Monika Litschko

Noras Herz

Es war kalt draußen. Das Feuer im Kamin flackerte, die gediegenen Fensterlampen füllten die übergroßen Fenster mit ihrem warmen Licht und der Wind zerrte an den verwitterten Fensterläden. Ich stand mit verschränkten Armen, gehüllt in einen weißen langen Bademantel am Fenster und starrte in die Dunkelheit. Ab und zu riss die Wolkendecke auf und ich sah, dass es anfing zu schneien. Seufzend drehte ich mich weg und schaute mich um. Mein Blick fiel auf die Treppe, die nach oben führte. Ob sie noch wach war? Ich hatte mir so oft vorgenommen, mit ihr zu sprechen. Heute wäre ein idealer Abend. Immerhin war ich allein, so wie sie auch. Nervös rieb ich mir den linken Handknöchel. „Nun mach schon“, flüsterte ich, „rede mit ihr.“ Ich holte noch einmal tief Luft und ging mit zitternden Beinen die Treppe hoch. Vor ihrer Tür blieb ich stehen und fasste allen Mut zusammen. Vorsichtig drückte ich die Klinke nach unten und öffnete die Tür.

Als ich das Zimmer betrat, sah ich, dass sie gerade den Raum betrat. Sie kam durch die gegenüberliegende Tür und schaute mich an. Wortlos setzten wir uns. Ich senkte den Kopf und spielte mit dem Gürtel meines Bademantels.
„Wie geht es dir?“, fragte ich.
„Ich denke viel nach“, antwortete sie.
Ich hob meinen Kopf und suchte ihren Blick. Wie sie so dasaß, auch in einen Bademantel gehüllt, das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen, tat sie mir fast leid.
„Ich möchte Antworten“, sagte ich mit fester Stimme. „Wirst du mir meine Fragen beantworten?“
Als sie nickte, war ich erleichtert. „Die Zeit ist gekommen, stell deine Fragen.“

Es war ein wenig gespenstisch. Der Wind pfiff um das Haus und die Kerzen, die sie aufgestellt hatte, flackerten. Auf den Gesichtern der Frauen wechselten Licht und Schatten.

„Warum bist du so lange bei mir geblieben?“, fragte ich.
„Ich konnte dich nicht allein lassen, denn du hast mich gebraucht.“
Ich lachte. „Gebraucht? Du hast mir so weh getan, immer und immer wieder. Ich habe dich nicht gebraucht.“
„Oh doch, das hast du. Ohne mich wärst du nicht die Frau, die du jetzt bist.“
„Wer wäre ich dann?“
„Ein charakterloser Mensch ohne Gewissen, denn du hättest dich in die falsche Richtung entwickelt.“
Ich krallte meine Zehen in den Teppich. „Wie kommst du auf solche Sachen? Ohne dich wäre ich ein glücklicher unbeschwerter Mensch geworden.“
„Nein, das wärest du nicht. Und weißt du warum?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Weil du es verdrängt hättest, was du durchlebt hast. Vielleicht wärst du jetzt oberflächlich, verletzend oder gar drogenabhängig. Aber das bist du nicht. Du bist stark, manchmal schwach, aber du bist du. Und dass nur, weil ich geblieben bin.“
Ich fing an zu weinen. „Erzähl mir alles, bitte.“
Sie sah mich mit Tränen in den Augen an und nickte.

