Lothar Krist

Mutter! Oh Mutter!

Mutter, oh Mutter
(Nach dem Gedicht-Zyklus „Vater, oh Vater“ zu lesen)

Ich war bei meinen Eltern zu Besuch, habe mit ihnen Mittag gegessen, einen Kaffee getrunken, und wahrscheinlich einen von Mutters immer so köstlichen Kuchen verspeist, und habe mich gegen 14.00 Uhr verabschiedet. Mein Vater ist ins Wohnzimmer gegangen. Meine Mutter hat mich zur Haustüre hinaus begleitet. Ich habe ihr dort noch einen Abschiedskuss gegeben, und da kam auf einmal von hinten aus dem Wohnzimmer so ein gehauchtes „Pfiaaa-tii“. Ich habe auch „Pfiiaaati!“ gerufen. Ich bin dann mit dem Auto weggefahren. Plötzlich, ich war schon gut fünf Kilometer weg, da läutete mein Handy. Mama war am Telefon, und weinte: Der Papa ist gestorben! Er liegt tot im Wohnzimmer. Ich habe an der Trauner Kreuzung umgedreht, und bin zurück gefahren.

Vater lag in einem Sofa. Das knochige, so abgemagerte Gesicht, die Kinnlade hing herunter. Ich habe schon beim zurückfahren geweint, doch da zerfetzte es mich. Ich habe mich an Mama festgehalten. Ich wusste nicht, was tun?

Doch meine Mama war immer eiskalt, wenn irgendeine Scheiße am Dampfen war. Entschuldigt, bitte, den Ausdruck. Doch so war sie. Da könnte ich ein paar irre Geschichten erzählen.

Sie hat mich festgehalten, und mir so nebenbei gesagt, dass sie schon den Notarzt verständigt hätte, der Hausarzt unten in Neubau hat Notdienst. Er würde gleich kommen. Und vom Begräbnis-Institut in Leonding kommt auch bald wer. „Und jetzt muss ich Deinen Bruder anrufen, oder mach Du Das. Ich muss das Festtagsgewand für den Papa heraussuchen.“ Da hat sie mich los, also alleine gelassen, und ist irgendwie total verwirrt, doch mit Schwung ins Schlafzimmer fort gerauscht.

Man muss sich das ja einmal vorstellen! Da schmiert diese eins-achtundsechzig kleine Frau diesem eins-neunzig-Meter-Mann, diesem Herrn Zurucker, eine Fotzen ins Gesicht, dass er fast abgehoben hat. Die Kinder, die hinter ihm und auf der Stiege gestanden sind, haben ihn aufgefangen. Und die Erwachsenen oben ebenso, ach ja, sie haben es auch gesehen, und auch gehört.

Ich kann es mir heute noch nicht verzeihen, dass ich da nicht dabei gewesen bin. Ich war dreizehn, oder vierzehn, und ging in Linz, ins 3. BRG, den Berg hinauf, oben rechts am Bindermichl. Die Hin- und insbesondere die Heimreise mit dem Bus nach Hörsching dauerte immer gut eine Stunde, oder gar länger.

Und man muss sich den Grund für diesen Irrsinn vorstellen! Mama muss dringend wohin! Sie kommt in unseren Fahrrad-Keller und sieht: Verdammt! Ein Patschen!
Der Fred! (Ihr Bruder!)!!! Den habe ich doch gerade draußen gesehen und kurz mit ihm gesprochen. Mama fetzt die Kellerstiege hinauf, aus der Haustüre hinaus, schaut nach links, - ihr Bruder wohnte einen Wohnblock weiter links - und da ist er noch der Fred, kurz vor seiner Haustüre. „Hey, Fred!“

Und dann holt Mama schon den Werkzeugkasten, und der Fred fängt an den Reifen zu reparieren. Da steht auf einmal nach gut fünf Minuten, dieser Zurucker in der Kellertüre.

