Ronny Meyer

Meine Mauer

Das Licht leuchtet hell auf, reißt mich aus meinen Gedanken. Mit einem lauten metallischen „Klack“ bleibt die bedruckte Folie an dem Klemmboard haften. Der Mann in weiß betrachtet das Bild, eine undurchsichtige Mischung aus Schwarz und grau. Ich kann nichts erkennen, der Arzt blickt aber lange und konzentriert auf die Folie.
„Herr Hinz, ich bin leicht verwirrt.“
Ja, das fällt mir auf. Sein Blick schwankt von mir auf einen Gegenstand hinter mir, dann fasst er wieder die Folie ins Auge.
„Schauen Sie hier! Dies ist ein Röntgenbild Ihres Brustkorbs.“ Er deutet mit einem hervorgeholten Kugelschreiber auf die Aufnahme.
„Sehen Sie diesen dunklen Fleck hier?“ Er lässt mir keine Möglichkeit zu antworten.
„Hier, genau hier müsste Ihr Herz sein. Doch da ist nichts.“ Er tippt auf den dunklen Fleck.
„Ich denke, dass der Apparat mal wieder defekt ist. Ich werde Ihnen die Adresse“, er schreibt auf einen kleinen Notizzettel, „eines Kollegen aufschreiben. Er hat einen neuen Röntgenapparat. Machen Sie sich keine Gedanken, der Apparat spinnt nur ein wenig.“ Mit diesem Satz beendet er seinen Monolog und geht aus dem Behandlungszimmer. Ich ziehe mein Hemd wieder an, streife meinen Ring und meine Uhr wieder über.
Leise gehe ich gebeugt aus der Praxis, steige in mein Auto, lasse den Motor an.
„Hier müsste Ihr Herz sein. Doch da ist nichts.“ Dieser Satz hallt in meinen Gedanken wieder.
Nein, mein Herz ist noch da. Man kann es nur nicht sehen.
Ich habe eine Mauer gebaut. Eine Mauer, die sich an mein Herz schmiegt, es durch Kraft und Standfestigkeit schützt.
Den Grundstein habe ich irgendwann gelegt, als man mich verletzte. Nicht physisch, nur psychisch. Ich legte einen Stein direkt an mein Herz. Es war die Stelle, an der man mich getroffen hat. Durch diesen Stein schmerzte es nicht mehr so sehr und dieser Stein sorgte dafür, dass ich an dieser Stelle nicht noch einmal getroffen werden konnte.
Es tat gut. Ich fühlte mich stark, fühlte mich kurze Zeit unverwundbar.
Doch jemand verletzte mich wieder. Ich legte einen weiteren Stein zu dem ersten, schützte ein andere Stelle. So ging es weiter. Ich schützte immer wieder andere Stellen. Baute eine starke Mauer auf. Doch diese Mauer half nicht immer. Ich wurde stärker verletzt, fühlte mich gepeinigt und baute eine weitere Mauer auf. Und noch eine weitere. Bis ich vergaß, wie viele Mauern ich schon gebaut hatte.
Und noch manchmal lege ich einen Stein neben den anderen.
Es sind unzählige Mauern mit abertausenden Steinen. Es sind so viele Steine, dass jemand, der mir viel bedeutet, sagt, ich sei kalt. Man könne meine Gefühle, wenn überhaupt, nur erahnen.
Und das ist gut so.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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