Heinz-Walter Hoetter

13 Horror-Kurzgeschichten

 


 

  1. Schachspiel des Todes

  2. Der Jäger

  3. Die Realtraum AG

  4. Das Monster treibt wieder sein Unwesen

  5. Mr. Georg Kondrad , LEWIS und die Würmer

  6. Die Geschichte der Miss Elli Flint

  7. Das Monster ist wieder da

  8. Das perfekte Verbrechen

  9. Der Besuch bei Lisa

  10. Der Dieb Drag Baron

  11. Der Horror ist immer und überall

  12. Der Kampf um die Hölle

  13. Der unsichtbare Killer


 

Der Horror ist nichts für schwache Nerven.“


 

***

1. Schachspiel des Todes


 

 

Im letzten Stockwerk des Museums machte Alissa die geschwätzige Reiseleiterin auf eine seltsame Tatsache aufmerksam, dass sich immer mehr Mitglieder der Reisegruppe entweder absichtlich entfernt hatten oder auf andere Weise irgendwo in dem unübersichtlichen Labyrinth der Gänge und Säle verloren gegangen seien. Aufgetaucht ist seitdem niemand mehr. Die Betreuerin der Reisegruppe, eine etwa 40jährige gut aussehende Dame mit langen schwarzen Haaren und einem extrem körperbetonten Kostüm, kümmerte sich die ganze Zeit mehr um einen reichen, grau melierten Mitfünfziger, als um die zurückgebliebenen Nachzügler der Gruppe.

Bei der Führung der Touristen durch die alten Gemäuer einer teilweise wieder aufgebauten Kleinstadt aus dem 21. Jahrhundert plauderte die Reiseleiterin ununterbrochen über die in dieser Abteilung des Museums untergebrachten Attraktionen, anstatt zusammen mit der Betreuerin auf die desorientierten Leute aufzupassen, die jetzt wahrscheinlich irgendwo herumirrten und keine Ahnung davon hatten, wo sie sich befanden.

Das gewaltige Museum bestand aus über fünfundzwanzig Stockwerken und war mehr als zehnmal so lang wie ein Fußballstadion. Ganz oben, wo sich Alissa jetzt mit der Reisegruppe befand, herrschte vollkommene Stille. Hier waren die elektronischen Riesenrechner aus einer längst vergangenen Zeit untergebracht, die einstmals von mittelalterlichen Computeringenieuren und künstlerisch begabten Informatikern ersonnen, gebaut und programmiert worden sind.

Das 18jährige Mädchen Alissa blieb einfach stehen und betrachtete die beeindruckende Schönheit dieser uralten Geräte, die schon längst in die Annalen der menschlichen Kulturgeschichte eingegangen waren. Man sah sie als äußerst wertvolle Stücke an, von denen es nur noch sehr wenige auf der Erde gab. Einige dieser elektronischen Ungeheuer funktionierten sogar noch.

Nach einer Weile des stummen Staunens und neugierigen Betrachtens wollte sich Alissa an die Reiseleiterin wenden, um einige Fragen an sie zu richten. Doch mittlerweile hatte sich die Gruppe von Touristen in unbekannter Richtung entfernt und nun stand sie selbst völlig allein mitten in der großen Museumshalle für altertümliche Computer, von denen etwa dreißig dieser grauen mannshohen Metallkästen wie eine Kompanie erstarrter Robotersoldaten in mehreren versetzten Reihen hintereinander aufgebaut waren. Das Mädchen konnte sich für einen Augenblick nicht des Eindrucks erwehren, von den stillen Maschinen beobachtet zu werden, deren bunte Kontrolllämpchen für den Bruchteil einer Sekunde mehrmals hintereinander schwach aufleuchteten.

Alissa bekam es mit der Angst zu tun und versuchte die Reisegruppe wiederzufinden, doch nachdem sie die nächste Halle erreicht hatte, wo ebenfalls mehrere Korridore zusammenliefen, verfehlte sie die Richtung und irrte in den Räumlichkeiten herum, deren hohe weißgrau marmorierten Wände mit wissenschaftlichen Apparaturen aller Art vollgestopft waren. Die jahrhundertealten Gerätschaften füllten die Innenräume der nachgebauten Laboratorien aus, wo einstmals Wissenschaftler am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts in ähnlich aussehenden Labors wichtige Experimente durchführten.

Die Zeit war natürlich an den kostbaren Sammlungen nicht spurlos vorübergegangen. Trotz chemischer Konservierungsmittel rosteten die Stahl- und Blechteile an einigen Stellen langsam vor sich hin. Sogar der Kunststoff war davon nicht ausgenommen, der immer wieder von einem unbekannten Mikroorganismus befallen wurde, der besonders die Farbe beseitigte, die auf vielen Artefakten als Oberflächenschutz aufgebracht war.

Alissa sah sich nach allen Seiten um. Von ihrer Gruppe war nirgends etwas zu sehen. Nach einer halben Stunde erfolglosen Suchens gab das Mädchen auf und beschloss, auch wegen der unheimlichen Atmosphäre dieses trotz seiner atemberaubenden Größe sonderbar stillen Ortes, auf eigene Faust zum Aufzug zurückzukehren, um ins Erdgeschoss hinunterzufahren. Dort unten wartete vor den gewaltigen steinernen Säulen des Museums auf einem weitläufigen Parkplatz ihr Touristenbus, der nicht ehr wegfuhr, bis alle seine Passagiere wieder vollzählig an Bord waren.

