Christa Astl

Elvira




 

 
 

Wer Elvira trifft, wenn sie morgens durch den Park spaziert, mit einem glücklichen Strahlen in ihrem Blick, weil sie wieder einen neuen Morgen erleben darf, wer sieht, wie sich ihre Freude in einem freundlichen Lächeln zum Gruße verschenkt, wird nie glauben, wie einsam sie ist.
Sie gehört zu den wenigen – oder sind es viele? – Menschen, denen wohl viele Talente in die Wiege gelegt worden sind, die Gabe eine Beziehung aufzubauen oder gar zu erhalten, fehlt ihnen, oder ist ihnen abhanden gekommen.
Einsamkeit begleitete sie von Kindesbeinen an. Am Rande einer kleinen Stadt aufgewachsen, in einer Siedlung, in der es viele Kinder gab, aber mit denen durfte sie nie spielen. Es waren die Kinder einfacher Arbeiter, doch Elviras Eltern glaubten, ihrer einzigen und verwöhnten Tochter diesen Umgang nicht zumuten zu können. So blieb das Kind meistens in der Wohnung und durfte nur zusehen, wie sich die Kinder ihren wilden Spielen hingaben. Natürlich zog sich dies durch die Schulzeit, auch hier war und blieb sie allein. Da sie sich nicht getraute, andere Kinder anzusprechen, wurde auch sie nicht angesprochen. Es wurde nur über sie gesprochen und gelacht, aber sie wehrte sich nicht. Denn auch das hatte sie nie gelernt, und ihrer Gegner waren viele! Zu raufen war ihr vom Vater streng verboten, das macht ein Mädchen nicht, und ein besseres, das sie doch sein sollte, schon gar nicht. So war die Schulzeit eine schreckliche Zeit für Elvira. An den Rand gedrängt, mit spitzen Pfeilen des Spottes beworfen, stand sie allein an der Wand, - und weinte. Doch niemand half ihr, nur die Mutter glaubte hin und wieder einschreiten zu müssen und hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Heulsuse, Mama-schatzerl, waren noch die höflichsten Beinamen, die die Mitschüler ihr nachriefen.
In der Schule hatte sie nur Anerkennung durch ihre Noten. Vor den Schularbeiten glaubte sie manchmal eine Freundin gefunden zu haben, wenn diese mit ihr lernen durfte, oder wenn sie diese „Freundinnen“ die Hausaufgaben abschreiben ließ. Diesen Preis zahlte Elvira gerne, war sie doch so froh, endlich überhaupt jemanden zu haben. Gut und lange konnte so eine Freundschaft nicht gehen, und zum Zurückgestelltwerden kam noch der Schmerz der Enttäuschung dazu.
In geheimen Tagträumen malte sie sich aus, wie sie im Kreise einiger Freundinnen als deren Anführerin fröhlich und zu jedem Streich aufgelegt war.
Endlich war sie alt genug, das Elternhaus zu verlassen und kam in ein Mädchenheim um von dort weite Schulen zu besuchen. Endlich konnte sie das leben, was sie sich vorgestellt hatte, ohne elterliche Aufsicht über sich, keine eingreifende und verwöhnende Mutter, die ihr alle Schwierigkeiten abnahm. Erstaunlich schnell gewöhnte sie sich an das turbulente, muntere Heimleben, fühlte sich nicht mehr allein, versuchte mitzulaufen. Bis es dann plötzlich Streitereien unter den Zimmerkolleginnen gab, Anschuldigungen, Parteien-bildungen, - und sie wieder einmal draußen blieb. Für jemand Partei zu ergreifen, war ihr ja auch fremd.
Doch nun kam die erste Wendung in Elviras Leben, eine lebensverändernde Erkenntnis: Sie musste ja nicht mitmachen, sie musste sich ja nicht in einen Streit einmischen, der sie gar nicht betraf, sie konnte ja nein sagen zu etwas, was ihr nicht gefiel.
