Christina Gerlach-Schweitzer

Von großen und von kleinen Tieren

Der  Elefant schritt am Rande eines Baches entlang, bis  an die Furt, die er immer benutzte, um an das andere Ufer zu gelangen, denn dort drüben konnte er einfach besser nach denken. Das Nachdenken  hatte er sich zur  Lebensaufgabe gemacht. Das Nachdenken  über das Grundsätzliche des Lebens, das Lebendige in sich. Er war ein  Denker, der seine ganze Lebenskraft für das Denken brauchte. Tiefe Furchen hatten sich  quer auf seiner Stirn eingegraben.

Kurze Zeit später, kam der Löwe, suchte dieselbe Furt und schwamm ans andere Ufer, denn auf der anderen Seite  des Baches konnte auch er besonders gut nachdenken. Nur wenige ausgewählte  Tiere verstanden  ihn wirklich, wenn er seine Vorträge hielt, um seine Gedanken einem breiteren Publikum vor zu tragen. So gelehrt war er. Er war Philosoph. Seine Gedanken gingen über das Sein und das Wesen des Seins  und ihre Interaktionen und Imperative. Philosophie eben. Auch der Löwe verbrauchte all seine Lebenskraft für das Denken. Tiefe senkrechte Falten  über der Nasenwurzel  gaben seinem Gesicht ein mächtiges Aussehen.

Ein  Wiesel  hatte die beiden beobachtet.  Es  war noch neu in der Gegend und es wurde neugierig warum die großen Tiere  auf die anderen Seite des Baches gewechselt waren.  Dort musste man gut leben können, viel zu fressen haben,  gute Schlafplätze finden  und bestimmt noch viel mehr. Es wollte auch hinüber, traute sich aber nicht, wegen der starken Strömung des Baches.

„He, Elefant“, schrie es aus Leibeskräften, damit es auf der anderen Seite des Wassers gehört würde, „gibt es hier keine Brücke? - Nein?- dann leg mir bitte einen Ast über den Fluss. Ich will auch auf die Seite, wo Du jetzt stehst“. Der Elefant dachte zunächst angestrengt nach, warum das Wiesel sich denn nicht selbst helfen würde und  warum es überhaupt auf seine Seite des Baches wollte. Dann schob er seine noch unklaren Lösungsansätze beiseite, entschied sich zunächst einmal einfach grundlos  hilfsbereit zu sein und vielleicht  später  das Wiesel zu befragen, wenn es auf seiner Seites des Baches angekommen wäre. Er holte einen Ast und legte ihn als Brücke über das Wasser und  wunderte sich über ein erstaunlich fröhliches Gefühl, das er  in sich spürte, als er das Wiesel den Bach überqueren sah.

Kurze Zeit später  wollte der Löwe wieder durch den Bach zurück ans andere Ufer  schwimmen.  Er freute sich sehr, als er die neue Brücke sah, weil  er jetzt  den Rückweg trockenen Fußes antreten  konnte.  Leichtfüßig  balancierte  er über den Ast, den der Elefant über den Bach gelegt hatte.

“Einfach eine Brücke bis  zur  anderen Seite zu bauen“, dachte er. Der Gedanke fühlte sich für den Löwen komisch an. Ich hätte von allein darauf gekommen sein müssen, dachte er bitter. Durch die Schaffung einer Brücke hat das Dasein vieler Tiere nun durch einen konkreten, realen Eingriff ins Existentielle eine Veränderung im Sein erfahren. Auch ich in meinem Wesen bin jetzt ein persönlich Betroffener dieser neuen Seinskonstellation.  Durch diese Interaktion mit dem  Seienden wurde, über sich selbst hinaus weisend,  antizipiert, dass ich von jetzt an den Bach auch andernorts bequem überschreiten kann,  wenn dort eine ebensolche Verklammerung zweier Ufer, zweier Parallelen, zweier Unvereinbarer, zum Realen geführt werden  würde.“

Dann dachte er noch an die Vergangenheit, in der  er ja so viele Jahre immer bis an diese Furt hatte laufen und hindurch hatte schwimmen müssen, bis er wirklich hatte  nachdenken können. Jetzt hatte ihm  ein kleines Wiesel gezeigt, warum er  das eigentlich tat. Diesen Gedanken hat er aber niemals  laut vorgetragen.

 

 

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