Tarokan Nor

Der Urlaub

Mein Vater hatte mir versprochen, dass es ein herrlicher Urlaub werden würde. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich glaubte, dass er mir etwas vormachen könnte. Ich weiß nicht, was er sich vorstellt, wie viel ich mitbekomme. Ich habe den Eindruck, dass ich für ihn immer noch ein winzig kleines Kerlchen bin und dass er mir alle schlechten Dinge vorenthalten kann, wenn er sie mir nur nicht erklärt. Aber ich bin kein winzig kleines Kerlchen mehr. Naja, klein bin ich schon, zumindest für mein Alter. Aber trotzdem schon elf.
Mein Vater jedenfalls erzählte mir von dem Urlaub, den er geplant hatte, und obwohl er wirklich gut darin war, begeistert zu wirken, hab ich es ihm nicht abgenommen. Und als wir dann nach etwas mehr als drei Stunden aus dem Flugzeug stiegen und aus dem Flughafen hinaus in den trübfeuchten Abend traten, als wir mit einem übel riechenden Bus zum Hotel gefahren waren und schließlich müde in dem kleinen Kämmerchen saßen, gab mein Vater auf mit seinen Versuchen, mich zum Lachen zu bringen. Ich wollte wirklich, wollte wenigstens lächeln, damit er sich vielleicht ein bisschen besser fühlte, aber ich konnte es nicht. Mir war nur zum Heulen zumute.
„Das Meer ist nur zwei Kilometer entfernt“, sagte mein Vater, während wir nebeneinander im Badezimmerchen standen und uns bettfertig machten. „Das wird herrlich, glaub mir.“
Ich nickte. Zwei Kilometer vom Strand entfernt! Bei unserem letzten Urlaub in Portugal hatte unser Hotel ein eigenes Stück Meer gehabt. Aber das konnten wir uns jetzt nicht mehr leisten, nachdem der Unfall und die Beerdigung alle Ersparnisse aufgefressen hatten. Aufgefressen – das war irgendwie zum neuen Lieblingswort meines Vaters geworden. Die Ersparnisse – aufgefressen, seine Arbeit – aufgefressen, weil er unter keinen Umständen mehr als Rettungssanitäter arbeiten konnte. Das hatte er nicht mir erzählt, sondern seinem besten Freund, am Telefon. Er hat, glaube ich, seitdem nicht mehr mit ihl telefoniert. Aber jedenfalls hätte er mir so etwas niemals gesagt. Er sagte mir fast überhaupt nichts. Glaubte er denn, dass ich das nicht verkraften kann? Oder dass ich es nicht verstehe?
Einmal habe ich ihn sogar murmeln gehört, Mama wäre aufgefressen worden. Und ich glaube, er weiß, dass ich es gehört habe.
„Bis morgen hat es bestimmt auch aufgehört zu regnen“, fuhr mein Vater fort, während er Zahnpasta auf seine Bürste drückte. „Es soll heiß werden, morgen.“
Ich nickte wieder, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen. Desto mehr mein Vater redete, desto weniger redete ich. Und er redet sehr viel seit dem Unfall, immer nur belangloses Zeug natürlich, aber es scheint ihn abzulenken. Deswegen störe ich ihn dabei auch nie.
„Das erinnert mich an meinen allerersten Urlaub ohne meine Eltern, da war ich praktisch nur ein paar Jahre älter als du“, sagte mein Vater. „Da war ich in einem Zimmer untergebracht, in dem konnte man sich praktisch nicht bewegen. Man hat die Tür aufgemacht, ist direkt nach vorne ins Bett gefallen, und morgens konnte man dann rückwärts wieder aufstehen.“ Er lachte leise. „Aber es war ein schöner Urlaub. Bulgarien war das, Bulgarien. Der Goldstrand, der Goldstrand.“ Er schüttelte den Kopf und steckte sich endlich die Zahnbürste in den Mund.
Ich war schon fertig und ging wieder ins andere Zimmer, wo ich mich auf eines der quietschenden Betten legte, die aussahen wie die Krankenhausbetten in alten Filmen. Es war sehr schmal und hatte nur eine dünne, etwas staubige Decke, aber es war so schwül, dass ich mich sowieso nicht zudecken wollte.