„Ganz am Anfang, da wollte ich dich schützen. Ich wollte, dass du aufbegehrst und dich wehrst. Aber das ging nicht, denn du warst zu schwach und ihnen nicht gewachsen. Also blieb ich. Irgendwann fing selbst ich an, dich zu bewundern. Wie du ihre Beleidigungen geschluckt hast, war bewundernswert. Sie taten dir weh und du liebtest sie. Schon damals war deine Stärke die Liebe. Sie verlieh dir Herzensgüte.“

„Komm bitte auf den Punkt“, flüsterte ich.
„Hier gibt es kein auf den Punkt kommen. Wenn ich gehen soll, musst du mir zuhören. Ich weiß, dass du ohne mich zerbrochen wärst. Wir beide haben alles geteilt. Das Bett, das Essen, den Tag, die Nacht und den Schmerz. Während du dich in dein Schicksal ergeben hast, wurde mein Zorn immer größer und größer. Du hast alles getragen und ich habe rebelliert. Erst leise, dann immer lauter. Ich habe dich angeschrien, wollte dich wachrütteln, aber du hast nicht zugehört. Dann, irgendwann, habe ich aufgehört zu schreien. Ich sah nur noch zu. Es wirkte, als hätten wir Abstand zueinander genommen, aber dem war nicht so.“
Ich wischte mir die Tränen weg. „Also warst du nie fort?“
„Nein, das war ich nicht. Ich war immer in deiner Nähe. Und so musste ich zusehen, wie die Menschen, die dich beschützen sollten, deine kleine Seele missbrauchten. Jedes böse Wort und jeder Schlag wurden von deinem Körper verschluckt. Selbst als sie dich dahin schickten, wo ER war, der seine Hände nicht von dir lassen konnte, suchtest du immer wieder diesen Ort auf.“
„Es war wegen ihr“, antwortete ich. „Sie liebte mich. Sie kümmerte sich um mich. Bei ihr fühlte ich mich geborgen.“

Sie lachte und starrte mich wütend an. „Das glaubst du? Sie wussten alle, was Sache war, meine Liebe. Es war bekannt, dass er seine dreckigen Hände von nichts und niemand lassen konnte. Aber du warst der Freifahrtsschein für jemanden der Angst hatte sein Zuhause zu verlieren, hätte er dich beschützt. Und tief in dir wusstest du, dass es besser war, den Mund zu halten, weil man dir keinen Glauben schenken würde. Denn dann wäre dein Leid noch schlimmer geworden. Ich war froh, als du anfingst zu vergessen. Du tastest so, als wäre nie etwas geschehen. Und die anderen machten weiter wie gehabt. Erinnerst du dich an den Tag, als du die Nachricht von seinem Tod bekommen hast? Du hast gelacht und auf seiner Beerdigung hast du Späße gemacht. Traurig sieht anders aus. Und zu ihrer Beerdigung bist du erst gar nicht gegangen. Ach Nora, du hast so viele Zeichen gesetzt und keiner hat hingesehen. Die haben nur sich gesehen. Sich und ihren eigenen Hass aufeinander. Du warst ihr Prellbock. Ein Hindernis, welches man so schnell wie möglich loswerden musste. Sage jetzt nichts, denn vor einiger Zeit hast du dich mit einer Schulfreundin unterhalten. Hat sie dir nicht unverblümt gesagt, dass sie dich auch vor ihr schlecht gemacht haben. Immer drauf auf das Mädchen. Lasst es ganz zerbrechen, damit es weiterhin schweigt. Wie konntest du nur so leben. Ohne Liebe und Vertrauen?“

