Steffen Herrmann

Der russische Standpunkt

Als letzten Februar der Ukrainekrieg losbrach, war ich genauso schockiert wie viele andere auch. Ich hatte ein sehr, sehr ungutes Gefühl in Bezug auf das, was der Welt bevorstand.

Mein erster Gedanke war: am besten, gar nicht erst kämpfen und den Russen den Sieg lassen. Dann gibt es wenigstens keine Tote oder nur wenige. Allerdings war dieser Gedanke nicht besonders haltbar. Moment mal, dachte ich dann: Diese Idee spielt ja Aggressoren direkt in die Hände. Bei einer solchen Wehrlosigkeit geht das dann immer weiter, es ermutigt ja geradezu den imperialen Expansionskurs.

 

Ich wurde dann in meinen Gedanken zum entschiedenen Unterstützer der ukrainischen Seite: Totale Wirtschaftssanktionen, totale Waffenlieferungen! Wobei ich vor mir selbst einräumen musste, dass das mit den Wirtschaftssanktionen so eine Sache ist. Sie erreichen ihr Ziel nicht. Sie treffen die Zivilbevölkerung, nicht das Regime. Mir ist kein Fall bekannt, wo durch Wirtschaftssanktionen ein Regime gestürzt oder demokratischer geworden wäre. Im Gegenteil, die sanktionierten Staaten werden diktatorischer, im Zweifelsfall werden strauchelnde Unternehmen verstaatlicht. Letztlich werden die Länder geschwächt, die Regimes hingegen gestärkt.

 

Ich ging davon aus, dass der Ukrainekrieg in der russischen Bevölkerung extrem unbeliebt sein musste. Ich war dann verwundert, dass das wohl nicht so war. Gewiss, es gab keine Begeisterung wie beim Anschluss der Krim, doch es schien auch keine Empörung, kein Entsetzen zu geben.

Im Gegensatz zu vielen anderen halte ich die Russen nicht für gehirngewaschene Lemminge, die unter der Dauerberieselung der Putinschen Propaganda jede Fähigkeit zu eigenständigen Urteilen verloren haben. Nein, die Russen können denken wie alle anderen auch und sie verdienen es, dass man sich mit ihrem Standpunkt auseinandersetzt.

Ausserdem meldete sich bei mir die Dialektik zu Wort. Hier lag anscheinend Recht und Unrecht so klar auf dem Tisch, der Fall war so eindeutig in Schwarz und Weiss gezeichnet, dass es einem geradezu die Sprache verschlug. 

Diese Eindeutigkeit des Standpunktes, so lehrt Hegel, ist seine Einseitigkeit und dabei ein Moment im dialektischen Prozess. Die Bewegung des Begriffs führt zur Überwindung dieser Einseitigkeit, indem zu seiner Antithese übergegangen werden muss und schliesslich die beiden entgegengesetzten Momente in einer Synthese zu einer höheren Einheit gebracht werden.

 

Ich zog also den Schluss, dass mir wichtige Informationen fehlten. Das verbreitete Narrativ, dass Putin als russischer Diktator in imperialem Grössenwahn und seinem Phantomschmerz wegen des Auseinanderfallens der Sowjetunion nun das ehemalige Reich wiederherstellen wollte, schien mir unbefriedigend.

Zunächst störte mich die Personalisierung: Putin, der neue Hitler. Personalisierungen führen fast unausweichlich zu einer Verflachung der Analyse, weil damit der Zufälligkeit von Einzelpersonen die Verantwortung für den Verlauf von weltgeschichtlichen Prozessen zugeschrieben wird. Tatsächlich sind es die Apparate der Macht, die jeweils die passenden Personen finden, um die anstehenden Entwicklungen voranzutreiben.

Es geht also um den russischen Standpunkt. Wie lässt sich dieser beschreiben?

 

Zunächst geht es um zwei Prämissen.

Die erste besagt, dass die Vereinigten Staaten eine Weltmacht des Unfriedens sind. Das folgt aus der Existenz des militärisch-industriellen-Komplexes (MIK) der USA. Dieser wird jährlich mit Hunderten von Milliarden Dollar gefüttert und hat sich zu einem gewaltigen Machtfaktor entwickelt. Der MIK ist nicht an einer friedlichen Welt interessiert, denn in einer Atmosphäre der globalen Entspannung würde er seinen Einfluss und letztlich seine ökonomische Grundlage verlieren (Wir sehen ja, was mit der Bundeswehr passiert ist, als Europa seine Feinde verloren hat).

Der MIK mit seinen verzweigten Einflussmöglichkeiten sorgt also dafür, dass dem Westen die Feinde nicht ausgehen, dass also immer ein Szenario der Bedrohung aufrechterhalten wird, dass Kriege als ein notwendiges Übel verkauft werden können, letztlich als eine gute Sache. Dass Kriege sich lohnen.