Ich wollte einschlafen, bevor mein Vater aus dem Bad kam, aber das ging nicht, obwohl ich sehr müde war; draußen konnte man Autos über die Straße rauschen hören, und ständig hupte jemand, viel öfter, als ich das gewohnt war. Als mein Vater dann zu mir trat, brachte ich es auch nicht fertig, mich schlafend zu stellen. Er setzte sich auf die Bettkannte und strich mit ein wenig durchs Haar. Das machte er jetzt jeden Abend. Oder eigentlich hat er es schon immer gemacht.
Lange Zeit sagte er nichts. Draußen war es schon dunkel, aber ich vermutete, dass durch das kleine Fenster direkt unter der Decke selbst mittags nicht sehr viel Sonnenschein kam. Die kleine Lampe verbreitete auch nicht sehr viel Licht.
„Bist du müde?“, fragte mein Vater endlich.
Ich nickte.
„Sag doch was.“ Er wandte nicht den Blick von mir.
Ich schluckte und räusperte mich. „Ja, ich bin müde“, meinte ich dann.
„Okay.“ Mein Vater stand aber nicht auf, sondern schaute mich wieder an. Seine Hand fuhr immer noch über meinen Kopf. „Wir sollten mal wieder deine Haare schneiden.“
Seine Stimme zitterte, als er das sagte. Mama hatte immer unsere Haare geschnitten. Das hatte sie gut gekonnt, weil sie direkt nach der Schule ein paar Jahre lang im Friseursalon gearbeitet hatte. Meine Haare hatten schon fast meine Augen erreicht.
„Ja, wirklich“, sagte ich.
Mein Vater nickte. „Dann lass ich dich mal schlafen.“
Er stand auf, machte das Licht aus und legte sich in das andere Bett, das direkt neben meinem stand, weil sonst kein Platz im Zimmer war. Eine Weile lang wälzte er sich umher, bis er endlich stillhielt. Ich hatte die Augen geschlossen, aber nun machte ich sie wieder auf und bemerkte, dass mein Vater mich anschaute. Draußen fuhren noch immer viele Autos; noch immer wurde gehupt.
Es verging sicherlich eine Stunde. Es regnete jetzt ein wenig; in der Ferne grollte Donner. Trotzdem war es warm und ich schwitzte. Am Atem meines Vaters konnte ich hören, dass er genauso wenig schlief wie ich. Irgendwann, so plötzlich, dass ich zusammenzuckte, drehte er sich dann von mir weg.
Ich blieb still liegen und starrte im düsteren Licht an die Decke. Ich glaube, dass mein Vater geweint hat, aber wenn, dann war er sehr leise dabei.

Am nächsten Morgen waren immer noch Wolken am Himmel, aber es war nicht mehr ganz so schwül und tatsächlich ziemlich heiß. Mein Vater war vor mir aufgestanden und hatte beim Bäcker direkt neben dem Hotel zwei Croissants gekauft, die wir auf den Betten sitzend aßen. Dann packte er all unsere Badesachen in den Rucksack und wir wanderten los. Da fand ich es gar nicht mehr schlimm, dass wir so weit weg waren vom Strand; der Weg dorthin war sehr interessant. Wir kamen über einen Markt, wo auch am frühen Morgen schon viel geschrien wurde, vorbei an kleinen Läden, deren Besitzer uns in ihre Räumlichkeiten zerren wollten, und auch vorbei an großen, einladenden Hotels. Außerdem begegneten wir mehreren Stadtmusikanten. In Portugal hatte mein Vater diesen Leuten immer ein wenig Geld in ihre Hüte geworfen; das tat er jetzt nicht mehr.
Bis wir am Meer ankamen, hatten sich die letzten Wolken verzogen und die Sonne stand strahlend am blauen Himmel.
„Na siehst du“, sagte mein Vater und lachte. „Ich habs dir doch gestern gesagt.“
Ich konnte auch ein wenig lächeln.
Der Strand war sehr voll, vor allem die schattigen Orte. Aber wir fanden ein kleines Plätzchen in der Nähe des Wassers, wo wir unsere Handtücher hinlegen konnten. Der Sand war ziemlich grobkörnig und voller Steine, ganz anders als derjenige in Portugal.
Mein Vater cremte mich ein und ich cremte ihn ein. Dann fing er an, mir vorzulesen. Er las mir sehr gerne vor, glaube ich, und deswegen habe ich nie dagegen protestiert, obwohl ich eigentlich schon viel zu alt dafür war. Vor allem in der letzten Zeit hatte er mir sehr viel vorgelesen, aber das war in Ordnung. Es lenkte ihn ähnlich ab wie das Reden, und es lenkte auch mich ein wenig ab. Und außerdem glaube ich, dass das Vorlesen für ihne eine gute Ausrede war, Bücher zu lesen, die er eigentlich gar nicht mehr lesen durfte.