Der Weg zum nächst gelegenen Aufzug war durch auffällig gelbe Hinweistafeln an den Wänden gekennzeichnet und Alissa brauchte nicht lange, da erreichte sie am Ende eines schmalen mit Ornamenten reich verzierten Korridors eine hell beleuchtete Aufzugskabine, deren elektrisch betriebene Schiebetür weit offen stand. Das Mädchen ging hinein, stellte sich in die rechte Ecke und drückte auf den runden Knopf mit einem großen E darauf. Leise surrend setzte sich der Schließmechanismus in Bewegung bis die Kabinentür ganz geschlossen war. Dann sauste der Aufzug nach unten, der nach kurzer Fahrt aber zwischen zwei Stockwerken plötzlich stehen blieb. Alissa betätigte automatisch den Notruf gleich neben der Stockwerkstastatur und wartete auf eine Antwort. Nach etwa einer knappe Minute des ungeduldigen Wartens drang aus den über den Etagenknöpfen angebrachter Lautsprecher eine sanfte männliche Stimme.

Hallo Alissa! Möchtest du einmal etwas ganz besonderes erleben? Wir hätten da was für dich, was dir bestimmt gefallen würde.“

Wer spricht da mit mir? Und was soll diese komische Fragerei?“

Willst du die Frau eines Königs werden, die erste Dame in seinem Königreich? Na, wie wäre es damit? Ja oder nein? Es liegt ganz an dir, Alissa! Warte nicht zu lange mit der Entscheidung. Der Aufzug setzt seine Fahrt nach unten bald wieder fort und dann werde ich dich nicht mehr fragen können.“

Sie scherzen doch nur mit mir?“

Nein!“ sagte die Männerstimme noch sanfter. „Du kannst es wirklich werden.“

Und wie?“

Nichts leichteres als das. Wir suchen gerade eine geeignete Person für die Stelle als Königin. Die frühere Königin musste leider abdanken. Der gesamte Hofstaat erwartet dich.“

Wo?“

Mach schnell! Die Aufzugskabine setzt ihre Fahrt gleich fort. Drücke einfach auf den blauen Knopf. Alles andere überlasse mir. Die „bunte Veranstaltung“ geht in ein paar Minuten weiter. Wir warten auf dich.“

Als die unbekannte männliche Stimme das Wort „bunte Veranstaltung“ ausgesprochen hatte, wurde Alissa mit einem Schlag klar, die anfangs von dem geheimnisvollen Vorschlag überrascht worden war, dass hinter dem Sprecher nur eine ganz gezielte Touristenattraktion stecken könne, die vom Reiseveranstalter zu Unterhaltungszwecken organisiert wurde. Das junge Mädchen liebte solche Überraschungen und warum sollte sie da nicht mitmachen? Vielleicht fand das ganze Schauspiel in den alten Ruinen der Kleinstadt aus dem 21. Jahrhundert statt, wo sie heute schon mal mit der Reisegruppe durchgegangen war. Nicht selten hörte sie von malerischen Schlössern, die es damals gegeben haben soll, in denen noch echte Königinnen und Könige mit ihrem gesamten Hofstaat untergebracht waren. Wiewohl sich Alissa in der Chronologie vergangener historischer Epochen nicht sehr gut auskannte, freute sie es doch bei dem Gedanken an ein amüsantes Spiel, zumal sie es von den Höhen eines königlichen Thrones aus bewundern durfte, wenn ihre Zusage bald geschähe.

Das Mädchen drückte schnell mit dem rechten Zeigefinger auf den blauen Knopf und sogleich setzte sich der Aufzug mit einem fast unmerklichen Ruck wieder nach unten in Bewegung. Allerdings fuhr die Kabine am Erdgeschoss vorbei, wo das Zählwerk die Ziffer „Null“ anzeigte, bis sie schließlich zur Etage des sechsten unterirdischen Stockwerks hinunterfuhr und dort anhielt. Alissa wunderte sich über diesen Umstand, glaubte sie doch, dass es im Museumsgebäude gar nicht so viele Keller geben könne. Dann öffnete sich surrend die Schiebetür wieder und das Mädchen verließ das helle Innere des Aufzugs und trat hinaus auf einen reich mit Ornamenten und Bildern verzierten Korridor, wo sich am anderen Ende eine weitere Tür befand, die nur leicht angelehnt war. Alissa stieß sie auf und sah in einen Saal hinein, wo sich in der Mitte eine Schar Touristen aufhielt. Die Gruppe bestand aus all jenen Personen, die bei der Museumsbesichtigung hinter der Reisegruppe zurückgeblieben waren und sich im Gebäude verirrt hatten. Als sie das etwas verängstigte Mädchen sahen, fingen sie an zu lachen und auch Alissa lächelte ihnen zu. Jedenfalls hatte sie ihre Freunde wieder und bekam auf einmal große Lust dazu, sie zu umarmen und abzuküssen.

Kaum war sie allerdings ein paar Schritte im Saal gelaufen, wäre sie beinah vor Schreck erstarrt. Denn gerade in dem Moment, als sie über das unverhoffte Wiedersehen der verloren geglaubten Gruppenmitglieder vor lauter Erleichterung tief durchatmete und darüber nachdachte, dass ihr kleines Abenteuer glimpflich ausgegangen war, wurde einem der wartenden Männer mit dem kräftigen Schlag einer mit beiden Händen fest umklammerten Axt krachend der Schädel gespalten, sodass der Erschlagene nach allen Seiten Blut spritzend zu Boden sank. Am anderen Ende des Saales schoss plötzlich eine stählerne Tentakel aus der dunklen Ecke, griff sich mit einer Art Fleischerhaken den leblosen Körper und zog ihn an die Wand, wo schon ein stinkender Haufen fürchterlich zugerichteter Leichen herumlagen. Die abgeschleppte Leiche hinterließ einen hässlich aussehenden roten Streifen Blut.