 

Die zweite Prämisse besagt, dass wir uns in einer Epoche befinden, wo die fünfhundert­jährige Dominanz des Westens sich ihrem Ende entgegenneigt. Der rasche Aufstieg Asiens mit seinen vier Milliarden Menschen macht diesen Verlust der Dominanz unausweichlich.

Dieser Prozess ist insbesondere für die USA, die sich eben noch am ‘Ende der Geschichte’ berauschen konnten, sehr schwer zu akzeptieren. Die angeschlagene Weltmacht ist nun dabei, ihren Status als dominierender Hegemon mit allen damit verbundenen Privilegien zu verlieren. Dagegen stemmen sie sich mit aller Kraft.

Das Wichtigste, was es aus amerikanischer Sicht zu vermeiden gilt, ist eine Harmonie unter den grossen Mächten auf dem eurasischen Kontinent. Solange es noch erhebliche Differenzen zwischen Russland und China gab, war hier keine Gefahr. Die Annäherung dieser beiden Staaten machte es für Amerika aber notwendig, einen Keim zwischen Europa und Russland sowie China zu treiben. Die geschichtlich ältere und traditionsreichere Bindung des europäischen Westens an den Osten war also unbedingt zu vermeiden.

Der Krieg in der Ukraine hat also zwei Funktionen: Erstens spielt sich hier die heisse Phase des globalen und geschichtlich notwendigen Transformationsprozesses ab, der gegenwärtig von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung führt.

Zweitens wird so eine Partnerschaft zwischen Europa und Russland verhindert und Europa auf diese Weise an eine Bindung – tatsächlich sogar eine Abhängigkeit – zu den Vereinigten Staaten gezwungen.

 

Im Westen wird der Eindruck erweckt, als ob der Krieg 2022 begann. Tatsächlich begann dieser Krieg viel früher, im Februar 2022 fand bloss eine Eskalation statt.

Die Vorgeschichte des gegenwärtigen Krieges begann 2014, als ein Präsident gewählt worden ist, der dem Westen und insbesondere den USA als zu russlandfreundlich erschien. Die USA investierten daraufhin fünf Milliarden Dollar, um die Situation in der Ukraine zu destabilisieren, ein Prozess, der zu den Maidan-Demonstrationen führte. In diesen durch eingeschleuste agents provocateurs angeheizten Protesten kam es zu tödlichen Schüssen, die auf das Konto der rechtsradikalen Bandera-Fraktion gingen (Es gibt dazu Gerichtsprotokolle). Es gelang allerdings, die Verantwortung dafür der gewählten Regierung in die Schuhe zu schieben und mit der so erzeugten moralisch aufgeladenen Stimmung den Putsch zu vollenden.

Die USA hatten ihr Ziel erreicht und es wurde ihnen gedankt. So erhielt Bidens Sohn dafür einen lukrativen Posten bei der ukrainischen Nationalbank (immerhin mehr als 16 Millionen Dollar). Die gute alte Korruption.

 

Das neue Regime begann umgehend seinen nazistischen Kreuzzug gegen alles Russische: gegen die russische Kultur, die russische Sprache, die russischen Menschen. (Nazismus ist der russischen Auffassung nach nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen, die Position der Juden kann von beliebigen anderen Volksgruppen eingenommen werden.)

In der Folge kam es zur Sezession der Krim und Aufständen in den russischsprachig dominierten Gebieten des Donbas.

 

Diese Krise fand eine vorläufige Beruhigung in den Minsker Abkommen. Der Westen hat diese Verträge aber von Anfang an als ein taktisches Mittel zum Zweck angesehen, als ein Zeitfenster, um Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen. Diese Unredlichkeit, dieser Betrug an Russland, der (im Westen kaum thematisiert) von Angela Merkel in zwei Interviews (Zeit und Spiegel) offen bekannt worden ist, bewies sich schon bald, indem das Abkommen seitens der Ukraine hintertrieben wurde. So wurde ein zentraler Punkt der Verträge, den Regionen des Donbas einen autonomen Status zu gewähren, überhaupt nicht umgesetzt.

 

Der Krieg im Osten der Ukraine kostete zwischen 2015 und 2021 mehr als 15.000 Menschen das Leben, 80% davon Russen. Das russische Regime fühlte sich verpflichtet, dieses fortwährende Sterben zu beenden und sah keine andere Möglichkeit mehr, als den Krieg zu eskalieren.

Die Zeit drängte, da die Ukraine als russlandfeindlicher Frontstaat von der NATO konsequent aufgerüstet wurde und mittelfristig selbst Mitglied der NATO zu werden drohte. Atomraketen in der Ukraine würden das strategische Gleichgewicht für immer zerstören, weil diese Moskau und andere entscheidende Orte innerhalb von Minuten erreichen könnten, wodurch Russland die Fähigkeit zum Zweitschlag verlieren würde.

Russland hatte also gar keine andere Wahl.

 

Soweit der russische Standpunkt.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.02.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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