Nachdem wir mit einem Kapitel durch war, sagte mein Vater: „Geh ruhig ins Wasser, ich bleibe hier und passe auf unsere Sachen auf. Aber geh nicht zu tief rein! Ich lasse dich nicht aus den Augen.“
Ich hatte nicht daran gedacht, dass wir unsere Sachen nicht allein lassen konnten. In Portugal waren unsere Sachen einfach im Hotelzimmer geblieben, weil wir ja zum Strand nur ein paar Meter hatten laufen müssen. Sowieso hatte es dort viel weniger Menschen gegeben, und Leute, die aufpassten, obendrein. Ich war also ein wenig enttäuscht, aber damit mein Vater nicht dachte, wir wären umsonst ans Meer gegangen, stand ich auf und lief durch die Menge zum Wasser. Es war noch ziemlich kalt, vielleicht wegen des Wetters gestern, und dunkelgrau wie eine Straße. Ich drehte mich um und sah meinen Vater, der auf die Ellbogen gestützt dalag und mir winkte. Ich winkte kurz zurück, bevor ich tiefer ins Meer ging. Schon nach ein paar Metern konnte man nicht mehr stehen, deswegen drängten sich die meisten Leute ganz nah am Ufer. Ich fragte mich, ob mein Vater mich in dem Gewühl wirklich noch sehen konnte, aber ich wollte nicht gleich wieder umkehren. Eine Weile lang stand ich da und versuchte, niemandem im Weg zu sein. Ein Mann, der tauchte, stieß gegen mich und warf mich um. Ich schluckte Salzwasser und hustete, während der Kerl mich wütend anmaulte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Dann verschwand er wieder unter Wasser und tauchte Wasser. Da hatte ich genug und ging wieder an Land. Ich brauchte etwa eine Minute, um meinen Vater zu erspähen, und in dieser Minute rutschte mir das Herz ungefähr bis zu den Knien; aber als ich ihn dann entdeckte, sah ich, dass er mich genau im Blick hatte und sogar aufgestanden war.
Ich ging zu ihm und begann, mich abzutrocknen.
„Und, ist das Wasser gut?“, fragte er. Ich konnte an seiner Stimme hören, dass er keine Hoffnung auf eine enthusiastische Antwort hatte. Aber was sollte ich den machen? Er hätte mir doch sowieso nicht geglaubt, wenn ich getan hätte, als wäre ich begeistert.
Wie blieben noch eine Weile liegen, bis mein Vater sagte, nun wollten wir in die Stadt gehen und uns ein leckeres Mittagessen suchen. Also packten wir wieder und verließen die Menschenmenge. Inzwischen war es später Vormittag und auch in den Straßen war es sehr voll. Aber das war nicht so schlimm; in den schmalen Gassen spendeten die Hauswände Schatten, und wir betrachteten die vielen verschiedenen Dinge in den unzähligen kleinen Läden, an denen wir vorbeikamen. Immer versuchten die Besitzer, und hineinzudrängen; ein Mann war so aufdringlich und redete dabei Zeug, dass wir nicht verstanden, dass mein Vater ihn schließlich wütend anfuhr, er solle uns in Ruhe lassen. Vermutlich verstand der Kerl uns genauso wenig wie wir ihn, aber er verschwand trotzdem in seinem Laden.
Wir kauften uns in einem Laden zwei belegte Brötchen und eine Flasche Wasser, weil das, was wir aus dem Wasserhahn des Hotels mitgenommen hatten, schon leer war. Dann setzten wir uns auf einem großen, runden Platz an den Rand des Brunnens und aßen, während wir die Leute beobachteten.
„Schau mal, die Dame dort“, sagte mein Vater kauend und deutete unauffällig in Richtung einer alten, winzigen Frau, die mit einem Stock nach einem Mann schlug, der ununterbrochen händeringend auf sie einredete und dabei beständig ihren Hieben auswich. Die Frau zeterte und keifte, dass es trotz des Geschreis überall auf dem ganzen Platz gehört werden konnte. Trotzdem schien sich niemand um die beiden zu kümmern.
„Vielleicht ist es ja ihr Sohn“, murmelte mein Vater. „Meine Güte, die sieht aus, als wollte sie ihn auffressen.“
Ich nickte. Wir beobachteten das seltsame Paar noch ein Weilchen, bis die Alte den Mann schließlich davon trieb.
