Hartmut Müller

Erinnerungen an Joly

Sie hieß Joly (gespr. Dschuli) und war unser Familienschwein, das wie viele ihrer Sippe jedes Jahr unter täglich mehrmaligem Kontakt zu uns allen vom Ferkel bis zum ausgewachsenen Schwein herangemästet und im Winter schließlich geschlachtet wurde. Abgesehen davon, dass Joly eingesperrt war, gehörte sie irgendwie zur Familie und war öfter Gesprächsthema, wenn bei den Mahlzeiten alle beieinander waren. So sagte Wolfgang einmal: Joly geht’s heute scheinbar nicht besonders, sie hat nicht mit mir gesprochen. Da das bisher noch nicht vorgekommen war, ergab die Nachprüfung, dass es Joly gut ging wie fast immer, sie war nur enttäuscht von ihrem Liebling Wolfgang, der vor ein paar Minuten kurz im Stall war, um schnell etwas für unsere Mutter zu holen und in der Eile vergessen hatte, zuerst Joly zu be-suchen und zu begrüßen. Wenn nämlich die Stalltür geöffnet wurde, wusste Joly immer genau, wer da kam, was sie vermutlich am Geräusch seiner Schritte merkte, denn sehen konnte sie den Besucher erst, wenn sie bei seinem Annähern hochkam, die Vorderfüße auf das oberste Brett der Kobenwand stemmte und ihm ihren großen Kopf mit der langen Schnauze und den kleinen hellwachen lustig- listigen Augen entgegenstreckte. Für jeden von uns hatte sie ein ganz spezielles Begrüßungsquieken und beantwortete alle Fragen nach ihrem Befinden mit wohligem Grunzen. Wenn der Besucher nach einigem Hantieren ver-schwand, ohne von ihr Notiz zu nehmen, war sie tagelang nachtragend und ignorierte ihn ebenfalls. Die Quarantäne konnte man allerdings mit einem Extrabesuch plus Leckerbissen, z.B. einem Apfel, schneller beenden.
Über sechzig Jahre sind inzwischen vergangen, und gestern hatte ich folgenden Traum: Joly sitzt in unserer damaligen Waschküche in einer großen flachen Zinkbadewanne in warmem Wasser und wird von zwei mir unbekannten Frauen mit Bürsten geschrubbt, und dabei grunzt sie genüsslich, denn so wurde sie noch niemals verwöhnt. Mehrere Menschen liefen ge-schäftig hin und her und trugen Gerätschaften herein, zwei Tischböcke mit einer langen Holzplatte darauf, eine zwei Meter lange Leiter mit einem oberen Querholz, die schräg an die Wand gestellt wurde, Schüsseln, ein langer dicker Strick…
Joly will nun Kontakt zu den Frauen aufnehmen, doch die sehen immer schamhaft weg. Eigenartig ist, dass Jolys Schnauze immer kürzer wird und sie ein quasi menschliches Gesicht bekommt, ihre Beine werden zu plumpen aber unverkennbar menschlichen Händen und Füßen, ihr Blick verrät Angst und Beklemmung, sie hat ein ungutes, ein unheimliches Gefühl hilfloser Einsamkeit, aber andererseits ist sie voll Neugier auf das kommende Unbe-kannte und voll Vertrauen in ihre Familie, vor der sie ja keine Angst haben muss…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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In meinen Gedichten, schreibe ich mir meine eigene Realität, meine Träume auch wenn sie oft surreal, meistens abstakt wirken. Schreiben bedingt auch meine Sprache, meine Denkmechanismen mein Gefühl für das Jetzt der Zeit.

Ich vernehme mich selbst, ich höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Die Sprache ist dabei meine Helfershelferin und Komplizin, wenn es darum geht, mir die Wirklichkeit vom Leib zu halten. Wenn ich mein erzähltes Ich beschreibe, beeinflusse, beschneide, möchte ich begreifen, wissen, welche Ursachen Einflüsse bestimmte Dinge und Menschen auf mein Inneres auf meine Handlung nehmen, wie sie sich integrieren bzw. verworfen werden um mich dennoch im Gleichgewicht halten können.

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