Constantin Teetzmann

Sie, Berlin, die Stadt

Langsam wache ich auf. Der Lautsprecher hat gerade unsere Ankunft im Berliner Hauptbahnhof – im Lehrter Stadtbahnhof - verkündet. Holsteinische, mecklenburgische und brandenburgische Landschaften sind mit 300 km/h an mir vorbeigerauscht. Erst im Berliner Stadttunnel hat der Zug begonnen abzubremsen und nun stehen wir fast. Ich kann es immer noch nicht fassen: Gleich werde ich sie wiedersehen. Ich steige aus, fahre die Rolltreppe hoch und verlasse den Bahnhof. Um mich herum nur Glas und Stahl und Menschen. Ich stehe vor dem größten Bahnhof Europas, dem Zentrum europäischer Eisenbahnen, einem der komplexesten Verkehrsknotenpunkte der Welt.
Langsam wende ich mich ab. Wir wollen uns im Literaturcafé treffen. Es liegt am Pariser Platz. Vorbei am Bundeskanzleramt, der „Waschmaschine“, gerate ich in das Zentrum deutscher Geschichte, Europäischer Geschichte und so mancher Weltgeschichte. Das von 1788 bis 1791 von Carl Gotthardt Langhans erbaute Brandenburger Tor wurde zusammen mit dem Reichstag oft genug als Symbol der Macht gebraucht und missbraucht.
1933 suchte sich zur sogenannten „Machtergreifung“ der Fackelzug der SA und SS wie ein zerstörerischer Lavafluss langsam, aber unaufhaltsam, durch das Tor seinen Weg. Bald hatte sich der NS-Terror über Deutschland, mit der Zeit über Europa und am Ende fast über unseren ganzen Globus ausgebreitet. Erst 1945 wurde endlich eine neue Flagge auf dem völlig zerstörten Reichstag gehisst. Der Terror schien zu Ende.
16 Jahre später wurde hier die Teilung Deutschlands, Europas und der Welt besiegelt. Man baute den „Antifaschistischen Schutzwall“ einmal rund um den Westteil der Stadt. Der Reichstag im Kapitalismus, das Brandenburger Tor im Sozialismus. Und dazwischen keine 100 Meter, Brachland und bis auf die Zähne bewaffnete Wachposten: Der Todesstreifen.
1989 fiel dann die Mauer. Nun sterben im Todesstreifen höchstens Kriechtiere auf dem Asphalt unter Audis, BMWS und Mercedessen. Manchmal auch unter dem ein oder andere Porsche, Lamborghini oder Ferrari. 5 Minuten bevor wir uns verabredet haben, bin ich schon am Café. Sie ist noch nicht da, sodass ich draußen auf sie warte. Nach 20 Minuten kann ich die Feststellung machen das sie so geblieben ist, wie sie war, so pünktlich, wie eh und je: unpünktlich. So viel zum Thema Preußische Tugenden.
In Hamburg - ich war nach meinem Flug aus NY noch zu Besuch bei meinen Großeltern - habe ich kaum was gegessen und danach auch nichts mehr. Also gehe ich hinein und bestelle mir schon etwas. Eigentlich komme ich aus Oldenburg – einer „Großstadt“ im Nordwesten der Bundesrepublik - und sie aus Bulgarien, Varna. Wir beide haben uns bei einem Schulaustausch kennen gelernt und seitdem nie wieder gesehen. Nur geschrieben. Sie hatte mir geschrieben, dass sie nun in Berlin studiert. Ich studiere mittlerweile in Amsterdam. Es sind übrigens zwei, nun drei Stunden vergangen. Es wird langsam dunkel. Somit entschließe ich mich ein Zimmer im Hotel Adlon zu nehmen und rufe sie an. Sie meint, dass auch dort gewesen sei, mich aber nicht gesehen hätte. Wir verabreden uns für die Philharmonie. Also, auf gen Potsdamer Platz!
Dieser Platz lag lange Jahre brach und wurde nach der Wende zur größten Baustelle unseres Kontinents. Heute ist es einer der schönsten Plätze, die ich kenne.
Bald stehe ich vor der Konzerthalle. Auch hier ist sie nicht. Fünf Minuten vor der Vorstellung frage ich an der Kasse nach ihr. Auf den Name und auch auf meinen ist nichts hinterlegt. Ich setze mich in dieses sagenhafte Gebäude und genieße das Konzert. Wo ist sie bloß?
Am Abend laufe ich noch etwas Ziellos umher, gehe dann ins Hotel. Am nächsten Morgen schlafe ich frustriert lange aus und gehe vor dem Frühstück ins Schwimmbad. Das Frühstück nehme ich auf dem Zimmer ein und gehe dann nach draußen. Es scheint die Sonne und den Tag kann ich nur genießen.
Bald rufe ich Jonathan an. Er will sich am Abend in einem Restaurant am Gendarmenmarkt mit mir Treffen.
Auch dort warte ich eine Ewigkeit und bekomme so die Gelegenheit mir mal wieder den Platz anzugucken. Da ist der Französische Dom. Er wurde Anfang des 18. Jahrhunderts von den evangelischen Franzosen, den Hugenotten, die in Preußen Zuflucht gefunden hatten, erbaut. Und da ist der Deutsche Dom. Er ist zur gleichen Zeit für die Deutschen Protestanten gebaut worden. Beide haben 1780-85 zwecks der Umgestaltung des Platzes Zwillingstürme aufgesetzt bekommen. Dazwischen das 1817 von Karl Friedrich Schinkel erbaute Schauspielhaus. Es ist heute eines der wichtigsten Konzerthäuser der Hauptstadt.
Nun gut ich schaue noch mal beim Restaurant vorbei und da sitzt SIE.
Neben ihr ein Koffer. Ich trete ein.
Nach einer kurzen Umarmung, erzählt sie mir, dass ich ja nun wirklich nicht die 60 km von New York nach Hamburg hätte fliegen müssen um dann auch noch die 300 km nach Berlin zu fahren.
Ich verstehe nur Bahnhof. Amsterdam und Varna liegen sind auch nicht viel weiter entfernt. Bis auf Hamburg sogar alle im gleichem Bundesstaat. Nur Oldenburg liegt (mal wieder) weit, weit weg. Ich kann es nicht fassen. Sie studiert auf der Hochschule eines kleinen Städtchens in Amerika. Ich komme kaum aus dem Lachen. Wir unterhalten uns ewig.
In der Nacht gehen wir noch durch die kühlen Straßen der Hauptstadt. Vor meinem Zimmer trennen sich unsere Wege. Am nächsten Morgen treffen wir uns noch mal und ich gebe ich ihr noch einen Abschiedskuss, bevor ich wieder in den Zug steige. Er fährt langsam an. In diesen Tagen habe ich es geschafft, ihre Oberfläche zu berühren und vielleicht auch etwas von ihrem inneren. Ich werde sie nicht so schnell wieder sehen. Ich liebe sie. Sie, die Stadt. SIE und die Stadt.

Im Mai/Juni 2003 habe ich an einem Schulaustausch mit Varna, Bulgarien teilgenommen. Für einen "Deutschen Abend" habe ich diese Geschichte über Berlin geschrieben.Constantin Teetzmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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