Rudolf Kowalleck

Die Hände meines Vaters

Wir erreichten den Waldfriedhof viel zu früh, aber ich hatte Vera ausdrücklich darum gebeten, rechtzeitig loszufahren. Nicht wegen der üblichen Staus im Berufsverkehr, ich wollte mich unbedingt noch alleine von Vater verabschieden.

Wir folgten dem Weg zur Trauerhalle, den uns der Friedhofsgärtner beschrieben hatte. Die Eingangstüre hatte beinahe die Ausmaße einer Kirchenpforte, und ich musste mich regelrecht dagegenstemmen, um sie zu öffnen.

Im Innenraum wachte ein Engel aus Marmor, der so traurig schaute, als müsste er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen. Der Flur erinnerte mich fatal an den einer Krankenhausstation.

Neben jeder Türe war ein Namensschild angebracht. Das dritte trug den gesuchten Namen.

Als ich ihn las, wäre ich am liebsten davongelaufen. Beinahe hätte ich angeklopft. So durcheinander war ich. Verrückt, ging es mir durch den Kopf. Aber genau so hatte Vater uns erzogen, an Respekt einflößenden Türen anzuklopfen, bevor man eintritt.

Neben dem Sarg hatten sie Bodenvasen aufgestellt mit Feuerlilien und gelben Tulpen darin.

Es schien, als ob Vater schlief. Ein Lächeln umspielte seine schmalen Lippen, als träumte er etwas Wunderschönes.  Nichts mehr von der Strenge, die ich bis dahin nur von ihm kannte.

Ich musste an das denken, was er meiner Schwester nach seinem ersten Infarkt anvertraut hatte. Von einem hellen Licht hatte er gesprochen, sphärischer Musik und einem unbeschreiblichen Gefühl der Liebe, das ihn umfing.

Zuvor hatte ich ihn nie so reden hören. Ich kannte ihn nur als einen Mann, der mit beiden Beinen mitten im Leben stand und für die Fantasy-Geschichten seines Sohnes kein Verständnis aufbringen konnte.

»Der Junge träumt sich noch mal um den Verstand«, hatte ich ihn mal zu Mutter sagen hören.

Die Ärzte sprachen später von Endorphinen, körpereigene Drogen, die in Extremsituationen ausgeschüttet werden, um zu beruhigen und die Schmerzen zu lindern. Sie verursachten solche Visionen. Das hatte irgendwie plausibler geklungen.

Mein Blick fiel auf seine Hände.

Was war nur aus diesen Händen geworden? Klein und zart waren sie, fast wie die einer Frau.

Dabei waren es mal die schwieligen Pranken eines Hafenarbeiters gewesen. Hände, die zupacken konnten, die zentnerschwere Säcke auf eine Palette wuchteten, wenn es sein musste, auch im Akkord.

Mancher, der ihm arglos die Hand schüttelte, rieb sich danach sekundenlang die Finger und wenn ich eine Mineralwasserflasche nicht aufbekam, brauchte ich nur zu ihm zu gehen. Vater packte die Verschlusskappe lässig zwischen Daumen und Zeigefinger und schon zischte es.

Wenn er zärtlich sein wollte, hörte ich Mutter oft sagen: »Ach, bleib mir vom Leib mit deinem Schmirgelpapier.«

Es waren aber auch Hände, die Weihnachtskugeln an Zweige hängen konnten, ohne dass auch nur eine zerbrochen wäre und dann wieder Hände, die auf einen niedersausten, wenn man patzige Antworten gab.  Mein Bruder konnte ein Lied davon singen.

Ich war da diplomatischer, dachte mir lieber meinen Teil, bevor ich Prügel einsteckte und tat, was Vater wollte.

Wir hörten Schritte auf dem Flur und Stimmen.

Es wurde dezent an die Türe geklopft. Ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens meinte: »Leider muss ich Ihre Andacht unterbrechen, aber es ist soweit.«

Die Bestattung rauschte an mir vorbei. Inzwischen war der Sarg geschlossen und vor dem Altar aufgestellt worden. Davor ein Meer von Kränzen. Auf den Schleifen die letzten Grüße. Der Pfarrer zitierte aus dem Evangelium des Johannes: »In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.«

Eine davon war nun von meinem Vater bezogen worden. Ich hoffte, dass es ihm dort besserginge, dass er jetzt glücklich war und seinen Frieden hatte.

Danach verließen wir die Kapelle und folgten dem Pfarrer bis zu Vaters letzter Ruhestätte.

Der Sarg wurde hinabgelassen und alle verharrten einen Moment mit gesenktem Kopf vor dem offenen Grab, nahmen dann die kleine Schaufel und warfen den Sand hinein. Andere benutzten dafür ein paar der bereitgestellten Rosenblütenblätter.

Das widerliche Geräusch des auf den Sarg klatschenden Sandes machte mir klar, was zu leben wirklich bedeutet und ich war wild entschlossen, meine Träume nicht länger nur zu träumen, sondern sie auch zu erleben.

Aber die Routine des Alltags ließ diese Gedanken bald zu Sternenstaub mutieren. verweht in den Weiten des Kosmos, und alles ging bald wieder seinen gewohnten Weg. Wie immer.

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