Alissa brachte vor Entsetzen den Mund nicht mehr zu. Sie wollte schreien, aber ein schmerzhafter Krampf unterdrückte jeden noch so leisen Ton aus ihrer verkrampften Kehle. Instinktiv lief sie zurück zum Ausgang des Saales, wo sich der Korridor zum rettenden Aufzug befand. Das Mädchen strauchelte, fiel auf den harten Boden, rappelte sich in Panik sofort wieder hoch und torkelte weit nach vorne gebeugt auf die offene Tür zu. Aber eine fremde Kraft schien ihre Muskeln zu beherrschen, die sie am Weiterlaufen hinderte. Dann rissen irgendwelche mechanischen Arme ihre Kleider vom Leib bis sie nackt mit dem Rücken vor den verzweifelten Menschen stand, von denen einige hysterisch lachend auf einen weiteren Schlag mit der unheimlichen Axt warteten. Alissa konnte nicht glauben, dass das, was sie hier erlebte, Wirklichkeit sein sollte.

Das Mädchen wurde plötzlich von den herumfahrenden Armen am Kopf gepackt und in eine aufrechte Haltung gezwungen. Dann kam eine schaufensterpuppenähnliche Gestalt auf sie zu, die sie in ein langes, reich mit goldenen Spitzen besetztes Kostüm kleidete. Seltsamerweise war sie ihr dabei behilflich, obwohl sich alles in ihrem Kopf vor Entsetzen dagegen sträubte. Alissa konnte trotz der körperlichen Fixierung den Kopf frei bewegen. Sie schaute nach allen Seiten und bemerkte voller Erstaunen, dass ihr etwas bewusst wurde. Der Blick für die blutige Situation wurde von Sekunde zu Sekunde klarer und sie sah Dinge, die ihr vorher gar nicht aufgefallen waren.
Einmal abgesehen von dem erstaunlichen Verhalten der auf ihre Hinrichtung wartenden Menschen, die unablässig lächelten, teils apathisch dastanden oder hysterisch herumtanzten, fielen dem jungen Mädchen andere sonderbare Einzelheiten an ihrem unnatürlichen Aussehen auf. Alle trugen diese komischen Gewänder, die der Kleidung des früheren Altertums ähnelten. In ihren Händen trugen sie entweder einen Dreizacken, blitzende Schwerter, mit Eisenzacken besetzte Streitkolben oder Speere.

Wenige Minuten später ereignete sich ein neuer Zwischenfall, der Alissa das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine mit einem Speer bewaffnete Frau schleuderte vor ihren Augen diesen mit ungeheurer Kraft von sich und durchbohrte damit die Brust eines jungen Mannes, sodass die Spitze der Waffe hinten aus seinem Rücken fuhr. Er kippte mit einem gurgelnden Laut zur Seite und blieb zuckend auf dem Boden liegen. Die Frau trat mit federnden Schritten zu ihm hin und riss mehrere Male an dem Speer herum, bevor sie ihn aus dem grässlich blutenden Leib zog. Der Mann schrie vor Schmerzen und bäumte sich im Todeskampf noch einmal auf bevor er leblos wegsackte und starb. Wieder schoss die Harpune aus der dunklen Ecke, bohrte sich in die Eingeweide des toten Mannes und zog den schlaffen Körper rüber an die Wand zu den anderen Leichen.

Während Alissa so dastand und bis auf den Kopf kein anderes Körperteil bewegen konnte, zog der Haken zwei weitere entsetzlich verstümmelte Menschen in die Leichenecke. Dann kehrte Stille ein. Unter der Last vor Angst beinahe ohnmächtig, umkreiste das Mädchen auf ein geheimnisvollen Befehl hin den Rest der Touristengruppe, bis sie an eine Stelle kam, wo sie die Nische mit einem schwarzen Computer darin entdeckte. Das zweite Elektronengehirn bemerkte sie früher und ein anderes, das auf der gegenüberliegenden Seite in einer abgedunkelten Ecke stand, dessen Gehäuse weiß angestrichen war.

Alissa ging langsam ein Licht auf. Mit aller Macht trat sie mit beiden Füßen unter Aufbringung des Restes ihres freien Willens gegen die Metallwand des weißen Computers, aus dem im gleichen Augenblick ein dünner Rauchfaden herausschoss, gefolgt von einer Serie lauten Knackens. Dann gab es einen Kurzschluss. Die Lichter im Saal gingen aus und man konnte den Geruch der brennenden Kabelisolierung riechen. Noch einmal schaltete sich das Saallicht ein und erst jetzt erkannte das junge Mädchen, dass der Boden des Saales ein riesiges Schachbrettmuster bedeckte, wo auf den schwarzen und weißen Feldern die vor Angst schwitzenden Touristen wie Gespenster herumstanden. Eine Notbeleuchtung schaltete sich automatisch ein als das Deckenlicht des Saales vollends erlosch. Dann kam ein Reparaturteam aus mehreren Roboterpuppen, die eine Zeit lang brauchten, bis wieder alles ordnungsgemäß funktionierte. Nur das Saallicht blieb so, wie es war. Dann setzten die Computer das Schachspiel fort.

