Der
Käfer 2
Seit
einigen Wochen befand sich Max in der Psychiatrie des Waldkrankenhauses Seelenfrieden.
Da er sich wenig kooperativ zeigte, nicht einmal den Mund zum Essen aufmachte, musste Dr. Flocke ihm eine Magensonde
legen und Beruhigungstabletten verordnen. Nun war Max sehr ruhig und war nur noch manchmal, wenn der Blutspiegel des Medikamentes
sank, in der Lage, über Flucht nachzudenken oder über die Ergebnisse seiner ins
Labor eingesandten Gewebeproben von Moritz. Er starrte an die Decke und dachte
über Samson nach, ein Käfer in Kafkas gleichnamiger Erzählung. Wie Max lag Samson
auf dem Rücken und konnte sich nicht bewegen, obwohl beide nicht fixiert waren,
wie es in der Fachsprache heißt. Samson, dachte Max, war ein Käfer, der starb, weil
er sich nicht wieder auf seine Bauchseite umdrehen konnte. Nicht ohne Hilfe.
Und ihm half niemand. Und er starb, weil die Menschen sich vor ihm ekelten. Diese
kreischende Stille seiner sich von ihm abgewandten Familie, ließ Samson schnell
sterben, wie ein Säugling, der nur versorgt wird, mit dem niemand spricht und
der schließlich vergessen wird.
Max
wollte überleben und nicht nur das. In
wachen Momenten, wenn er einigermaßen scharf denken konnte, überlegte er, wie er die Medikamente wieder aus seinem Mund
bekam, ohne dass dies Schwester Arachno merkte. Einige nannten sie Schwester Nightinggale.
… Florence Nightinggale war eine britische
Krankenschwester des 19. Jahrhunderts, die in der englischen Folklore als „Lady
with the lamp“ bekannt wurde, weil sie mit einer Petroleumlampe ins Lazarett zu
den Patienten ging. Das ist zweifelsohne wert ein Lied zu komponieren. Oder ein
Gedicht zu schreiben. Ihre Mutter jammerte, „Wir sind Enten, die einen wilden Schwan
ausgebrütet haben.“, dass ist verbürgt. Wohl deshalb, weil Florence der damaligen Frauenrolle, um
1850, so gänzlich entsagte. Florence Nightinggale
ist durchaus als Frauenrechtlerin zu werten, die sich auch für die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge
der armen Bevölkerung einsetzte. Und, sie soll sehr streng gewesen sein, hieß
es in machen Berichten über sie. Deshalb nannte Max Schwester Arachno,
Schwester Nightinggale, die auch sehr streng war. Unerbittlich, um es genau zu
nehmen. In Maxens Krankenzimmer, das mit Heu ausgelegt war, lagen noch eine
Stabheuschrecke und eine Küchenschabe, die anscheinend von einem menschlichen
Fuß überlaufen wurde. Leider waren die drei Patienten selten zur selben Stunde
wach. So verging der Sommer. …
Max
wachte von unangenehmen Geräuschen auf. Am Wochenende, wenn viele Schwestern, Krankenhelfer und Ärzte frei haben, sich auf der Waldlichtung
betrinken, tanzen oder sich im trockenen und warmen Sand wälzen, was auch immer
tun, wird auf der Station, auf der sich Max befand, Musikbeschallung als
Therapie eingesetzt. Nicht als Folter. Nein, als therapeutische Belullung, für
die Wachpatienten. Gewöhnlich spielten die nur Brettspiele oder sie sahen fern. Heute wurde ein sehr
gewöhnungsbedürftiges Musikprogramm gegeben. Vertonte Gedichte. Auch der süßen Schwesternschülerin
Grille fielen die Ohren in den Kaffee. Sie konnte gerade noch abwenden, dass
sie Curry in den Jogurt gab, stattdessen streute sie großzügig Muskatnuss ins Dessert.
Statt Zimt. Die Texte waren schrecklicher als manch männliches Gezirpe, fand
Grilly, und sie erinnerten sie an so manches Gezirpe ihrer Verehrer, die, um
nicht an ihrem eigenen Krach taub zu werden, ihre, an den Vorderbeinen
befindlichen Ohren einfach abschalteten. Mit einem Flügelzucken griff Grilly an
ihr linkes Vorderbein und stellte ihre Ohren auf „Durchzug“. Später, wenn
Nightinggale, sie kannte sehr wohl den Spitznamen der Obergrille, Feierabend
hätte, würde sie die Musik abstellen und den Insekten vorlesen. …
Fortsetzung folgt.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2009.
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