Doris Fischer

Leere Tage

Ich bin nun seit über sieben Monaten im Ruhestand und jeden Tag auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, die mein bisheriges aktives und abwechslungsreiches Leben ersetzen soll. Morgens beim Aufwachen überfällt mich als erstes eine unendliche Traurigkeit über den Verlust meines „alten Lebens“, in dem ich mich bestätigt fühlte durch die beruflichen Aufgaben, die ich über alles liebte und durch meine Hobbies. Ich liebte das Orgel spielen, ich liebte das Klavier spielen, ich liebte meinen Sport. Mein ganzes Leben machte mir Freude und gab mir große Zufriedenheit. Dadurch konnte ich die täglichen Probleme mit der Familie viel besser ertragen und verarbeiten.

Freude und Zufriedenheit jedoch sind mir durch mein „ neues Leben“ abhanden gekommen und ich habe alles verloren, was mir etwas bedeutet hat. Seit Monaten befinde ich mich in einem Schwebezustand. Ich bin noch nicht dort angekommen, wo ich ankommen sollte - in meinen Rentnerleben. Die Tage verrinnen, ereignislos, freudlos, leer. Meine Lebenszeit nimmt rasend schnell ab und meine Enttäuschungen nehmen von Tag zu Tag zu.

Was ist mir noch geblieben?

Nichts – außer Leere und Einsamkeit! Immer wieder versuche ich mich selbst zu motivieren, dass dieser Ruhestand eine erfüllende Zeit ist, dass ich meine Hobbies ausüben kann, dass ich mich sozial engagieren sollte, dass ich anderen Menschen meine Zeit schenken sollte.
Ja, genau das mache ich ja eigentlich jeden Tag. Ich schenke anderen Menschen meine Zeit. Ich kümmere mich um meinen hochbetagten Schwiegervater und unterstütze ihn in seinem Alltag. Ich bin für meine Tochter da, wenn sie Probleme und Fragen hat. Für meinen Mann bin ich stets eine geduldige Zuhörerin und berate ihn in allen Situationen des täglichen Lebens. Ich engagiere mich für einen kirchlichen Besuchsdienst und für die musikalische Gestaltung der Gottesdienste. Das sind Aufgaben, die eigentlich mein Leben im Ruhestand bereichern könnten, aber sie genügen mir nicht. Sie sind kein adäquater Ersatz für mein Berufsleben. Sie geben mir nicht das, was ich mir erhofft habe. Ich bin eben immer nur auf Leistung programmiert. Mein ganzes Leben lang ging es mir immer nur um „Leistung“. Ich vermisse die geistige Herausforderung, die Bestätigung durch andere Menschen, das kollegiale Miteinander. Das alles fehlt mir so sehr, dass es mir seelische Schmerzen bereitet.

Was soll ich tun? Alles ertragen? Mich dagegen auflehnen? Etwas ändern? Immer auf der Suche sein? Was suche ich denn eigentlich?

Ich möchte einfach nur mein „altes Leben“ zurück.

Ist das so schwer zu verstehen?

Jeden Tag aber höre ich, dass ich mein altes Leben nicht mehr zurückbekomme.

Nein? Wirklich nicht?

Viele gute Ratschläge, die mich nicht weiter bringen. Ich soll mein „neues Leben“ einfach annehmen und nicht dagegen ankämpfen. Weil ich diesen Kampf auf jeden Fall verlieren werde, sagen sie, die es angeblich nur gut mit mir meinen. Aber sie verstehen mich nicht. Denn sie haben ja ihre ausfüllenden Aufgaben, ihren Beruf, ihre sozialen Kontakte, ihre Bestätigung, ihre geistige Bereicherung. Sie alle haben gut reden.

Vielleicht mache ich ja einen gravierenden Fehler und definiere mein ganzes Glück in meinem Leben ausschließlich über die Arbeit, über den beruflichen Erfolg, über die geistige Bestätigung. Vielleicht sollte ich lernen, ohne dies alles auszukommen und doch glücklich sein zu können. Vielleicht sollte ich in meinem neuen Lebensabschnitt mit den kleinen Dingen des täglichen Lebens zufrieden sein und begreifen, dass die großen Dinge nun vorbei sind. Vielleicht sollte ich mich darüber freuen, dass ich die „großen wichtigen Dinge“ in meinem früheren Leben überhaupt erfahren durfte. Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass ich in meinem fortgeschrittenen Alter noch so fit und gesund sein darf. Vielleicht sollte ich die Freiheit nutzen, die mir mein „neues Leben“ geschenkt hat, ohne Termine und Verpflichtungen leben zu können. Vielleicht sollte ich lernen, im Hier und Jetzt zu leben und mich freuen, jeden Tag meine Zeit frei und spontan gestalten zu können. Vielleicht sollte ich diese Aufgabe so schnell wie möglich angehen, bevor es irgendwann zu spät ist. Ich wünsche mir, dass ich die Kraft und Motivation dazu habe. Damit ich dann doch noch irgendwann sagen kann, mein „neues Leben“ war gut, intensiv, glücklich, voller Freude und Zufriedenheit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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