Das Schachbrett hatte eine Seitenlänge von etwas zehn oder zwölf Metern. Im Schein der trüben Notbeleuchtung verblassten die weißen Felder ein wenig, doch blieben sie weiterhin sichtbar. Alissa verstand nun, warum die mechanischen Diener sie in ein Kostüm gesteckt hatten, das von Kopf bis Fuß weiß war. Sie war die Dame, die weiße Königin. Diese Tatsache stimmte sie im ersten Augenblick optimistisch: Sie befand sich zur Zeit nämlich am Rand des Schachbretts auf der Seite des schwarzen Computers

Noch befanden sich auf dem Schachbrett zwanzig Leute. An der Wand lagen die Leichen der übrigen zwölf, die bereits aus dem Schachspiel ausgeschieden waren. Die Touristen trugen die unterschiedlichsten Helme und Hüte auf dem Kopf und waren derart gekleidet, dass man sie als Schachfiguren erkennen konnte. Jeder trat in seiner Rolle auf. Die meisten der Unglücklichen schauten ängstlich nach allen Seiten, hatten aber mittlerweile begriffen, dass sie ihren Part als Schachfigur nach den Regeln des Schachs spielen mussten, wenn sie nicht von der Axt oder einer anderen Waffe getötet werden wollten. Bislang hatte wohl jeder geglaubt, dass er durch einen Stoß umkommen oder selbst zu einem vom Computer frei gewählten Zeitpunkt einen Stoß versetzen müsse. Ihnen wurde aber immer mehr bewusst, dass ihr Schicksal vor allem von der aktuellen Lage auf dem Schachbrett abhing.

Alissa war dem weißen Computer zugeordnet worden, der in der auszutragenden Partie die Reihenfolge vieler Schachzüge richtig vorausgesehen hatte. Deshalb war es ihm auch möglich gewesen, das Mädchen vorzeitig zur Teilnahme an der „bunten Veranstaltung“ einzuladen.
Als sie zusagte und später den Saal betrat, wurde sie sofort dem „mechanischen Willen“ der unsichtbaren Kraft untergeordnet und musste dann, als weiße Dame verkleidet, einige Zeit später gehorsam den Platz eines Mannes einnehmen, der vom Schachbrett abtrat, als sie vor ihm erschien. Dieser Mann spielte die Rolle des „weißen Bauern“, der es aufgrund der richtigen Schachzüge des weißen Computers bis zur achten Linie geschafft hatte, wo die Weißen das Recht besaßen, ihren Bauern durch eine andere Figur ihrer Wahl zu ersetzen, was dann auch geschehen war.

Kurz nach dieser entscheidenden Spielwendung erhielt Alissa von einer mechanischen Hand, die aus dem Dunkeln des Saales hervorschoss, nicht nur eine goldene Krone auf den Kopf, sondern auch eine Armbrust in die Hände gedrückt. Daraufhin wandte sie sich der Mitte des Schachbretts zu und von einem plötzlichen Impuls getrieben, drückte das Mädchen auf den Abzug der Waffe. Sie hörte das Schwirren der Sehne, konnte aber nicht erkennen, welches Ziel ihr abgeschossener Pfeil traf, weil sie die Augen noch vor dem Schuss schloss. Das schlanke Geschoss bohrte sich ausgerechnet in den Hals jener Frau, die zuvor den jungen Mann mit dem Speer grausam niedergemetzelt hatte. Nach dieser tödlichen Aktion zwangen die unsichtbaren Kräfte Alissa zum Verlassen des besetzten Feldes und sie nahm die Position ihre Opfers ein. Auch diesmal wehrte sich das Bewusstsein des jungen Mädchens gegen den permanent vorhandenen fremden Willen, aber ihre Muskeln gehorchten anderen Gesetzen.

Die Antwort des schwarzen Computers dauerte nicht lange. Mit dem Schwert seines Bauern schlug er dem weißen Springer den Kopf ab, der von einem älteren Herrn mit einem Dreizack in den Händen gespielt wurde. Alissa kannte ihn von der Busfahrt her, da er neben ihr am Fenster Platz genommen hatte. So kamen sie beide automatisch ins Gespräch.

Der Schlag des schwarzen Bauern, ein ehemaliger Boxer, wurde mit derart großer Kraft geführt, dass dem Alten nach dem Hieb die gezackte Waffe im hohen Bogen aus der Hand fiel und in die Abdeckung des weiß farbigen Computers schlug, hinter der etwas zersplitterte. Auf einem seiner Monitore erschienen einige Störlinien und im gleichen Augenblick wechselte Alissa, die weiße Königin, zum Nachbarfeld rüber, aber schon nach wenigen Sekunden eines fürchterlichen Zitterns in den Gliedmaßen wegen verließ und auf ihren vorherigen Platz zurückkehren musste. Das junge Mädchen wusste jetzt, dass der weiße Computer in einem früheren Spielabschnitt offenbar seine Königin bzw. Dame verloren oder, wie man vielleicht sagen würde, um der Verbesserung der Lage seiner Figuren auf dem Schachbrett willen bereitwillig geopfert hatte.

Jetzt allerdings waren schon sehr viele Figuren abgeräumt worden und keine der beiden Parteien besaß ein zahlenmäßiges Übergewicht, das heißt, keine verfügte über eine größere Anzahl von Spielfiguren, was für eine Meisterpartie typisch war. Ob die Weißen durch die Wiedergewinnung ihrer Königin oder Dame ein Übergewicht bekommen hatten, war bei der makaberen Lage nur sehr schwer abzuschätzen. Die Angst ließ eine genaue Analyse des Spiels nicht zu.

Plötzlich flackerte am schwarzen Computer ein rotes Lämpchen. Seine Kameraobjektive richteten sich auf die weiße Königin. Der weiße Computer spulte im gleichen Moment das letzte Stück der Aufzeichnung des Spiels um, zeigte mit dem Pfeil die Störungsstreifen auf dem Monitor an und ließ das Mädchen Alissa mit den Füßen auf das von ihr besetzte Feld stampfen, worauf der Schwarze, als ob er die Ursache der Störung nicht zu Kenntnis genommen hätte, die Reihe der Warnsignale wiederholte.