Mein Vater schaute mich an. Ich schaute zurück und wir grinsten.
Als wir fertig gegessen hatten, schlenderten wir weiter durch die Stadt. Es gab ein paar Sehenswürdigkeiten, die wir anschauten und über die mir mein Vater ein wenig aus dem Reiseführer vorlas, den er zuhause gekauft hatte. Dann kaufte er mir in einem Laden einen großen Stohhut. Er handelte mit dem Verkäufer um den Preis und ließ sich auf einen harten Kampf ein, vielleicht nur, um mich zu unterhalten. Am Ende zahlte er nicht mal die Hälfte von dem, was sein Gegner verlangt hatte; der Verkäufer schien trotzdem zufrieden.
„Die machen das hier so“, erklärte mein Vater und setzte mir den Hut auf. „Die verlangen einfach das Doppelte von dem, was sie eigentlich wollen, und am Ende denkt der blöde Tourist dann, er hätte einen guten Deal gemacht.“ Er lachte.
Es war ein guter Tag. Am Abend fragte mein Vater mich, was ich essen wollte, aber wir hatten beide gar keinen Hunger. Wir tranken nur viel aus dem Wasserhahn. Als es draußen dunkel wurde, setzten wir uns nebeneinander auf mein Bett und mein Vater wollte mir vorlesen, aber ich schüttelte den Kopf.
„Ich lese vor“, sagte ich.
Mein Vater zögerte, aber dann gab er mir das Buch.
Es war gut, zu lesen. Eine Möglichkeit, viel zu sprechen, ohne dass man selber eigentlich etwas sagt. Ich las und las, auch als mein Vater eingeschlafen war und leise schnarchte. Ich las einfach weiter vor, bis ich so müde wurde, dass ich meine Zunge nicht mehr bewegen konnte. Ich schaute auf die Armbanduhr meines Vaters und sah, dass es schon fast Mitternacht war. Also knipste ich das Licht aus, lehnte mich gegen meinen Vater und fühlte nach seinem Herzschlag und nach seinem Atem. Und draußen hörte ich wieder die Autos hupen.
Ich glaube, dass mein Vater irgendwann nochmal aufgewacht ist. Jedenfalls legte er irgendwann den Arm um mich und drückte mich fest. Danach schlief ich ein, aber ich bin noch einmal aufgewacht. Mein Vater hatte mich geweckt, dann er murmelte leise vor sich hin. Aber ich konnte nichts verstehen.
Am nächsten Morgen hatte mein Vater schon alles vorbereitet, als ich aufwachte.
„Rüste dich, junger Mann!“, rief er, als ich mir blinzelnd die Augen rieb. „Heut geht’s in die andere Richtung.“
Ich wusste zuerst nicht, was er damit meinte, aber er erklärte mir, dass wir heute in die nahen Berge gehen würden. Dazu fuhren wir erst einmal mit dem Bus aus der Stadt heraus. Der Bus war sehr voll und außerdem klebte er überall. Aber als wir ausstiegen, mussten wir nur noch ein paar hundert Meter weit laufen und waren in der freien Natur. Hier war fast gar niemand unterwegs. Ich trug meinen neuen Strohhut, der mich gegen die Sonne schützte, aber mein Vater bestand darauf, dass ich mich trotzdem eincremte. Danach marschierten wir los. Es gab nur rotes Geröll und ein paar dornige, runde Büsche. Irgendwann konnten wir über die Stadt hinweg bis zum Meer blicken, aber mein Vater sagte, er wolle noch höher hinauf. Manchmal mussten wir geradezu klettern; mein Vater war dann immer dicht unter mir.
„Du bist der bessere Kletterer, du musst mir zeigen, wo ich greifen muss“, sagte er und zwinkterte mir zu. Ich nickte und zwinkerte zurück. Was schien ihn ziemlich glücklich zu machen.
Schließlich ging es nicht mehr höher, weil sich eine senkrechte Wand vor uns erhob. Also machten wir Rast, aßen unseren Proviant und genossen die Aussicht.
„Ist das nicht wunderschön?“, murmelte mein Vater und legte einen Arm um meine Schulter.
„Großartig“, antwortete ich. Ein paar Tränen kamen mir aus den Augen, aber mein Vater starrte nur zum Meer und sah es nicht, zumal mich ja die Krempe meines Huts schützte.
