Fabienné Durchschlag

Eiskälte im Mai

Mai!
Eine Stadt, grau in grau. Das Wetter war eher herbstlich.

Ich war mit meinem Sohn verabredet. Thorben hatte bei seinem Anruf noch gesagt: "Fahr nicht zu früh los, du hast noch Zeit!" Da ich nicht unpünktlich sein wollte und mir der Weg zur verabredeten Stelle noch ungewohnt war, fuhr ich eher los.
Natürlich traf ich viel zu früh ein, jedoch wollte ich auch nicht im Auto, das ich in einer abgelegenen Straße parkte, auf meinen Sohn warten.
So beschloss ich, mich doch dem Menschengetümmel am Treffpunkt zu stellen. Für mich eine Herausforderung, ich bin Menschenscheu!

Ich fand einen Platz wo ich genug Abstand hatte zum Geschehen und doch genug Einblick, um mir die Wartezeit mit Beobachtungen zu vertreiben.

Hier gab es einige kleine Läden in der Passage, einen U-Bahnhof und drei Bushaltestellen.
Hinter den Passagen war es ruhiger, es gab Gärten einen Parkplatz und jede Menge Wildwuchs.

Über der Stadt hing ein grauer, kalter unangenehmer Schleier. Kälte machte sich auch in den Menschen breit. Statt Flirtlaune sah man nur missmutige Gesichter.
Dick eingemummelte Passanten hasteten durch die Straßen. Von Frühlingsflirten im Wonnemonat Mai war nichts zu sehen, eher lange Mäntel, dicke Jacken und sogar Wollmützen.

In den Passagen gab es auch Kneipen. Ich bekam Gänsehaut. Aber nicht wegen der Kälte. Kneipen. Schon der Gedanke löste Unwohlsein in mir aus.

 

Ich stand zwischen den Passagen und dem Parkplatz, im Schatten Mannshoher Lebensbäume und Flieder, der trotz der kühlen Temperaturen seinen betörenden Duft ausströmte.

Mir fiel ein Junge auf. Acht, vielleicht zehn Jahre alt. Er war viel zu dünn gekleidet. Wie alle, schien er vom Wetter nicht begeistert. Zusammengezogene Schultern, Hände in  den Taschen.
Immer wieder sah er zu dem Passagengang, zu der Stelle wo Stimmengewirr herkam.
Er winkte jemandem. Nichts geschah! Wieder ein Winken. Kein Abschieds winken. Nein! Ein "Komm her" - Winken!

Meine Neugier war geweckt.

Der Junge drehte sich um, lief einige Schritte hin und her, wieder ein Winken. Nun schon nicht mehr zögerlich, sondern voller Ungeduld.
Aus dem Stimmengewirr vernahm ich ein: "Wat will der denn hier?!"   Eine Frauenstimme, rau, leicht lallend.

Ich schaute auf den Jungen. Seine Schultern sackten zusammen, er wurde noch kleiner.

Kurz darauf stolperte eine Frau auf ihn zu. Jeans, Jeansjacke und derbe Schuhe. Ihr schon stark ergrautes, aber volles Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten.
Man sah ihr an das sie getrunken hatte. Ihr stolpernder Gang und das lallen: "Wat willste denn schon wieder?"  in Richtung des Jungen waren mehr als deutlich.
Der Junge schüttelte sich. Wie ein junger Hund der sich aus Unwohlsein schüttelt wenn er im Regen laufen musste.
Die Frau ging auf ihn zu. Er wich zurück, aber hinter ihm war schon die Mauer aus Lebensbäumen.
Sie hob die Hand, aber in dem Moment kamen Passanten aus dem U-Bahnhof und schnell lies sie ab.

 

Wieder lallte sie: "wat willst du?"
"Mama, komm nach Hause"
Sie schaute ihren Sohn an, fragte schwankend: "wat soll ick denn da?"
"Mama, komm nach Hause, wir haben Hunger!"

Aus den Passagen kam ein Brüller! Iriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiis!
Sie drehte sich um. "Komme gleich!"
Dann herrschte sie ihren Sohn an "Macht euch Stullen, seit doch alt jenuch"

Der Junge weinte fast. Ein zittern lag in seiner Stimme "Du warst nicht einkaufen, es ist nichts da!"

Mir lief es eiskalt den Rücken runter.
Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich hätte die Frau schütteln mögen.
Ihr sagen. <Wach auf! Schau deinen Jungen an!>

Währenddessen kramte sie in den Taschen ihrer zerschlissenen Jeans. Fand was sie suchte. Geld. Scheine und Münzen.

Die Scheine steckte sie wieder ein.
Dann wühlte sie zwischen den Münzen, sortierte aus und riss dem Jungen seine Hand aus der Tasche. Fauchte: "kauft euch was zu essen", schüttete dem Jungen das übriggebliebene Geld in die Hand und wollte wieder in Richtung Passagen torkeln.

Er blickte auf das Geld in seiner Hand.
Ein lautes "MAMA" hielt sie ab.

Ein giftiger Blick über die Schulter:" was denn noch?"

Noch immer traurig schauend, straffte der kleine Junge nun seine Schultern und sagte mit fester Stimme. "Das hier wird nicht reichen für uns" und hielt ihr die ausgestreckte Hand mit dem Klimpergeld hin.

Seine Mutter wirkte sehr erstaunt. Aus dem Gang plärrte es wieder Iriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiis.
Ein "ja gleich" während sie nach den Scheinen in der falschen Tasche kramte.
Dann zerrte sie einen Zehner aus dem Bündel Scheine.

Beide gingen aufeinander zu. Der Junge noch immer mit ausgestreckter Hand.

Sie knallte ihm den Schein auf den Rest des Geldes und zischte: "verschwinde endlich."
Der Junge rief ihr noch ein Tschüss hinterher aber sie stolperte schon dem Iriiiiiiiiiisgeschreie entgegen.

Er blickte seiner Mutter nach, hoffte wohl auf ein Tschüss. Dann ging er in Richtung U-Bahn.

Nach einigen Minuten sah ich die Frau wieder. Mit einem Mann in Arbeitskleidung. Genauso lallend wie sie, genauso stolpernd wie sie. Beide hielten eine fast volle Bierflasche in der Hand. Sie unterhielten sich über den Jungen. bei dem Satz: "ach, der kann mich mal"  schämte ich mich für sie.

Ich war froh das ich in diesem Moment meinem Sohn auf mich zukommen sah.

Gemeinsam gingen wir zum Auto und pflückten unterwegs vom Flieder duftende Zweige ab.

Für einen Moment habe ich die Eindrücke vergessen.

Aber bald schon war der Junge wieder in meinen Gedanken.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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