Da sie ja nicht aufgefordert war mitzumachen, wurde sie auch nicht gehindert, etwas anderes zu tun. Sie ließ sich ihr Rad in den Schulort bringen und begann die Welt, zumindest ihre Umgebung, zu erobern. Was brauchte sie die anderen, wenn ihr der Fahrtwind um die Ohren blies! Zum ersten Mal war sie glücklich. Tag für Tag war sie unterwegs, das Heim sah sie nur zum Essen und Schlafen.
Dann begann sie sich selber zu sehen, zu beobachten, ihre Fähigkeiten zu erfahren, die sie im Vergleich zu den Mitschülern mitbrachte. Ihre Kreativität kannte damals keine Grenzen, und als sie begann, ihren eigenen Modeschmuck herzustellen, scharten sich wieder einmal „Freundinnen“ um sie. Sie genoss zwar das Ansehen, verkaufte aber nicht mehr sich, sondern ihre Ware. Und irgendwann fiel der Blick auf die männlichen Mitschüler, die sie in der Pause sah. Bei einem Schulfest begann zögernd eine erste Liebe, tage- und nächtelang kreisten die Gedanken um den Einen. Doch dieser war genau so schüchtern. Aber es kam doch zu einigen näheren Freundschaften, vor allem als es den älteren Schülerinnen endlich gestattet war, auch abends fortzubleiben. Es waren nette Abende, richtig verliebt hatte sie sich nie.
Irgendetwas in ihrem Inneren sträubte sich dagegen. Sofort fühlte sie sich eingeengt, gefangen, unfrei, jede zu starke Nähe belastete sie, löste Abwehr aus. Kein Wunder, dass jede Beziehung spätestens im Versuch, intim zu werden, zerbrach. Die Mädchen und jungen Frauen der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, alle hatten bereits einen Freund, Elvira nicht.
Sie begann darunter zu leiden, warum war das so, warum war sie anders? Und was war anders an ihr? Körperlich war kein Mangel festzustellen, sie sah gut aus, hatte eine glatte Haut, einen gesunden, sportlichen Körper, also musste ihr Anderssein wohl im Kopf liegen. War sie also nicht normal? Doch wen hätte sie fragen sollen, Psychologen, Psychiater waren doch nur für die „Verrückten“ da, hieß es damals noch. Und „Verrückte“ waren Ausgeschlossene, Ausgestoßene, mit denen wollte niemand was zu tun haben, vor denen hatte man Angst.
Ja, Elvira war eine Ausgeschlossene, das stimmte wohl, seelisch verhungert, in ihrem Innern unverstanden, aber sonst waren ihre Gedanken in Ordnung, Sie war sehr intelligent, hatte eine rasche Auffassungsgabe, konnte gut kombinieren, lernte leicht, also dumm war sie bestimmt nicht. Diese Gedanken bewegten sie fast ständig, nach außen durfte sie ihnen keinen Raum geben.
Sie musste was anderes tun. Damals war es zwar noch nicht üblich, als Frau allein in ein Lokal zu gehen, Elvira tat es. Auch reiste eine Frau nicht allein, ein Begleiter für ihren persönlichen Schutz und um den schweren Koffer zu tragen, war üblich. Elvira schleppte ihren Rucksack selber. Im Gegensatz zu anderen Reisenden bevorzugte sie schon damals den Rucksack und feste Schuhe. Und Elvira liebte die Berge. Nicht von Klein auf, da jammerte sie sofort über müde Beine, hatte Angst, wenn der Weg steil und eng wurde. Damals wollte sie nur in die Stadt, ebene breite Straßen unter schönen, zierlichen Schuhen haben, hübsche geblumte weitschwingende Röcke tragen, und ein glückliches Leben in einer glücklichen Familie führen. Ja, das hatte sie sich als Kind so vorgestellt. Und dann entwickelte sie sich so anders.
Jetzt liebte sie die Berge, das Abenteuer, das Reisen, die Freiheit und das Alleinsein. Sie lernte Bergfreunde kennen, mit denen sie größere Touren machte. Doch kaum sprach einer vom Heiraten, ging bei ihr der Strom aus. Heiraten hieß – sich lebenslang binden!! Nein, nie und gar nie nicht!!! Und der Heiratskandidat zog mit einem Riesenkorb seines Weges.