Wos mocht'n Der do? Der 'g'hert net in des Haus!“ Dieser Zurucker hasste alle, die ihm nicht zuhörten.
Meine Mama: „Mei Bruada richt ma mein Raf'n her! Oiso vertschüss di! I hob beim Dokta an Termin!“
„Hey, des is a mei Haus! Geht's aus meim Haus außi, rcht's des scheiß Radl draußen, …. oder …?“ (Oder so ähnlich.)

Mama steht auf. Sie ist zuvor auf der anderen Seite gekniet, und hat ihrem Bruder geholfen. Sie steht also auf, eilt aus der Fahrrad-Keller-Türe hinaus, und zum Zurucker hin zur Kellertüre.
„Oder WAS?“ Er soll angeblich gestottert haben, was, das hat hinterher kein Zuhörer im Stiegenhaus nachstottern können. Er hat wohl das Kriegerinnen-Gesicht meiner Mama mitsamt ihren Augen gesehen.

Und da hat ihm meine Mama eine geknallt. Und dann hat sie sich umgedreht und hat ihrem Bruder, dem Fred, beim Umdrehen des Fahrrads geholfen. Er hat während ihres kleinen Disputes mit diesem Herrn Zurucker den Reifen einfach fertig gepickt und dann die Luft aufgepumpt.

Und Mama hat ihren Termin nur leicht verspätet eingehalten.

Oh, Du zu uns Menschen immer so liebe Mutter Erde, wieso sind WIR heute nicht mehr so? Der Bruder hat einfach gewusst, seine große Schwester, die ihn ab 1946 aufgezogen hat, als seine Mutter an Unterleibskrebs bei den Elisabethinen in Linz elendiglich verreckt ist, weil es damals keine Medikamente und schon gar kein Morphium gegeben hat, würde mit diesem Vollidioten auch alleine zurecht kommen. Er hat es einfach gewusst! Und hat den Reifen fertig repariert. Und dabei war er ein „Moarli“, ein Mairhofer. Mit ihm hat sich eigentlich Niemand gerne angelegt. Der Zurucker muss wohl einen Aussetzer seines Gehirns gehabt haben. Hatte er oft!

Nun ja, ich war nicht selbst dabei. Ich habe mir diese Geschichte bloß aus den Erzählungen der Dabei-Gewesenen zusammen gereimt. Ich habe Onkel Fred einmal gefragt, wieso er nicht auch aufgestanden ist, und Mama geholfen hat. Da hat er bloß gemeint: „Du kennst Deine Mama nicht! Die ist sogar mit den Amis in Hörsching nach dem Krieg zurecht gekommen! Und wenn er zurückgeschlagen hätte, dann hätte ich ihn schon alle gemacht!“ Mehr hat er nicht gesagt. Und ich denke heute oft: Verdammt! Ich hätte gerne das Gesicht von meiner Mama gesehen, wie sie diesem Ober-Ekel aus unseren zwei Wohnblocks eine geschmiert hat.

Wieso? Nun dann hätte ich endlich gewusst, ob es in ihrem Gesicht einen Unterschied macht, ob sie mir eine Kleine schmiert, weil ich wieder einmal einen Blödsinn angestellt habe, oder diesem Zurucker?

Ich war ein paar Mal dabei, wenn Mama eine Sache so richtig richtig gestellt hat, doch ich habe dabei NIE ihr Gesicht gesehen. Die Kinder, die hinter dem Zurucker gestanden sind, haben gemeint, ihre Augen hätten so rot geleuchtet, wie die Augen eines Teufels. Ggggggrrrrrrhhhhhh!

Wenn ich von meiner Mama so ein Watscherl bekommen habe, dann hat es nie richtig weh getan. Da hatte ich andere Auseinandersetzungen mit vielen Jungs, die haben mehr weh getan. Ich wusste halt hinterher, dass ich nie wieder so einen Blödsinn machen sollte. Doch mir sind damals immer wieder so blöde Geschichten passiert. So unaufgeklärt, wie Wir Kinder damals alle halt waren.

