wurde. Leider waren die drei Patienten selten zur selben Stunde wach. So verging der Sommer. …

Max wachte von unangenehmen Geräuschen auf. Am Wochenende, wenn viele Schwestern,  Krankenhelfer und  Ärzte frei haben, sich auf der Waldlichtung betrinken, tanzen oder sich im trockenen und warmen Sand wälzen, was auch immer tun, wird auf der Station, auf der sich Max befand, Musikbeschallung als Therapie eingesetzt. Nicht als Folter. Nein, als therapeutische Belullung, für die Wachpatienten. Gewöhnlich spielten die nur Brettspiele oder sie sahen fern. Heute wurde ein sehr gewöhnungsbedürftiges Musikprogramm gegeben. Vertonte Gedichte. Auch der süßen Schwesternschülerin Grille fielen die Ohren in den Kaffee. Sie konnte gerade noch abwenden, dass sie Curry in den Jogurt gab, stattdessen streute sie großzügig Muskatnuss ins Dessert. Statt Zimt. Die Texte waren schrecklicher als manch männliches Gezirpe, fand Grilly, und sie erinnerten sie an so manches Gezirpe ihrer Verehrer, die, um nicht an ihrem eigenen Krach taub zu werden, ihre, an den Vorderbeinen befindlichen Ohren einfach abschalteten. Mit einem Flügelzucken griff Grilly an ihr linkes Vorderbein und stellte ihre Ohren auf „Durchzug“. Später, wenn Nightinggale, sie kannte sehr wohl den Spitznamen der Obergrille, Feierabend hätte, würde sie die Musik abstellen und den Insekten vorlesen. …

 Wach auf, wisperte die Käuzin und schüttelte Max vorsichtig, der aber schlief beharrlich weiter. Die Käuzin hatte sich einen weißen Arztmantel über ihr Gefieder gezogen und schaute im Zimmer umher, bis sie eine Wasserflasche erspähte. Als Nachtvogel sah sie messerscharf, flog zur Flasche und kippte den gesamten Inhalt über Maxens Gesicht. Wach auf, verdammt. Ich kann hier nicht ewig rumschwirren. Was ist denn? Maxens Stimme war dünn und schlaftrunken. Er sabberte aus seinem Mund. Plötzlich erschrak die Käuzin als sie Stimmen auf dem Flur hörte. Die „weiße Wolke“  kam angeschwebt. So wird in Krankenhäusern schmunzelnd die Visite genannt, wenn mehrere Weißkittel in die Patientenzimmer gehen. Wer sind Sie denn, fragte der Oberschwan, was haben Sie hier zu suchen? Mein lieber Schwan, flötete die kluge Käuzin,  ich hörte und las schon so viel von Ihnen, ähm, Ihrem Krankenhaus und dem ungewöhnlichen  Fall des Käfers Max. Sie sind in meinen Kreisen berühmt, mein Herr, darf ich mich vorstellen, Dr. Pulsatrix, Brillenkäuzin, Zoologe.  Ich wollte mir mit eigenen Augen ein Bild von Max machen. Das Schwesternzimmer war unbesetzt, ich…   Aber ich bitte Sie, Frau Kollegin, wie charmant, das ist doch kein Problem, machen Sie ihre Tests, und fragen sie mich, was immer Sie wünschen. Hier ist meine Karte. Wir sind zum Grillen verabredet. Hahaha. Wir sehen uns. Die drei Weißkittel watschelten davon. Puh, die Käuzin atmete durch und beruhigte sich schnell,  indem sie tief und langsam in die Nase einatmete und langsam durch den Mund wieder aus. Dann schlang sie ihre Flügel um Max, öffnete das Fenster und verschwand lautlos mit ihm in der Nacht, mühsam, nur mit einem Flügel fliegend. Sie hatte ihm viel zu berichten.

 Fortsetzung folgt.

... kannst du bitte eine kurze Meinungsäußerung ablassen? Danke. KerstinKerstin Köppel, Anmerkung zur Geschichte

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