Es war klar, dass der schwarze Schachspielcomputer unter Berufung auf die bekannten Spielregeln gegen den schändlichen Entschluss seines Gegenspielers protestierte, der mit seiner Königin/Dame einen unüberlegten Schachzug gemacht und diese kurz danach schnell wieder zurückgezogen hatte, wohingegen sich der Weiße mit der augenblicklichen Unpässlichkeit durch die eingetretene Beschädigung mit dem Dreizack entschuldigte.

Das Spiel kam zum Stillstand. Erst als eine mechanische Hand, gesteuert von dem dritten Schiedsrichtercomputer, aus dem hinteren dunklen Teil des Saales mit einem schweren Hammer drohend auf den weißen Computer zufuhr, war dieser dazu bereit, sich an die harten Spielregeln zu halten. Alissa bekam den Befehl, auf das umstrittene Feld zurückzukehren. Noch während sie ihren erzwungenen Standortwechsel vornahm, dachte sie darüber nach, dass ihr während der Stadtbesichtigung ein Komponist aufgefallen war, der mehrmals gedankenversunken die Gruppe verloren hatte, bevor er ganz verschwand. Nun defilierte dieser Mann, den Helm des Turmes auf dem Kopf, an dem jungen Mädchen vorbei und blieb drei Felder weiter stehen, wo er die schwarze Königin/Dame verteidigte, die von seiner Freundin gespielt wurde, die eine bekannte Opernsängerin war. Auf der Schulter trug sie eine Waffe und wartete auf den Zug der Weißen.

Alissa blickte zu ihr hinüber und bemerkte ihren flehentlichen Blick. Die Opernsängerin war vor lauter Angst der Ohnmacht nahe. Trotzdem nahm das Mädchen die Armbrust hoch, spannte den Kolben und zögerte aber aus unbekannten Gründen noch etwas. Der Gedanke war erschreckend und absurd genug, dass der weiße Computer sich deswegen für den Austausch der schwarzen Königin/Dame entschieden hatte, damit nach ihrem Tod der schwarze Turm in einer etwas schlechteren Position zu stehen käme. Dann zwangen die feindliche Kräfte Alissa dazu den tödlichen Pfeil abzuschießen, der die Freundin des Komponisten direkt zwischen die Augen traf und tief in ihr Gehirn eindrang. Durch die Wucht des Schusses wurde der Schädel der Opernsängerin in zwei Hälften gespalten, was zur Folge hatte, dass sich ein entsetzlich aussehender Blutschwall über ihren zusammengesackten Körper ergoss und das Schachbrett an dieser Stelle in einem häßlich aussehenden Rot färbte.

Im Bewusstsein des Mädchens trat eine unheimliche Leere ein. Sie empfand es so, als hätte sie in einen Spiegel geschossen und sich dabei selbst getroffen.

Dann erblickte sie das vor Schmerz ergraute Gesicht des Komponisten, der mit ansehen musste, wie der Leichnam seiner lieben Freundin am Fleischerhaken weggezogen wurde und auf den Haufen der übrigen verstümmelten Toten landete. Ein paar Sekunden später drehte sich der schwarze Turm zu Alissa rüber und bewegte sich auf sie zu. Sein schwerer Axthieb fuhr nur wenige Zentimeter an ihrem Kopf vorbei und trennte ihr den rechten Arm ab. Die weiße Königin/Dame stürzte zusammen mit dem schwarzen Turm auf das blutverschmierte Schachbrett, wo beide regungslos liegen blieben.

***

Alissa wachte auf. Im gleichen Augenblick verspürte sie statt Schmerzen am Arm eine wohltuende Kühle auf der Haut. Zuerst sah sie den blauen Himmel, der nur an wenigen Stellen mit Wolken bedeckt war und sich bis zum Horizont erstreckte. Das Mädchen setzte sich hin. Sie erblickte das weite Meer, wo sich an einem wunderschönen weißen Strand sanfte Wellen brachen. Über ihr war ein roter Sonnenschirm gespannt und ihr brauner Körper steckte in einem rosafarbenen Badeanzug. Der Wind zerzauste ihre langen blonden Haare. Überall sonnten sich Menschen und Kinder spielten lustig mit ihren Strandbällen.

Ein Weile schaute Alissa in die Ferne. Etwas behinderte ihre Aussicht. Sie bemerkte die Leitungen, die von ihrer Stirn zum Apparat in ihrer Urlaubstasche führte. Sie nahm den schweren Metallring vom Kopf, wickelte das Kabel um ihn herum und legte das Gerät auf die Stranddecke. Sie musste sich wenige Minuten besinnen, bevor sie ganz wahrnahm, wo sie sich eigentlich befand. Obwohl sie schon mit einigen Aufnahmen vertraut war, konnte sie es noch immer nicht ganz glauben, dass das gerade Erlebte nur eine gespenstische Illusion gewesen war, die man als kleine elektronische Speicherwürfel samt dazugehörigem Abspielgerät in sog. Traumläden entweder käuflich erwerben oder gegen eine entsprechende Gebühr ausleihen konnte.

Ein etwa 20jähriger Mann mit einem enorm gut durchtrainierten Körper trat auf Alissa zu. Er beugte sich zu ihr runter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann nahm er den kleinen Kubus aus dem Apparat und zeigte ihr die farbige Plakette mit der Aufschrift „Schachspiel des Todes“.

