Joachim Tiedemann

Wiederkehr

Ich öffne die Augen. Durch das geöffnete Fenster meines Schlafzimmers wirft die Sonne
ihre ersten Stahlen hinein. Die erwachenden Vögel begrüßen sich mit dem Klang ihrer Stimmen,
umschmeicheln meine Ohren mit melodischen Zwitschergesang. Das Rascheln der Laubbäume und
das Plätschern des nahegelegenen Baches unterstreichen heute morgen die besondere Harmonie
des erwachenden Tages.
Wie in einem Konzertsaal, denke ich, mit den Instrumenten der Natur, die Ouvertüre des 27. Mai 1946,
dessen Höhepunkt mir schon seit einiger Zeit die größte Freude meines achtzehnjährigen Lebens bereitet.
Die Freude über die Wiederkunft meines geliebten Papas, den ich schon drei Jahre nicht mehr sah,
den wir so vermisst haben und nicht wußten ob er noch lebt. Der heute Nachmittag am Bahnhof ankommt.
Den wir, Mama und ich, seine Tochter, umarmen werden, er auch uns, weil er heute aus der
Kriegsgefangenschaft kommt, um wieder bei uns zu sein.
Die Freude des Wiedersehens mit Papa trägt mich aus dem Bett, verleiht mir eine unbekannte Leichtigkeit,
die mich an den von Mama fertig bereiteten Frühstückstisch fast schweben, statt gehen lässt.
Ihr Gesicht sieht an diesem Morgen anders aus, finde ich. Enspannte Züge, die sonst angepannt, Mundwinkel
freudig nach oben, die sonst nach unten traurig sind. Zusammen mit dem Glanz ihrer funkelnden Augen, die mich heute
an zwei strahlende Sterne erinnern, überträgt sie ihre Freude überall in unser Wohnzimmer herein.
Ich bin so glücklich, weil Papa heute wiederkommt, sagt sie.
Ich auch, noch sieben Stunden, antworte ich, nehme sie in die Arme, drücke sie fest an meinen Körper.
Unsere Gefühle entleeren sich in Freudentränen, die wir mit unseren Taschentücher trocknen. Wir verweilen während des
Frühstücks im freudvollen Schweigen.
Den Brief von Papa haben wir schon sieben Tage lang. Adressiert an Mama, Lotte Huber.
Mein Lieben
Ich werde am 26.Mai entlassen. Wenn es euch möglich ist, seit bitte am Bahnhof. Ich freue mich so auf euch.
Bin schon ganz aufgeregt! Hoffentlich geht es euch gut. Ach so, bin übrigens unverletzt, zu eurer Beruhigung, habe einen guten Schutzengel unter Vertrag.
Ich liebe euch Papa.
Immer wieder habe ich den Brief zusammen mit Mama gelesen, in jeder freie Minute. Er kommt, nicht nur das, auch noch unverletzt.
Das Glück hat viele Namen. Wiederkommen, unverletzt, heißt es bei uns.

Inzwischen elf Uhr geworden, hält uns nichts mehr zu Hause. Wir gehen den kurzen Weg zum Bahnhof unserer Kleinstadt, hören die immer näherkommenden Geräusche der durchfahrenden, dann wiederlosfahrenden Dampfzüge: quitschende Bremsen, ratternde Räder, das Pfeifen der Kessel, auch das Fauchen der Schornsteine und sehen jetzt, da wir angekommen sind, weiß, schwarzen Verbrennungsdampf
von Wasser und Kohle, der uns die Sicht nimmt, alles in Nebel setzt und uns husten läßt.
In diesem abfahrenden Zug ist Papa nicht drin.
Dafür andere Kriegsheimkehrer. Die Dampfschwaden lichten sich. Mit klar gewordener Sicht überblicken wir unseren langen Bahnsteig, auf dem wir stehen. Überall Männer, die sich mühevoll bewegen, humpeln, teilweise an Krücken gehen, manche auch nur auf einem Bein.
Die ihre Frauen und Kinder suchen, mit tiefliegenden Augen, mit nach innen gezogener Haut, da wo früher Wangen, jetzt aber tiefe
Löcher im Gesicht sich bilden und so an das Aussehen von Totenschädel erinnern. Ausgezehrte Körper in zerschlissenen Uniformen.
    Im Gegensatz, die der Frauen und Kinder. Schön sehen die aus. Die Frauen: Attraktiv für ihre Männer. Zum Empfang in Schale geworfen. Kostüme,darüber Köpfe mit gestylter Frisur, manche auch in Stöckelschuhe, im Gesicht geschminkt, auch mit roten Lippen.
Die Kinder: Mädchen meist in Zöpfen, blonde und braune; geblümte Kleidchen, an kleine Dirndl erinnernd.
Die Jungen, in kurzen Hosen, heute lacht auch die Sonne, nicht nur wir; in bunten Hemden, die meisten im Kurzhaarschnitt.
             Augen die sich suchend um und anschauen, im Stimmengewirr nach einiger Zeit das gesuchte Herz erkennen.
Familien schließen ihre Arme um wiederkehrende Männer, weil alle nicht mehr loslassen wollen. Zurückgekehrte Invalide
und Kranke, auch die werden im Kreise der Familie fest gehalten.
Lansam leert sich der Bahnsteig. Inzwischen fast siebzehn Uhr. Männer, die sich nach Familie sehnen, steigen aus. Niemand steigt ein,
nur unsere Enttäuschung, die mit dem abfahrenden Zug wegfährt, damit wieder Platz für neue Hoffnung ist. Für sehr viel Hoffnung,
denn um siebzehn Uhr kommt der letzte Zug. Dann ist Schluss.
Zu unserer Hoffnung gesellt sich Angst, die immer größer wird. Punkt siebzehn Uhr. Rauchschwaden am Horizont. Der letzte Zug kommt näher, ist hörbar, wird größer.  Auch die Angst, die alles zerstört, Papa ist nicht drin;  schreckliche Angst, die Freude und Hoffnung nimmt, alle Gefühle aussaugt und uns wie Roboter nach Hause gehen läßt.
Wir versinken in hektischer Betriebsamkeit von Menschenmengen auf dem Bahnhofsvorplatz. Zuviel Events am späten Nachmittag.
Versammlung des Bürgervereins mit politischerr Kundgebung, Rückkehrer aus der Gefangenschaft mit Familien, Rotkreuzschwestern die sich um verletzte Soldaten kümmern. Mama geht vor mir. Es fehlt Platz im Menschengewimmel. Wir kämpfen uns durch die Menge, fühlen
unsanfte Berührungen: das Geschubse und die versehentlichen schmerzhaften Tritte auf unsere Füße; als ich eine Berührung auf meiner rechten Schulter fühle. Die geht nicht weg, im Gegenteil, verstärkt sich sanft, jetzt auch auf der linken Schulter. Die Berührung zweier Hände, Männerhände, die mich im Halbkreis sanft nach hinten drehen. Berührungen, nicht unbekannt, fast so... als würde mich...
Sein Gesicht ist da, ganz nah, sein Lippen auf meiner Stirn, die mich küssen. Aber nicht nur sein Gesicht, sondern alles was ich jetzt brauche, in diesem Augenblick, den ich in meinem Leben nie wieder vergessen werde. Papa lebt und ist wieder da.




 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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