Mitschülerinnen waren längst verheiratet, schoben Kinderwagen, führten ihre Schützlinge an der Hand, in die Schule, fuhren sie zum Tanzen, und bekamen Enkel.
Elvira war allein, noch, - doch diesmal sollte es anders werden. Er war Bergsteiger, natürlich, liebte wie sie das Reisen in ferne Länder, wollte Kurse besuchen, Fremdsprachen lernen, alles was sie auch gerne wollte. – Und er hatte ein Haus im Rohbau stehen. Einmal war sie mit ihm dort, und da verliebte sie sich. Ob in das Haus oder den Mann, im Nachhinein konnte sie es nicht mehr sagen, damals überlegte sie nicht.
Das Haus stand auf einem wundervollen Platz am Waldrand, in sonniger Hanglage, und war sehr geräumig. In Gedanken setzte sie Zwischenwände, führte die Zimmer ihrer Bestimmung zu, sah sich darin schalten und walten, einige Kinder um sich, und gab ihm ihr Jawort. Mit Feuereifer war sie mit ihm am Werk, stand an der Mischmaschine, schleppte Malterkübel, turnte mit den Maurern am Gerüst herum, stand im offenen Fenster, um die Rahmen zu streichen, montierte Bodenleisten, versuchte sich sogar im Fliesenlegen, strich Wände und war glücklich, wenn beide nach einem schweren Arbeitstag eng umarmt ihr Tagewerk betrachteten.
Endlich erfolgten die Einweihung und der feierliche Einzug. Die Hochzeit wurde groß gefeiert, Freunde, Verwandte und Bekannte waren wohl am meisten froh, dass sie doch noch unter die Haube gekommen war.
Einen Winter dauerte es, bis Möbel an der richtigen Stelle standen, all die Kleinigkeiten angebracht waren, die ein Heim erst so richtig gemütlich machten. Noch war sie glücklich. Im Winter begannen sie auch die Wiege zu schnitzen. Dann kam das Frühjahr und der Garten wurde angelegt. Bäume, Sträucher setzte der Mann, die Blumenrabatten und deren Gestaltung oblagen ihr. Die Wiege wartete, auch im nächsten Winter noch. Und im Frühjahr darauf stand sie immer noch leer. Es wurde still im Haus, kam ihr vor. Obwohl es ja noch nie nach Kinderlachen geklungen hatte. Die Stille kam aus ihrem Inneren, aus einer nicht erfüllten Erwartung. In ihr machte sich Leere breit, Hoffnungslosigkeit, sie stellte sich die Frage, ob sie jemals ein Kind bekommen konnte. Und wieder veränderte sich etwas: ihr Mann. Gab er ihr die Schuld, dass die Wiege leer blieb? Das verzweifelte Bemühen, zu einem Kind zu kommen, war so anstrengend, zermürbend, jede noch vorhandene Lust tötend. Sie zog sich wieder zurück, verwehrte sich ihm. Aus seinen Blicken, wenn er sie überhaupt noch anschaute, glaubte sie Enttäuschung, Vorwürfe, schließlich sogar Hass zu lesen. Sie konnte ihm nicht sagen, wie es ihr ums Herz war, wie sehr sie litt, er ignorierte ihr Reden, schnitt ihr das Wort ab, wandte sich ab von ihr. Immer länger blieb er in der Firma, machte Dienstreisen über einige Tage, - sagte er wenigstens, - immer öfter war sie allein zu Hause. Früher hatte ihr das Alleinsein nichts ausgemacht, doch nun, mit einem Partner an ihrer Seite, der nicht da war, fühlte sie sich einsam, grenzenlos einsam, fremd, fern von allem Leben, sogar dem eigenen. Der Garten freute sie nicht mehr, das Haus ließ sie verkommen, die Blumenvasen blieben leer, und die Wiege starrte sie anklagend an.