Na, wie hat dir die Illusion gefallen, Alissa?“

Es ist ein Alptraum!“ rief sie aus. „Wie konntest du so etwas Schreckliches nur kaufen?“

Du wolltest dir doch eine Horrorillusion reinziehen. Tu jetzt nicht so, als sei ich daran Schuld, wenn dir das Ganze an die Nerven gegangen ist.“

Endet denn jede Geschichte mit dem Tod des Zuschauers? Man hat mir zum Schluss den Arm mit einer Axt abgetrennt und bin wohl elendig verblutet.“

Ja, ausnahmslos.“ antwortete der kräftige Mann in der schwarzen Badehose. „Auch dann, wenn die Projektion plötzlich unterbrochen wird, kommt der Held oder die Heldin augenblicklich durch irgendeinen Unfall um. – Aber sollten wir jetzt nicht lieber etwas schwimmen gehen und uns schöneren Dingen zuwenden, Alissa?“

Ja, du hast Recht!“ sagte das Mädchen und hielt dem jungen Mann beide Hände hin, damit er sie hochziehen konnte. Dann fuhr sie fort: „Komm, lass uns zum Strand runtergehen. Ich brauche eine kleine Erfrischung.“

Auf dem Weg zum Meer hatte Alissa den seltsamen Eindruck, dass der weite Strand aussah wie ein riesiges Schachbrettmuster. Ängstlich schmiegte sie sich an den jungen Mann, der ihr Freund war und schwor sich, nie wieder eine Horrorillusion anzusehen.

 


Ende

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 


2. Der Jäger

 

"Das Opfer ist des Jägers Tod."


 

***


Es ging auf den Abend zu. Die dunklen Schatten der riesigen Bäume wurden länger und länger, verschwanden jedoch schlagartig, als die Sonne von einer großen Wolkenwand knapp über dem Horizont verschluckt wurde.

 

Der Jäger Georg Palmer fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er schaute aufmerksam nach allen Seiten. Dann nahm er sein Strahlengewehr vom dreirädrigen Robotmobil und klemmte es mürrisch unter den rechten Arm. Er tat das nur ungern, weil die Müdigkeit von ihm langsam Besitz ergriff, und er ausgerechnet jetzt noch mehr Gewicht bergauf zu schleppen hatte, als ihm lieb war.

 

Das Roboterfahrzeug wurde nie müde; nun, das war bei einem solchen Ding ja auch nicht anders zu erwarten. Den ganzen Tag hindurch hatten sie zusammen einen Hügel nach dem anderen abgesucht. Jetzt schmerzten seine Füße von der andauernden Überanstrengung, aber an eine kleine Verschnaufpause war im Moment trotzdem nicht zu denken.

 

In dieser Gegend standen zudem noch viele Bäume dicht an dicht und ihre Äste reichten oft bis zum Boden hinunter, sodass Palmer die meiste Zeit gebückt dahin laufen musste; der flinke Roboter dagegen hielt leicht mit ihm Schritt. Er stellte seine Achshöhe je nach Bedarf einfach niedriger. Auch machte ihm die hohe Laubschicht keine Schwierigkeiten. Seine breiten Ballonräder fuhren einfach darüber hinweg.

 

Die grün leuchtenden Instrumente auf der Anzeigentafel lieferten ihm ununterbrochen Informationen aus der näheren Umgebung, weshalb Georg Palmer die ganze Zeit unter Anspannung stand. Er beäugte jeden Strauch und jeden Baum gleich zweimal, bevor er weiterging. Aber während der letzten halben Stunde war die Fährte, die er verfolgte, immer mehr verblasst. Palmer wollte sich deshalb auf dem Kamm des nächsten Hügels ein wenig ausruhen und wies den Dreiradroboter an, auf der erhöhten Lichtung vor ihnen anzuhalten. Hier war die Laubschicht der Bäume besonders dünn, was das Gehen erleichterte.

 

Palmer war schon viel zu lange über den braun goldenen Blätterteppich gelaufen, der das Vorwärtskommen ziemlich erschwert hatte. Auch seine Nackenmuskulatur tat ihm weh, weil er die meiste Zeit Oberkörper und Kopf wegen der tief hängenden Äste gesenkt halten musste, was auf Dauer sehr unangenehm war.

 

Endlich erreichte er die Anhöhe, wo sein quirliges Robotergefährt schon auf ihn wartete. Palmer atmete die frische Luft ein paar Mal tief ein und wieder aus. Schließlich schaute er sich um. Die Rundumsicht war von hier oben einfach großartig; das düster wirkende Land war zerklüftet und so gut wie unbewohnt, aber dafür hatte Palmer jetzt kein Auge übrig.

 

Plötzlich gab sein Roboter eine Infrarotwarnung und wies mit seinem dünnen Antennenstab auf eine mannsgroße Wärmequelle direkt vor ihnen im Gelände hin. Fast gleichzeitig entdeckte auch Palmer den Mann, der halb versteckt hinter einer mächtigen Eiche stand und offenbar Angst vor Palmer und dem Roboter hatte. Unsicher beobachtete der Fremde die herum kurvende Maschine, die mit einer kleinen Strahlenkanone auf ihn zielte.

 

Als Georg Palmer die Hand vorsichtig zum Gruß erhob, erwiderte der Unbekannte hinter dem Baum ihn nur zögerlich. Es vergingen ein paar Sekunden des gegenseitigen Schweigens, dann rief der Jäger seinen Namen und gab zusätzlich noch seine persönliche Kennzahl durch. Gleiches tat der Mann hinter dem Baum. Der intelligente Dreiradroboter prüfte umgehend die Information in seiner Datenbank, gab nach wenigen Augenblicken sein OK und bewegte sich mit Palmer zusammen auf die wartende Person zu.

 

Dann waren sie auf gleicher Höhe. Erst jetzt sah der Jäger ganz nebenbei die kleine Holzhütte, die hinter dem Fremden auf einer baum- und strauchlosen Rodung stand. Die beiden Männer schüttelten einander freundlich die Hände, und der andere gab sich mit seinem Namen Jack Flemming zu erkennen.

