Helena Himmelsbach

Leben im Kopf



Weiche, weiße, Flocken. Groß fielen sie vor ihrem Fenster zu Boden, nein sie schienen regelrecht zu tanzen. Tanzten am Himmel den Winterreigen. Sie schienen sich wie im Einklang mit einer göttlichen Melodie zu bewegen, einer Melodie, die dem menschlichen Gehör nicht vergönnt war. Beinahe hätte sie gelächelt, beinahe wäre sie nach draußen gelaufen, hätte den Tanz auf dem Boden nachempfunden, und wäre glückselig wie in Kindertagen durch die weite, weiße Pracht gerannt. Beinahe hätte sie einen Schneemann gebaut, mit ihm gesprochen, ihn zu Leben erweckt und in ihr Spiel eingeweiht, um ein Haar hätte der letzte Funken kindlicher Naivität in ihr Überhand gewonnen. Doch sie war kein Kind mehr. Die Zeit hatte ihr Fesseln verpasst, ihr Geist war zu voll davon, was man erwachsene Vernunft nannte. Gewiss war dies keine Ausrede, die sie hier von dem Ausleben ihres Impulses abhielt, nein, sie wünschte sich sogar, dass dem so wäre, aber in Wirklichkeit war es nichts als der bereits gescheiterte Versuch, in der menschenleeren Natur ihre eigene Natur wiederzufinden, oder sich überhaupt zu finden. Niemand hatte es gesehen, als sie es versucht hatte. Niemand hatte ihr jämmerliches Schauspiel in der Kälte gesehen, sie beobachtet, wie sie die weißen, reinen Hügel auf und hernieder gerannt war, wie sie getanzt hatte, wie sie sich gedreht hatte, und wie ihr davon beinahe schwindlig geworden war. Niemand hatte ihn beobachtet, den seltsamen Wandel in ihr. Wie sie plötzlich erstarrte, und wie sie nach der zweiten Kugel – dem Bauche des Schneemanns – unvermittelt laut aufgeschrien und in Tränen ausgebrochen war. Niemand war da gewesen, um sie aufzubauen, niemand, der sie überhaupt verstanden hätte. Niemand war da gewesen, als sie sich in den Schnee legte, und am liebsten nie wieder aufgestanden wäre, niemand. Das Scheitern saß tief in ihr, es hatte sich unvermittelt in ihrem Innersten festgekrallt und seit diesem Tag vermied sie es, sich zu bewegen, da jedes erneute Drehen, Strecken und Winden ihr nur weitere tiefe Kratzer und Wunden zufügen würde. Ihr Innerstes glich einem See aus Blut und Schmerzen – nicht nur die Krallen des Scheiterns hatten sich ihrer bemächtigt, sondern auch der nagende Selbstzweifel, der eines Tages ganz leise angeklopft hatte, und den sie fälschlicherweise hinein gelassen hatte. Seit diesem Tage saß er in ihr und nährte sich gleich einem Parasiten von jeder Äußerung der leisen, heißer flüsternden, bedrohlichen Stimme, mit der sie seit dem Ende ihrer Kindertage lebte, und die stets alles, was sie tat, kommentierte und meist ins Entrückte, Weite, Absurde zog. Sie wusste es: All ihre Ufer waren längst geflutet, ihre sicheren Äcker hatten sich längst vollgesogen und waren hoffnungslos übersättigt von den Fluten der Verzweiflung. Tränen liefen ihr über die Wangen, ein schauerlich hoffnungsloses Schluchzen durchdrang die heilige Stille, ein Schluchzen, vor dem sie sich selbst erschreckte. Längst war sie vor ihrem Fenster zusammengesunken, längst war der weiße Himmel dunkler geworden, und längst hatten sich fröhliche, helle Monde, Sterne und Krippen in den Fenstern der Menschen entzündet. Es zog dieselbe heimliche, vor Spannung knisternde, vorweihnachtliche Stimmung durch die Gassen, wie sie seit jeher in den Weihnachtserzählungen und Geschichten der Kinderbücher vielmehr mystisch umschrieben denn erzählt werden. Sie jedoch nahm nichts davon wahr. Sie war der Außenwelt längst entrückt, kämpfte den hoffnungslosen Kampf in ihrem Kopf und hatte doch längst verloren. In ihr war etwas aufgegangen, zunächst vorsichtig, bis es sich schließlich, gleich einer Seifenblase, aus ihrem inneren Schlachtfeld emporgehoben hatte.Langsam war sie in ihren Geist gestiegen, langsam und vorsichtig. Doch nun wurde es zu einem bedrängendem Pochen. Es war ein Wunsch. Sie wollte noch einmal tanzen. Frei und weich und weiß wollte sie ein letztes Mal tanzen. Tanzen durch den Himmel, sich der Schwerkraft widersetzen, eine Schneeflocke sein. Mit einem Ruck erhob sie sich von ihrem Platz am Fenster und lief mit erstaunlicher Energie zu ihrem Kleiderschrank. Schnell hatte sie sich ihrer Kleidung entledigt und war in das weiße Engelskostüm geschlüpft, in welchem sie auf dem Weihnachtsmarkt stets die Wunschzettel der Kleinsten am Stand der Himmelspost entgegennahm. Nun würde sie sich ihren eigenen Wunsch erfüllen, sie würde durch den Himmel tanzen, würde einmal glücklich sein, einmal. Sie schaute in den Spiegel und lächelte. Es war das erste Mal an diesem Tag.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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