Der Rückweg war gar nicht so leicht zu finden. Wir konnten nicht einfach so zurück, wie wir hergekommen waren, weil man nicht überall runterklettern konnte, wo man hochklettern konnte. Aber mein Vater sagte, solange es nur bergab ging, sei es schon richtig. Wir liefen und liefen und schlängelten und langsam nach unten. Das Meer verschwand hinter der Stadt, und endlich erreichten wir den Fuß des Berges, als die Dunkelheit bereits angebrochen war. Dann mussten wir an der Bushaltestelle eine Dreiviertelstunde warten. Es wurde kalt, aber im Rucksack hatte mein Vater seinen Pullover dabei, den er mir gab. Endlich, es war schon gegen elf, kam der Bus mit ordentlicher Verspätung. Er war leer bis auf den Busfahrer, und mein Vater sagte, wir könnten nun also hinten in der Viererreihe sitzen. Das taten wir auch, und ich durfte meinen Vater als Kopfkissen benutzen. Er fuhr mir wieder einmal durch die Haare und murmelte vor sich hin. Ich konnte nicht einschlafen, weil die Fahrt sehr unruhig war. Die Lichter des Busses flackerten; hinter den Scheiben war es praktisch schwarz.
Als wir endlich unsere Haltestelle erreicht hatten, schaffte ich kaum den Weg zurück ins Hotel. Mein Vater trug mich die Treppe zu unserem Zimmer hinauf. Nun waren wir beide so erschöpft, dass wir sofort einschliefen und nicht einmal ins Bad gingen. Aber mitten in der Nacht fuhr ich hoch, weil direkt nebenan lauter Geschrei ausgebrochen war. Auch mein Vater wachte auf. Ein paar Minuten lang hörten wir uns das Gepolter und Gebrüll an, dann schlug mein Vater mit der Faust gegen die Wand. „Ruhe!“, schrie er dabei.
Dann wurde es still. Aber als er mich schon angrinste, ging auf dem Flur eine Tür auf und mehrere Leute fanden sich vor unserer Tür ein. Sie hämmerten dagegen und brüllten uns an. Ich verstand kein Wort, aber das war ja auch gar nicht nötig. Mein Vater umklammerte mich und schien ziemlich Angst zu haben. Die Tür wackelte auch schon ziemlich, als draußen eine neue Stimme auftauchte, die lauter schrie als alle anderen. Da wurde es endlich ruhig, die Störenfriede murrten und knurrten und zogen sich zurück. Jemand klopfte vorsichtig an unsere Tür: es war der Hoteldirektor, der uns in seinem gebrochenen Deutsch fragte, ob alles in Ordnung sei.
„Das würde ich so nicht sagen“, erwiderte mein Vater, ohne auch nur vom Bett aufzustehen.
Da ging der Hoteldirektor wortlos weg. Mein Vater grummelte ein bisschen, aber am nächsten Morgen schenkte der Kerl uns zwei Tickets für eine Piratenschifftour. Mein Vater strahlte. „Na siehst du, man muss immer das Gute sehen“, sagte er. „Wir sind fast aufgefressen worden – aber es hat sich gelohnt, oder nicht?“
Ich nickte und lächelte. Wir deckten uns beim Bäcker nebenan mit ein wenig Proviant ein und marschierten zum Strand, wo die Piratenschifftour ging. Das Schiff war zugegebenermaßen nicht übermäßig groß, aber trotzdem war es ein richtiges Segelschiff, und noch dazu waren kaum andere Leute dabei. Wir fuhren übers Meer, ander Küste entlang, und ein Kerl in Piratenkostüm und mit Flipflops redete irgendetwas, was ich wieder einmal nicht verstand. Aber mein Vater übersetzte es mir – obwohl er ja selber keine Ahnung hatte, was der Kerl redete.
„Das stinkt hier so fürchterlich nach Fisch!“, flüsterte er mir zu, als der Pirat eine Faust zum Himmel hob und etwas rief. „Mama kann einfach nicht kochen.“ Und als der Seeräuber dann mit dem Fuß auf den Boden stampfte und mit furchterregender Miene etwas knurrte, übersetzte mein Vater: „Was machst du da unten, Mami? Hast du wieder vergessen, meine Socken aus dem Kochtopg zu nehmen?
So machte er immer weiter, aber irgendwann warf der Pirat ihm einen ganz scheußlichen Blick zu und knurrte: „Sehr komisch.“ Mein Vater starrte ihn verblüfft an, dann schwieg er. Aber als der Seeräuber sich wieder von uns abwandte, begann mein Vater zu kichern. Und ich kicherte mit ihm.