 

Ich bin der zuständige Forstaufseher für diese Region“, stellte er sich vor und zeigte gleichzeitig auf sein eingeschaltetes Funkgerät.

 

Ich wurde von der Zentrale davon unterrichtet, dass Sie sich hier in der Gegend aufhalten, Mr. Palmer. Ich weiß auch, dass Sie ein Jäger sind.“

 

Palmer schaute den Forstaufseher argwöhnisch an und sagte dann mit forschender Stimme: „Dann hat man Sie sicherlich schon davon unterrichtet, dass ich hinter einem Werwolf her bin.“

 

Hinter einem Werwolf, der ahnungslose Menschen anfällt, sie tötet und dann frisst? Hier in meinem Gebiet? Nun ja, es hat Gerüchte von schrecklich zugerichteten Leichen gegeben. Keiner weiß genau, von wem die stammen. Vielleicht ist da was wahres dran, vielleicht auch nicht. Richtig ist, dass sich in dieser Gebirgs- und Waldregion viele herum schleichen, die hier nichts zu suchen haben, seit ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung in die Städte abgewandert ist. Der riesige Raumflughafen in Slateport City bietet den Leuten einen sicheren Arbeitsplatz und viel Geld. Alle wollen da hin, weil er viel Abwechselung bietet. Die unterschiedlichsten Lebensformen aus allen Ecken des Universums scheinen sich dort zu treffen. Von den möglichen Gefahren spricht keiner, die von den fremdartigen Lebewesen ausgehen können. Aber niemand macht sich darüber Gedanken. Soll mir auch egal sein.“

 

Im Ton des Mannes schwang ein wenig Enttäuschung mit, da er es offensichtlich bedauerte, dass die einheimischen Bewohner die natürliche Gegend hier verlassen hatten, um in die große Stadt mit ihrem gewaltigen Raumschiffhafen zu ziehen, wo das Leben für sie angeblich angenehmer und aufregender sein soll.

 

Doch dann fuhr er schnell mit seiner Rede fort und blickte dabei nach oben in den dämmrig gewordenen Himmel.

 

Auf jeden Fall haben Sie sich genau den richtigen Zeitpunkt ausgewählt. Die Nacht ist gut für die Jagd auf einen Werwolf, sollte es so eine Bestie hier überhaupt geben.“

 

Wie meinen Sie das?“ fragte Palmer energisch zurück.

 

Wir haben heute Vollmond. Die Werwölfe erreichen dann ihre größte Macht, wenn der Mond voll am nächtlichen Himmel steht“, gab der Forstaufseher zur Antwort und tat so, als kenne er sich mit diesen fürchterlichen Monstern gut aus.

 

Palmer musste dem Mann trotzdem Recht geben, und genau deshalb wurde er seine innere Unruhe nicht los. Er war davon überzeugt, dass es diesen Werwolf wirklich gab.

 

Der dreirädrige Roboter hielt sich derweil in der Nähe der beiden Männer auf und drehte seine Antenne in alle Richtungen. Plötzlich setzte sich das Gefährt schaukelnd und holpernd in Bewegung. Palmer, der Jäger, folgte dem Roboter bis zum Rand einer kleinen Felswand hinter der Holzhütte, wo er neben der Maschine stehen blieb.

 

Dort ist das Tal der verschwundenen Wanderer. Leider kann man von hier aus den Fluss nicht erkennen, an dessen Ufer man angeblich einige grässlich verstümmelte Leichen gefunden haben will“, erklärte der Forstaufseher Jack Flemming, der lautlos hinter Palmer getreten war und ihn deshalb ein wenig erschreckte. Er mochte es nicht, wenn man ihm zu nah auf die Pelle rückte.

 

Was Sie nicht sagen. – Haben Sie denn schon mal einen Werwolf leibhaftig zu Gesicht bekommen oder ist Ihnen in der letzten Zeit irgend jemand aufgefallen, der ein Werwolf sein könnte, Flemming?“

 

Mmh...! Heute früh sah ich jemanden kommen. Ja. – Sein Name ist Gyfal Berinsky. – Zuerst kam er alleine, dann waren plötzlich mehrere da“, erwiderte der schlanke Forstaufseher grübelnd. Sie alle identifizierten sich allerdings mit ihren Kennzahlen. Aber ich habe mit keinem von ihnen gesprochen; sie sagten auch nichts zu mir. Ich empfand das als ungewöhnlich, doch dachte ich mir, dass diese Leute wohl schon einen Grund dafür hätten. Vielleicht wollten sie nur in Ruhe gelassen werden. Mehr nicht! Das soll’s ja auch geben.“

 

Kannten Sie die Leute vielleicht? Oder einige von ihnen?“ fragte Palmer neugierig.

 

Was heißt kennen? Ich kenne viele hier aus dieser Gegend. In den Wäldern trifft man tagsüber immer wieder auf irgendwelche Touristen, mit denen man redet. Darunter sind auch Männer, die sich manchmal mehrere Monate hier in dieser waldreichen Naturlandschaft aufhalten. Sie streifen überall herum. Sogar in den Bergen habe ich schon welche von ihnen angetroffen. Einige sehen tatsächlich ziemlich verwildert aus und tragen eine lange Mähne. Man könnte wirklich Angst vor ihnen bekommen. Jedoch taten sie mir niemals etwas zuleide. Außerdem bin ich gut bewaffnet.“

 

Aber Sie fürchten sie trotzdem und würden des Nachts lieber keinem dieser Typen begegnen wollen. Es könnte ja ein Werwolf unter ihnen sein – oder?“

 

Ich sagte ja schon, dass hier gewisse Gerüchte im Umlauf sind, die auch mir Angst einflößen. Man sagt ja, dass diese Ungeheuer nicht menschlich sind und über Kräfte verfügen, welche die unseren weit übersteigen“, antwortete Flemming und fuchtelte mit seinen Armen beschwörend in der Luft herum.

