Charlotte Sander

Brachial (7)

Ich verliere langsam meinen Lebensmut… alles, was ich mache, geschieht nur noch, weil es so sein muss. Da ist nichts mehr, was passiert, weil ich es mir wünsche, und da ist auch nichts mehr, worüber oder worauf ich mich freue. Im Gegenteil – alles fühlt sich für mich nur noch wie eine Last an.
Bei der Arbeit läuft es nicht mehr so gut, weil meine Arbeitskollegen Thomas kennen gelernt haben und ich neben ihm wie das letzte Stück Dreck wirke. Wenn die wüssten, dass ich, sind sie nicht da, tatsächlich auch wie ein solches behandelt werde, dann würden sie mich ganz anders ansehen. Nein, ich erwarte und ich möchte auch kein Mitleid. Es ist eher so, dass ich mich abgrundtief schäme. Über all das, was mir widerfährt, verliere ich kein Wort, nein, ich sage keinen Ton, denn abgesehen von meiner Angst vor Thomas ist es mir auch unendlich peinlich. Ich denke nicht, dass ich von meiner Familie oder meinen Freunden, die mir alle den Rücken gekehrt haben, nur ein kleines Stückchen Verständnis erwarten könnte. Ich habe aber auch keine Ahnung, wie ich mein Verhalten erklären sollte. Und im Grunde ist es ja so, dass Thomas mir so die Gedanken verdreht, dass ich letztendlich denke, ich sei an allem Schuld. Ich kann es nicht erklären, aber es ist so. Ich versuche einfach mal, es an einem simplen Beispiel zu erklären – vielleicht begreife ich es dann selbst auch einmal.
Würde Thomas mit dem Baseball-Schläger nach mir schlagen, ich jedoch ausweichen, so dass er dadurch den Fernseher zertrümmern würde, so wäre es meine Schuld, da ich ja ausgewichen bin. Wenn die Brötchen vom Bäcker nicht schmecken, dann darf ich mir die Vorwürfe anhören, denn ich habe sie ja schließlich gekauft. Wenn der Kühlschrank seinen Geist aufgibt, dann habe ich ihn kaputt gemacht, denn ich war diejenige, die zuletzt etwas heraus geholt hat (auch wenn es nicht so war). Und wenn Thomas schlechte Laune hatte und seinen ganzen Frust an mir auslassen musste, so war auch ich die Schuldige, weil ich nicht gelächelt habe.
 
Ich vergesse nie, als ich an einem Morgen mit wahnsinnigen Schmerzen aufgestanden bin und mich kaum bewegen konnte, weil Thomas mich am Vorabend wieder auf’s Übelste missbraucht und danach verdroschen hatte (weil ihm danach war, wie er mit einem Schulterzucken bemerkte). Jede Bewegung war unerträglich, ich war übersät mit blauen Flecken. Es war ein Samstagmorgen, und Thomas war bereits vor mir aufgestanden und saß schon im Wohnzimmer beim Kaffeetrinken.
Ich setzte mich neben ihn auf die Couch. Es würde keinen Ton des Vorwurfs geben, weil er mich gestern missbraucht und geschlagen hatte. Und ebenso wichtig war es, so zu tun, als sei nichts geschehen und nett zu sein. Ich musste so oft gegen mein Naturell, meinem Gegenüber so richtig die Meinung zu sagen, verstoßen, dass ich es kaum mehr ertragen konnte, ihm immer klein bei zu geben und ihn noch anzulächeln, so quasi: Ich find’s toll, was Du da gestern mit mir gemacht hast, mein Schatz. Ich will das immer und immer wieder und ganz viel davon, ja?! In dem Moment, wo ich mich neben Thomas setzte, hätte ich gern auf ihn und dann auf mich selbst gekotzt, so widerlich fand ich diese Situation und mein Handeln, zu dem ich gezwungen war, es zu tun.
 