Nach der wilden Piratenfahrt wanderten wir oberhalb des Strandes entlang auf der Suche nach einer Stelle, die nicht ganz so überschwemmt von Leuten war, und fanden schließlich auch eine. Es gab da keinen Sand, sondern große Felsen, aber das störte uns kein bisschen. Nur wenig andere Badegäste hatten sich hier niedergelassen, von denen wir uns aber leicht fernhalten konnten; wir versteckten unsere Sachen zwischen zwei Steinen und konnten nun gemeinsam ins Wasser gehen.
Das war das erste Mal seit langem, dass ich wieder lachte. Und mein Vater freute sich so sehr darüber, dass er ein bisschen weinte. Wir bleiben eine ganze Weile im Wasser und schwammen sogar ein gutes Stück hinaus, wo es sehr tief war. Mein Vater zeigte mir, wie man sich im Wasser auf den Rücken legte, ohne unterzugehen, und ich schaffte es ziemlich gut.
Später lagen wir noch eine ganze Weile am Stand.
„Weißt du was?“, sagte mein Vater. „Da hinten hinterm Meer geht später die Sonne unter. Was meinst du, sollen wir uns das von hier ansehen?“
„Ja“, sagte ich.
Mein Vater las ein bisschen vor, aber er fing an einer Stelle an, die ich ihm schon vorgelesen hatte – nur hatte er da geschlafen. Ich sagte aber nichts, und nun war ich bald selber eingeschlafen. Als ich wieder aufwachte, war es bereits früher Abend.
„Lass uns noch etwas in der Stadt essen“, schlug mein Vater vor. „Und dann setzen wir uns hier ganz gemütlich hin. Und morgen früh geht es wieder nach Hause. Okay?“
„Okay“, sagte ich leise.
Wir gingen in die Stadt, die um diese Zeit am überfülltesten schien. Mein Vater nahm mich bei der Hand und drückte sich durch das Gewimmel. Direkt vor uns brach eine Prügelei aus; ehe wir uns versahen, waren wir mittendring. Irgendjemand wollte meinen Vater angreifen; er wehrte sich mit Händen und Füßen. Ehe ich mich versah, war er in der schreienden und kämpfenden Menge verschwunden.
„Papa!“, schrie ich, aber ich konnte keine Antwort ausmachen. Alle um mich herum waren wütend, aber sie schienen sich alle darin einig zu sein, dass ich nicht schuld sein konnte, und ließen mich in Ruhe. Ich schlüpfte mit wild pochendem Herzen zwischen den Leuten hindurch, bis ich den Radau hinter mit gelassen hatte. All die engen Gassen waren überfüllt mit schwitzenden Körpern; ich konnte meinen Vater unmöglich ausmachen.
Die Prügelei beruhigte sich endlich, nachdem ein paar Polizisten aufgetaucht waren. Aber die Menge blieb. Ich kletterte auf ein niedriges Sims, aber sofort schrie mich jemand an. Obwohl ich nichts verstand, machte ich natürlich, dass ich davonkam.
Endlich wusste ich, dass ich meinen Vater so nicht finden würde. Es gab also nur eines; zurück zum Strand, wo wir den Sonnenuntergang beobachten wollten. Oder doch zum Hotel?
Aber ich wusste ganz sicher, dass ich das Hotel nicht finden würde. Den Strand dagegen schon, es war nicht weit. Also ging ich los, arbeitete mich durch die Meute, bis es ruhiger wurde. Mein Magen knurrte und ich hatte schlimmen Durst, als ich endlich die Felsen erreichte. Die Sonne stand schon nah über dem Horizont; von meinem Vater war nichts zu sehen. Es war totenstill hier.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.07.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Die Autorin versteht es, mit Worten Stimmungsbilder zu malen und den Leser an der eigenen Begeisterung am Land zwischen Meer und Bodden teilhaben zu lassen. In ihren mit liebevoller Hand niedergeschriebenen Gedichten und Geschichten kommen auch Ahrenshooper Impressionen nicht zu kurz. Bereits nach wenigen Seiten glaubt man, den kühlen Seewind selbst wahrzunehmen, das Rauschen der Wellen zu hören, Salzkristalle auf der Zunge zu schmecken und den feuchten Sand unter den Füßen zu spüren. Visuell laden auch die Fotografien der Autorin zu einer Fantasiereise ein, wecken Sehnsucht nach einem Urlaub am Meer oder lassen voller Wehmut an vergangene Urlaubstage zurückdenken.

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