Gerd Henze

Eisbombe zum Leichenschmaus

Federleicht, wie Glitzerstaub von Feenhand in die klare Winterluft gepustet, flirrten wattefeine Schneeflocken vom Firmament. Die Posaunen und Trompeten der Feuerwehrkapelle bliesen „Stille Nacht, heilige Nacht“ direkt in die Herzen der andächtig lauschenden Besucher des Weihnachtsmarkts heute am vierten Advent, der ausnahmsweise mit dem heiligen Abend zusammenfiel. Verfrorene Finger klammerten sich an heiße Tassen, aus denen der würzige Geist aromatischen Glühweins die Nächstenliebe befeuerte. Dennoch beachtete niemand die Kleine, die da auf nackten Füßchen zwischen den Beinen der Erwachsenen über das frostkalte Pflaster trippelte - niemand außer Max. Sie war aus ihrem kuscheligen Heim auf die Straße gerannt und hatte nicht wieder zurückgefunden. Nun schlug sie sich mutterseelenallein durch die Welt, von der sie selbst am Vorweihnachtsabend nur ein paar Brötchenkrümel, die von den Papptellern rieselt en, zu erwarten hatte. Auch Horst kümmerte die Kleine nicht. Vermutlich hätte der Geschäftsführer des Autohauses Lübzer, der sich vom Mechaniker an die Spitze des traditionsreichen Familienunternehmens geheiratet hatte, nach ihr getreten, wenn sie ihm aufgefallen wäre, denn für solche wie sie hatte er absolut nichts übrig. Umso mehr aber für seine Empfangsdame Ivana, die bei der gestrigen Weihnachtsfeier durchblicken lassen hatte, dass sie die Festtage zwar allein, den heutigen Abend jedoch nicht gänzlich freudlos verbringen wolle, und deren durch Abertausende Kniebeugen gestählter Steiß gerade Horsts volle Aufmerksamkeit genoss.

Derweil ergatterte die Kleine den Zipfel einer Bratwurst, der neben eine Mülltonne gefallen war. Glücklich über den unerwarteten Fund verkroch sie sich abseits ins Gebüsch und schmatzte auf dem widerspenstigen Wurstdarm herum. Dass sich Max an sie anschlich, merkte sie nicht - ebenso wenig wie ihr Genick wie ein dürrer Zweig brach. Wenn sie ohne Stress starben, blieb ihr Fleisch schön zart. Max hatte es nicht zum ersten Mal getan, er war ein Profi. Zu gern würde er ihr an Ort und Stelle den Bauch aufschlitzen und sich über ihre Eingeweide hermachen. Am liebsten mochte er die Augen. Auf diesen hier glänzte noch feucht eine Träne. Doch es war Weihnachten und sie sein Geschenk.
Max reckte den Hals und schaute durchs Küchenfenster. Drinnen rollte die Mutter den Teig für die Plätzchen aus. Die Großmutter rührte in einem Bottich die Mayonnaise unter die Kartoffeln. Drüben im Wohnzimmer, vor dem Fernseher, daddelte Leon auf der Spielkonsole herum, während seine kleine Schwester Theresa unter Sesseln und Schränken nach versteckten Geschenken stöberte. Max schlich ums Haus. Niemand von ihnen durfte sein Geschenk finden, denn es war für seinen Meister bestimmt. Der hatte ihn auf der Straße aufgelesen und zu dem Killer gemacht, der er heute war. Da baute sich wie aus dem Nichts der Großvater vor ihm auf. Der Tritt des ehemaligen Spielmachers der Eintracht-Senioren und noch amtierenden Inhabers des Autohauses Lübzer traf ihn hart in den Bauch. Max jaulte auf, rang nach Luft und schluckte schwer. Bevor der alte Kicker einen weiteren Pass schlagen konnte, rannte er ums Eck in die Garageneinfahrt, wo i hn die Scheinwerfer von Horsts SUV blendeten. Wie die 245er Breitreifen über ihn hinweg walzten und ihr dreidimensionales Lamellenprofil in seinen Kopf stanzten, bekam er nicht mehr mit.