Sie beschloss, ihr Leben zu beenden. Vom Hausarzt ließ sie sich starke Schlafmittel verschreiben, von denen sie glaubte, die Packung müsste für einen ewigen Schlaf reichen.
Wieder kam es anders und für sie noch schlimmer. Als sie gerade von Besorgungen aus der Stadt zurückkam, stand das Auto des Mannes in der Einfahrt. Nanu? Warum so früh? Es wird doch nichts passiert sein?! Erschrocken eilte sie ins Haus, - hört Lachen, eine Frauenstimme, ihren Mann, wieder das fröhliche Lachen, - trat ins Wohnzimmer, - und ertappte beide eng umschlungen auf dem Sofa…. Sie wandte sie um, schlug mit Krach die Türe zu, stieg ins Auto des Mannes, der Motor heulte auf, Steine spritzten, und weg war sie. Kurze Zeit später vernahm ihr Mann das Krachen, als sie in der Kurve an die Begrenzungsmauer donnerte.
Wochenlang bemühten sich die Ärzte, sie ins Leben zurück zu holen, monatelang lag sie völlig apathisch, nur körperlich lebend, im Krankenhaus. Die körperlichen Verletzungen waren verheilt, die Seele schien gestorben zu sein. Man hielt sie nicht für fähig, zu Hause allein zurechtzukommen und schickte sie in ein Sanatorium. Wohin hätte sie auch gehen sollen?
Das Sanatorium lag abseits der großen Verkehrsstraßen am Rande eines kleinen Dorfes, mitten in einem stillen Wald. Zaghaft wagte sie erste Schritte in den Wald, setzte sich gerne unter einen Baum und bestaunte die sie umgebenden kleinen Wunder der Natur. Sie begann sich wieder zu erinnern, wie sehr sie doch früher den Wald geliebt hatte. Allmählich wurden ihre Schritte fester, ihr Gang sicherer, die Wege weiter, bis sie nach Monaten wieder auf dem ersten Berggipfel stand. Freiheit umwehte sie, stürmischer Wind, dem sie sich gerne in die Arme warf. Er hatte sie wieder! Der Sturm, der Leben entfachte, dem sie sich entgegenstellen konnte, mit all ihren Kräften, ihren Lebenskräften!
Im Sanatorium nahm sie an Mal- und Kunsttherapien teil, das Sprechen fiel ihr noch zu schwer. Das Vergangene wollte sie um jeden Preis vergessen, es war vorbei, nie mehr zu ändern. Sie war ins Leben zurück gezwungen worden, also musste sie weiter leben. Wohl gefiel ihr die Arbeit mit Farben, mit verschiedenen Werkstoffen, und da kam auch ihre frühere Kreativität wieder hervor.
Viele bunte lebensfrohe Bilder waren inzwischen erstanden, was sollte sie mit ihnen tun? – Und das Ende des Sanatoriumsaufenthaltes rückte näher. Sie musste sich doch eine Wohnung suchen, aber wo? Verwandte, Freunde hatte sie nicht, und da kam es ihr sehr gelegen, als sie beim Durchblättern der Lokalzeitung ein kleines Haus, das zum Kauf angeboten stand, entdeckte. Gleich am nächsten Morgen spazierte sie hin, es war ein helles Blockhaus auf einem großen Grundstück, das ihr sofort gefiel. Die vorige Besitzerin war plötzlich gestorben, ihre Kinder wollten es nicht, die wohnten in der Stadt.
Es stand schon einige Zeit leer, das große, verwilderte Grundstück schreckte die Leute vom Kauf ab, so dass der Preis recht günstig und für sie erschwinglich geworden war.
Hier fand sie ihren Alterssitz, ihren Ruhepunkt, gestaltete sich ihre eigene Welt, hier wurde sie wieder glücklich und in der Seele gesund.
Dankbarkeit empfindet sie heute, wenn sie in der heimeligen Stube sitzt oder ihre Blumen pflegt, stille tiefe aufrichtige Dankbarkeit für jeden neuen Tag.
 
 
 
(c) ChA Oktober 2012
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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