Ich schluckte. „Meine Welt waren die Träume. Ich tauchte hinein und lebte in ihnen.“
„Genau, das war deine Welt. Das hielt dich am Leben. Als du von Zuhause fortgingst, musste ich zurückkommen. Nicht sofort, aber nach ein paar Jahren. Hätte ich das nicht gemacht, wärst du wie deine Peiniger geworden, denn keiner hat dir gesagt, dass das Leben anders ist. Ich habe jede Erinnerung aus deiner Seele gelockt, damit du den Schmerz wieder spürst und habe dich zusammenbrechen lassen. Beschimpfen und bedrohen. Du warst am Boden und standest immer wieder auf. Und wieder war es die Liebe, die dich am Leben hielt. Du gebarst sie drei Mal. Du bist so erfüllt von diesem Gefühl und hast davon abgegeben. Viele Menschen haben davon profitiert. Doch die anderen haben dich nicht losgelassen, da sie allgegenwärtig waren. Doch nicht um alles gut zu machen. Nein, um dich weiterhin am Boden zu halten. Ich habe dich gegeißelt und dir die Luft zum Atmen genommen, aber du hast weiter um ihre Gunst gebuhlt. Als du diesen einen großen Schritt tastest und deine Liebe an die Hand nahmst und fortgingst, war ich erleichtert. Leider gingst du in die falsche Richtung. Auf sie zu, statt fort. Und ich begehrte wieder auf, als das gleiche Spiel von vorne losging. Außerdem merkte ich, dass du auf dem besten Wege warst, wie sie zu werden. Einmal ließ ich dich noch zusammenbrechen. Dieses eine Mal veränderte dein Leben, denn es führte dich zu dem Menschen, der dein bester Freund wurde. Er ging mit dir Schritt für Schritt durch die Vergangenheit und holte dich zurück ins Leben. Deine kleinen Lieben gingen mit dir. Und ich glaube, deinen kleinen Absacker haben sie dir verziehen. Denn was allgegenwärtig war, war immer Liebe. Warst immer du.
„Warum bist du dann noch hier, wenn ich wieder im Leben bin?“
Sie beugte sich vor und sah mich liebevoll an. Den letzten großen Schritt, meine Liebe, den hast du noch nicht getan. Warum um alles in der Welt nimmst du dich nicht so an, wie du bist. Du hast ihnen noch eine Chance gegeben und sie haben es vergeigt. Du bist wunderbar. Wunderbar verletzlich. Wunderbar liebevoll. Wunderbar mitfühlend. Wunderbar, wenn du wütend bist und unglaublich gütig. Schließe das Kapitel und richte dein Augenmerk auf dich und deine wundervolle Familie. Lass los, was dir wehtut. Schicke sie fort. Auf der einen Seite ist dir egal, was andere Menschen von dir denken und da nicht? Nora, sie haben in deinem Schatten gestanden, nicht du in ihrem. In deinen Gedanken bist du die Kellertreppe hinunter gegangen. Du hattest eine Tasse Kaffee in der Hand, die du ihm bringen solltest, aber du trautest dich nicht. Dein Herz klopfte bis zum Hals, so eine Angst hattest du. Aber weil du solltest, bist du Stufe für Stufe nach unten gegangen. Und jetzt sage ich dir, was du gesehen hast. Du sahst eine Frau, die dir sehr nahestand und ihn. Du blicktest in ihre entsetzten Gesichter und hörtest ihre Drohungen, falls du jemanden davon erzählen würdest. Und plötzlich standest du allein in der Dunkelheit. Das war die letzte Erinnerung, die dir noch fehlte.“

Ich zitterte am ganzen Körper. „Nein, sie fehlte mir nicht. Ich wusste es.“
„Das weiß ich“, antwortete sie und stand auf. „Du wolltest es nur nicht wahrhaben.“
„Verlässt du mich jetzt?“
„Ja, jetzt werde ich dich verlassen. Manchmal werde ich vorbeischauen, versprochen. Höre immer auf dein Herz, Nora, dann kann nichts schief gehen.“
Wir gingen aufeinander zu und legten die Handflächen aneinander.
„Gute Reise“, hauchte ich. „Und danke, dass du mich zu dem gemacht hast, was ich jetzt bin.“
Wir lächelten uns an und gingen zur Tür. Jede zu ihrer. Bevor ich das Zimmer verließ, drehte ich mich noch einmal um und schaute in den großen Spiegel, vor und indem, jeweils ein Stuhl stand. Auch Sie drehte sich noch einmal um und schloss dann, so wie ich, die Tür. Die Angst war gegangen. Ich war frei.

 

©Monika Litschko

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.10.2020. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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