Thomas würdigte mich keines Blickes. Dabei wäre ich es doch eigentlich gewesen, von der man diese Reaktion erwarten und sicherlich auch verstehen würde. Und jetzt das, so als hätte ich irgendetwas Schlimmes getan (oder besser: als hätte ich ihn missbraucht und verdroschen bis spät in die Nacht). Ich fragte mehrere Male, was denn los sei. Thomas starrte einfach weiter auf den Fernseher, so als hätte ich gar nichts gesagt. Ich versuchte, mich so wenig wie möglich zu bewegen, denn erstens tat mir jeder Millimeter meines Körpers (und damit meine ich auch die Körperöffnungen) weh und zweitens hatte ich Angst, dass Thomas wegen irgendeiner Bewegung wieder ausrasten könnte.
So saß ich da… wartete… sah zum Fernseher… sah zu Thomas… sah wieder zum Fernseher und verharrte mit meinem Blick dort, denn ich wusste, Thomas bekam jede Geste und Mimik von mir mit und wartete quasi schon darauf, dass ich nur den falschen Mucks machte. Und ja, was soll ich sagen: Keinen Mucks von mir zu geben, war dann auch auf einmal falsch, denn mit einem Mal riss Thomas seinen Kopf zu mir herum und sah mich mit eiskalten Augen an. „Warum hast Du so scheiße geguckt, als Du ins Wohnzimmer gekommen bist?“ Ich wusste gar nicht, was er meinte und sah ihn nur fragend an. „Wenn Du Dein Maul nicht für ein freundliches ‚Guten Morgen’ aufkriegst, kannste mit Deinem Arsch gleich im Bett bleiben.“
 
Das Wochenende hatte gestern beschissen begonnen, also konnte es nun bis Montag auch so bleiben. Alles war beim Alten – eben so wie immer – nichts, an dem man sich erfreuen konnte, nichts, wofür es sich lohnte, morgens nochmal aufzuwachen.
Leider war ich gestern schon gegen 14 Uhr zu Hause gewesen, wo Thomas anscheinend sehnsüchtig darauf gewartet hatte, nur um mich zu tyrannisieren. Ich könnte jetzt sagen: Wahrscheinlich lag es daran, dass er sich auf der Arbeit geärgert hatte oder dass ihm sein Computerspiel zu langweilig geworden war oder dass ihm einfach nur ein Furz quer steckte. Aber was ich auch sage: der Grund kann bei Thomas alles, aber auch wieder rein gar nichts sein. Das ist dann einfach so. Ich muss weder was falsch noch was richtig gemacht haben. Es war eigentlich egal, was ich mache oder nicht, denn wenn er nun mal Bock auf seine Spielchen hatte, dann zog er sie auch durch (und ich werde dabei leider auch recht hart durchgezogen).
 
 
Wie er da nun saß und mich vorwurfsvoll anblickte, brodelte es in mir innerlich. Dieser dreckige Bastard machte mir Vorwürfe, weil ich heute Morgen nicht lächelte und nicht freundlich ‚Guten Morgen’ zwitscherte? Ich konnte es nicht fassen. Und eben das ist es, was ich meine… würde ich das irgendjemandem in meinem Umkreis erzählen, der würde es mir nicht glauben, weil es eben unbegreiflich (und beinahe lächerlich) ist.
Ich atmete also tief ein und wieder aus, fuhr mich selbst wieder runter, so dass Thomas hoffentlich keine Ahnung von meinen Gedanken hatte - solche Anwandlungen hatte er nämlich leider auch ganz oft, dass er mir „Gedanken in meinen Kopf legte“, auch wenn ich tausendmal sagte, es wäre nicht so, dass ich dies und jenes denke – das interessierte ihn nicht, denn schließlich ist ja das, was er sagt, immer richtig, und er hat auch immer recht. Punkt.
 
 
Im nächsten Moment nahm Thomas mein Handy vom Wohnzimmertisch. Ich musste es immer offen dort liegen lassen, damit Thomas jederzeit nachsehen konnte, mit wem ich Kontakt hatte und so weiter und so fort. Er tippte auf einmal irgend etwas in mein Telefon ein und lächelte. Als er seine Nachricht fertig geschrieben hatte, hielt er mir das Handy vor mein Gesicht, drückte den „Senden-Button“, und während ich mir die SMS durchlas, hörte ich schon sein Lachen. 
Ich sah auf dem Display, dass er alle meine Kontakte in einer Sammel-SMS angeklickt und folgenden Text geschrieben hatte: „Mir ist das total peinlich. Habe heute Nacht ins Bett gepinkelt, nachdem ich mich gestern vollgesoffen habe. Der arme Thomas... was der alles mit mir mit machen muss...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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