Mai!
Eine
Stadt, grau in grau. Das Wetter war eher herbstlich.
Ich war
mit meinem Sohn verabredet. Thorben hatte bei seinem Anruf noch
gesagt: "Fahr nicht zu früh los, du hast noch Zeit!" Da
ich nicht unpünktlich sein wollte und mir der Weg zur verabredeten
Stelle noch ungewohnt war, fuhr ich eher los.
Natürlich traf ich
viel zu früh ein, jedoch wollte ich auch nicht im Auto, das ich in
einer abgelegenen Straße parkte, auf meinen Sohn warten.
So
beschloss ich, mich doch dem Menschengetümmel am Treffpunkt zu
stellen. Für mich eine Herausforderung, ich bin Menschenscheu!
Ich
fand einen Platz wo ich genug Abstand hatte zum Geschehen und doch
genug Einblick, um mir die Wartezeit mit Beobachtungen zu
vertreiben.
Hier gab es einige kleine Läden in der Passage,
einen U-Bahnhof und drei Bushaltestellen.
Hinter den Passagen war
es ruhiger, es gab Gärten einen Parkplatz und jede Menge
Wildwuchs.
Über der Stadt hing ein grauer, kalter
unangenehmer Schleier. Kälte machte sich auch in den Menschen breit.
Statt Flirtlaune sah man nur missmutige Gesichter.
Dick
eingemummelte Passanten hasteten durch die Straßen. Von
Frühlingsflirten im Wonnemonat Mai war nichts zu sehen, eher lange
Mäntel, dicke Jacken und sogar Wollmützen.
In den Passagen
gab es auch Kneipen. Ich bekam Gänsehaut. Aber nicht wegen der
Kälte. Kneipen. Schon der Gedanke löste Unwohlsein in mir aus.
Ich
stand zwischen den Passagen und dem Parkplatz, im Schatten Mannshoher
Lebensbäume und Flieder, der trotz der kühlen Temperaturen seinen
betörenden Duft ausströmte.
Mir fiel ein Junge auf. Acht,
vielleicht zehn Jahre alt. Er war viel zu dünn gekleidet. Wie alle,
schien er vom Wetter nicht begeistert. Zusammengezogene Schultern,
Hände in den Taschen.
Immer wieder sah er zu dem
Passagengang, zu der Stelle wo Stimmengewirr herkam.
Er winkte
jemandem. Nichts geschah! Wieder ein Winken. Kein Abschieds winken.
Nein! Ein "Komm her" - Winken!
Meine Neugier war
geweckt.
Der Junge drehte sich um, lief einige Schritte hin
und her, wieder ein Winken. Nun schon nicht mehr zögerlich, sondern
voller Ungeduld.
Aus dem Stimmengewirr vernahm ich ein: "Wat
will der denn hier?!" Eine Frauenstimme, rau, leicht
lallend.
Ich schaute auf den Jungen. Seine Schultern sackten
zusammen, er wurde noch kleiner.
Kurz darauf stolperte eine
Frau auf ihn zu. Jeans, Jeansjacke und derbe Schuhe. Ihr schon stark
ergrautes, aber volles Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten.
Man
sah ihr an das sie getrunken hatte. Ihr stolpernder Gang und das
lallen: "Wat willste denn schon wieder?" in Richtung
des Jungen waren mehr als deutlich.
Der Junge schüttelte sich.
Wie ein junger Hund der sich aus Unwohlsein schüttelt wenn er im
Regen laufen musste.
Die Frau ging auf ihn zu. Er wich zurück,
aber hinter ihm war schon die Mauer aus Lebensbäumen.
Sie hob
die Hand, aber in dem Moment kamen Passanten aus dem U-Bahnhof und
schnell lies sie ab.
Wieder
lallte sie: "wat willst du?"
"Mama, komm nach
Hause"
Sie schaute ihren Sohn an, fragte schwankend: "wat
soll ick denn da?"
"Mama, komm nach Hause, wir haben
Hunger!"
Aus den Passagen kam ein Brüller!
Iriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiis!
Sie drehte sich um. "Komme
gleich!"
Dann herrschte sie ihren Sohn an "Macht euch
Stullen, seit doch alt jenuch"
Der Junge weinte fast. Ein
zittern lag in seiner Stimme "Du warst nicht einkaufen, es ist
nichts da!"
Mir lief es eiskalt den Rücken
runter.
Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich hätte die Frau
schütteln mögen.
Ihr sagen. <Wach auf! Schau deinen Jungen
an!>
Währenddessen kramte sie in den Taschen ihrer
zerschlissenen Jeans. Fand was sie suchte. Geld. Scheine und
Münzen.
Die Scheine steckte sie wieder ein.
Dann wühlte
sie zwischen den Münzen, sortierte aus und riss dem Jungen seine
Hand aus der Tasche. Fauchte: "kauft euch was zu essen",
schüttete dem Jungen das übriggebliebene Geld in die Hand und
wollte wieder in Richtung Passagen torkeln.
Er blickte auf das
Geld in seiner Hand.
Ein lautes "MAMA" hielt sie
ab.
Ein giftiger Blick über die Schulter:" was denn
noch?"
Noch
immer traurig schauend, straffte der kleine Junge nun seine Schultern
und sagte mit fester Stimme. "Das hier wird nicht reichen für
uns" und hielt ihr die ausgestreckte Hand mit dem Klimpergeld
hin.
Seine Mutter wirkte sehr erstaunt. Aus dem Gang plärrte
es wieder Iriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiis.
Ein "ja gleich"
während sie nach den Scheinen in der falschen Tasche kramte.
Dann
zerrte sie einen Zehner aus dem Bündel Scheine.
Beide gingen
aufeinander zu. Der Junge noch immer mit ausgestreckter Hand.
Sie
knallte ihm den Schein auf den Rest des Geldes und zischte:
"verschwinde endlich."
Der Junge rief ihr noch ein
Tschüss hinterher aber sie stolperte schon dem
Iriiiiiiiiiisgeschreie entgegen.
Er blickte seiner Mutter
nach, hoffte wohl auf ein Tschüss. Dann ging er in Richtung
U-Bahn.
Nach einigen Minuten sah ich die Frau wieder. Mit
einem Mann in Arbeitskleidung. Genauso lallend wie sie, genauso
stolpernd wie sie. Beide hielten eine fast volle Bierflasche in der
Hand. Sie unterhielten sich über den Jungen. bei dem Satz: "ach,
der kann mich mal" schämte ich mich für sie.
Ich
war froh das ich in diesem Moment meinem Sohn auf mich zukommen sah.
Gemeinsam
gingen wir zum Auto und pflückten unterwegs vom Flieder duftende
Zweige ab.
Für einen Moment habe ich die Eindrücke
vergessen.
Aber bald schon war der Junge wieder in meinen
Gedanken.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.05.2010.
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