Frohgelaunt und bis in alle Glieder entspannt, den frisch geschlagenen Tannenbaum im Kofferraum und Helene Fischer in den Ohren, fuhr Horst zu Hause vor. Wenn zweieinhalb Tonnen über einen Körper rollen, fühlt sich das nicht anders an, als streife man einen hohen Bordstein. Und überhaupt scherte sich Horst recht wenig um das, was vor der endlosen Kühlerhaube seines Wagens passierte. Über den Leichnam, der dank des hohen Radstandes den Unterbodenschutz nicht beschädigt hatte, war Horst dann aber doch bestürzt. Er hatte den Kerl wirklich gemocht, aber eines Tages musste es ja so weit kommen. Max trieb sich immer dort herum, wo man ihn am wenigsten erwartete. Heute hatte er sein siebtes und letztes Leben ausgehaucht. Horst lächelte. Ob es Ivana wohl gefallen hätte, wenn er ihr statt des goldenen Armreifs, den er ihr zum Vorspiel über das Handgelenk gestülpt hatte, als Geschenk ebenfalls eine tote Maus auf die Fußmatte gel egt hätte? Nun, heute an Weihnachten war nicht die Zeit für Sarkasmus und er wollte die Familie keinesfalls mit der Tragödie belasten. Er griff zu Spaten und Hacke und grub die gefrorene Erde unter der Tanne hinter dem kleinen Teich auf. Er beugte sich über den toten Kater. Im Schein der festlichen Außenbeleuchtung sah er das Beil noch kurz aufblitzen - wie es seinen Schädel spaltete, merkte er nicht mehr.

„Das ist eine Familienangelegenheit“, donnerte der Großvater die Faust auf den Tisch. „Dafür brauchen wir keine Polizei, die uns das Weihnachtsfest verhagelt.“ Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen, bis dass sie sich ineinander zu verhaken drohten, und durchbohrte sie mit seinem Blick. Sie sanken auf ihren Stühlen hinab, als wollten sie sich allesamt unter der Tischplatte verstecken. „Du!“, spießte er die Großmutter mit dem Finger auf. „Du hast es nie verwunden, dass er an Heiligabend immer Würstchen mit Kartoffelsalat haben wollte.“ Kreidebleich schnappte sie nach Luft. „So etwas isst man doch nicht am höchsten Festtag. Das ist etwas für eine Studentenparty. Früher kamen knusprige Gänsekeulen, zarter Rehrücken oder ein saftiger Karpfen auf den Tisch.“ Sie kramte in ihrer Kitteltasche herum. „Aber deswegen bringe ich ihn doch nicht um. Außerdem war ich die ganze Zeit in der Küche.“ Sie schnäuzte in ein Taschentuch. „Genau so gut könnte es Leon gewesen sein, denn dem gehen die Weihnachtslieder von Helene Fischer schon lang auf die Nerven.“ Der Halbstarke schreckte hoch und riss den Mund weit auf. „Ich, wieso gerade ich?“, stotterte er. „Der kann doch spielen, was er will. Dann stecke ich mir einfach die Stöpsel in die Ohren.“ Leon drehte sich zu seiner Mutter, die neben ihm saß, und musterte sie von Kopf bis Fuß. „Was ist mir dir?“ Er zog ein pinkes, geblümtes Höschen aus ihrer Hosentasche und wedelte damit durch die Luft. „Bist du nicht etwas zu alt für so was?“ Die Mutter schluckte. „Selbst heute an Weihnachten hat er mich mit irgendeinem Flittchen betrogen. Ich habe ihn zwar gefunden, aber getötet habe ich ihn nicht.“ Sie stand auf und trat vor den Großvater, so dass sich ihre Nasen beinahe ber ührten. „Bist du nicht kürzl! ich erst dahintergekommen, dass er immer wieder Gelder aus der Firma abgezwackt hat? Und draußen warst du auch.“ Plötzlich kullerten dicke Tränen über die Wangen der kleinen Theresa. „Hört endlich auf zu streiten!“ Sie stellte ein Schächtelchen auf den Tisch und öffnete es. „Es war ein Unfall. Ich hab bloß die Katze gesehen.“ Mit spitzen Finger zog sie eine Maus aus der Schachtel und streichelte ihr weißes Fell. „Sie war meine Freundin. Ich war so wütend und wollte es Max heimzahlen, doch Papa hat sich zur falschen Zeit nach ihm gebückt.“ „Komm her, Süße!“, nahm die Mutter sie in den Arm. „Weil du ehrlich warst, bekommst du heute seinen Nachtisch.“

Hallo Christa,
ja, nicht für alle ist Weihnachten das Fest der Liebe. Ich freue mich, dass Dir die Geschichte trotzdem
gefallen hat.
Liebe Grüße, Gerd
Gerd Henze, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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„Stellen sie sich vor, in einer fernen Zukunft befindet sich die Erde und eigentlich das gesamte bekannte Universum unter der Faust einer fremden und äußerst bösartigen Spezies namens Tenebridd. Das Leben, so wie wir es im Augenblick kennen existiert seit zwei Jahren nicht mehr. Die Erde ist dem Erdboden gleich gemacht, kein Standard, keine Sicherheiten mehr und nur noch das Gesetz der Eroberer. Und dennoch, eine Handvoll Menschen, angetrieben von dem Wunsch der Freiheit, kämpfen unermüdlich um das Überleben des Planetens und der restlichen Menschheit.“

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