 

Das Typhuslager der Amis in Hörsching

Mama, am 25.12.1929 geboren, war 1946 also gerade einmal 16/17 Jahre alt, als die Amerikaner in Hörsching ein Typhuslager für die damals im Land herumziehenden, gerade frei gelassenen und oft so typhuskranken Juden und Jüdinnen errichtet haben. Am Flughafen. Dort stehen heute mehrere Neue-Heimat-Wohnblocks, und die Gegend ist auch heute noch als „Das Lager“ bekannt.

Und Mama hat dort in der Küche zu arbeiten begonnen!!!!! Und sie war ein verdammt hübsches Mädchen, mit allem Drum und Dran! Und diese Amis, verdammt noch mal, waren auch nicht ohne.

Bald geht es weiter!

Copyright by Lothar Krist (am 05./06./07.08.2023 von 22.30 bis 23.40 Uhr, von 20.30 bis 23.30 Uhr und von 18.40 bis 22.30 Uhr)

Ich kam an diesem Tag gegen 15.00 Uhr von der Schule mit dem Bus nach Hause. Da liefen mir schon die kleinen Kinder, die noch nicht zur Schule mussten, und dabei gewesen sind, und auch die älteren, die schon von der Schule nach Hause gekommen sind, und schon Alles gewusst haben, entgegen. "Dei Mama hot heit in Zurucker ane g'schmiert, dass er mit de Fiaß o'kohm hot. Waunn ma eam net aum Oarsch koiten hätt'n, daunn war a umg'flog'n." Ich habe erst so nach und nach kapiert, um was es da eigentlich gegangen ist. Und dann wollte ich Alles wissen!

"Meine Mama hat dem Herrn Zurucker, diesem so irre verrückten Ekel, eine Fotzen vom Feinsten gegeben." Also diesen so irre geilen Irrsinn, den musste ich erst einmal verdauen. Wenn er das nächste Mal wieder so deppert zu mir ist, dann knalle ich ihm auch eine. So aus einem Nichts heraus, meine lebenslange Spezialität, und dann sehen wir weiter.

Ich befand mich mitten drinn in einem Dorfgespräch vom Feinsten. Ich wollte Alles wissen, von Allen, die dabei gewesen sind. Und ihre Geschichten wurden immer besser, also spannender. Und sogar Frauen und Männer, die oben draußen vor dem Eingang der Haustüre gestanden sind, haben auf einmal selbst gesehen, dass Mama's Augen bei der Watsche "rot" geleuchtet hätten, wie die Augen eines Teufels.

Bitte, bedenkt: Ich war so um die 14 Jahre alt. Meine Mama war auf einmal die Königin für mich in der Neuen-Heimat-Siedlung in Neubau unten, in ganz Hörsching und Umgebung, ja, in der ganzen Welt. Meine Mama hat diesem Ekel Zurucker eine volle Fotzen gegeben! Das wollte ich doch schon längst einmal machen, wenn er mich auf der Stiege blöd angemacht hat. Ich bin unter anderem wegen ihm dann in Judo in Hörsching gegangen, dann Nicht-Kontakt-Karate in Traun - da war ich ständig am Auge verletzt, und als ich mein Moped mit 16 hatte, da bin ich in einen Vollkontakt-Karate-Club nach Linz gewechselt. Da wusste ich immer, um was es geht. Also war ich nicht ganz so oft verletzt.

Und unser Herr Bürgermeister von der kleinen Gemeinde, auf der ich als so ein Quasi-Lehrling gearbeitet habe, hat mit der Zeit nicht mehr gefragt, wieso ich schon wieder so ein blaues Auge habe. Er hat nur aufgesehen, wenn ich ihm die Akten zum Unterschreiben auf den Tisch gelegt habe, und gemeint:
"Host scho wieda g'raft? Host g'wunna?"
"Nein, Herr Bürgermeister! Und ja! Aber darum geht es beim Training im Ring nicht. Doch ab und zu haut Einer von uns daneben! Ist keine Absicht, nun ja, nicht! Es ist halt so, wie es ist!"

Und da hat er dann immer so komisch gelacht.

Mutter Erde habe Ihn selig! Bessere Bürgermeister und Bürgermeisterinnen gibt es nicht. Und ich habe ihn trotzdem im Stich gelassen und gekündigt.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.08.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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