 

Diese Drecksviecher kann man töten. Wir verfügen über widerstandsfähige und kampferprobte Roboter und besitzen sehr effektive Waffen. Eine ernstliche Bedrohung sind sie eigentlich nicht", sagte der Jäger abschätzig.

 

Flemming sah Palmer plötzlich mit ernstem Gesichtsausdruck an.

 

Sind Sie sich da so sicher? Sie reden wie diese verwöhnten Stadtmenschen aus Slateport City mit ihrem riesigen Raumschiffhafen weiter oben an der Küste. Der wachsende Wohlstand lässt die Leute degenerieren. Wie lange sind Sie denn schon hier und pirschen hinter diesem vermeintlichen Werwolf her, Palmer?“

 

Seit mehr als zwei Woche. Einmal meinte ich schon, ich hätte ihn getroffen, als ich meine Strahlenwaffe auf ihn abgeschossen habe. Er sah aus wie ein alter Mann mit sehr langen grauen Haaren und kantigen Gesichtszügen und langen Reißzähnen. Er lief in Richtung ihres Gebietes.“

 

Ich habe niemanden gesehen. Egal wie auch immer. Bleiben Sie und essen Sie mit mir! Es wird sowieso gleich dunkel und ich brauche mal einen Menschen, mit dem ich reden kann.“

 

Ok, einverstanden! Ich hole nur meinen Roboter zurück und postiere ihn draußen vor dem Eingang Ihrer Hütte, falls Sie nichts dagegen haben. Er wird gut auf uns aufpassen. Sein Verteidigungsmodus schaltet sich automatisch ein, sobald seine Infrarotsensoren etwas Ungewöhnliches bemerken sollten.“

 

Wenn Sie damit Ihr Sicherheitsgefühl befriedigen können, soll es mir recht sein, Palmer“, gab der Forstaufseher spontan zur Antwort und aß genüsslich ein Stück eines wilden Tieres, das er fast roh hinunter schluckte.

 

Georg Palmer fühlte sich davon angewidert und verzehrte dafür lieber seine eigenen Rationen aus dem Robotermobil, das sich jetzt wie ein stählernes Denkmal vor dem Eingang der Holzhütte postiert hatte. Die gefährlich wirkende Strahlenkanone bewegte es dabei langsam nach allen Seiten, als würde es damit die gesamte Umgebung nach Feinden absuchen.

 

Glauben Sie, dass es diese Werwölfe auch schon woanders gibt“, fragte Flemming plötzlich den verblüfften Jäger.

 

Sie meinen in den Städten – oder?“

 

Ja“, nickte Flemming.

 

Möglich. Man hat schon davon gehört. Genaues weiß man nicht. Einen Fall soll es aber bereits oben an der Küste gegeben haben. Dort fand man am Strand zwischen den abgestellten Fischerbooten die menschlichen Überreste einer schrecklich zugerichteten jungen Männerleiche. Die Bestie hat nur noch die blanken Knochen und ein paar Fetzen Fleisch übrig gelassen.“

 

Teufel noch mal, Palmer. Das sind ja richtige Gruselgeschichten, die Sie mir da erzählen. Mir wird angst und bange.“

 

Plötzlich flackerte das Deckenlicht in der Hütte, was störend wirkte.

 

Der Stromgenerator macht manchmal Schwierigkeiten. Nichts besonderes. Wir wollen aber jetzt lieber nicht über Werwölfe und andere Ungeheuer sprechen“, bat Flemming und stopfte sich die nächste Portion rohes Fleisch zwischen die Zähne. Palmer sah einfach weg und hätte fast gewürgt. Dann kam er auf das Thema Werwölfe zurück.

 

Zusammen mit den Robotern werden wir sie alle jagen und erledigen“, sagte er zuversichtlich und deutete auf seine gefährliche Strahlenwaffe hin, die neben ihm am Tisch lehnte.

 

Kann schon sein. Aus Ihnen spricht die reine Jägerseele“, sagte Flemming, machte dabei ein ziemlich säuerliches Gesicht und schaltete etwas unhöflich sein Handphon ein, als wollte er Palmers Worte einfach ignorieren.

 

Wenig später tat es ihm Palmer nach. Die Vermittlung meldete sich sofort, und er bat darum, an die Satellitennachrichten angeschlossen zu werden. Man sagte ihm allerdings, er solle die Vermittlung in einer Stunde wieder anwählen, weil die Leitung überlastet sei.

 

Flemming dagegen hatte einen spannenden Spielfilm eingeschaltet. Offenbar benutzte er eine andere Satellitenverbindung. Palmer konnte von seinem Platz aus die Bilder auf dem Monitor des Forstaufsehers nur verzerrt sehen. Er stand deshalb auf und ging zur Hüttentür.

 

Der Roboter stand draußen, ignorierte ihn jedoch. Über der gesamten Rodung lag ein merkwürdiges Licht; es herrschte tiefes Zwielicht, denn der Mond ging gerade auf und sein gespenstischer Schein ergoss sich auch über den vor ihm liegenden Hügel, der jetzt einen düsteren Eindruck auf ihn machte. Der Jäger war erstaunt darüber, wie schnell der Tag vergangen war. Er wurde sich plötzlich seiner eigenen Existenz bewusst, die nur eine begrenzte Lebensspanne umfasste. Dieser nach innen schauende Blick war für ihn ein wenig ungewohnt, sodass er sich auf einmal selbst davor ängstigte, noch dazu in dieser mondhellen Nacht, die ihm irgendwie unwirklich vorkam. Er dachte darüber nach, dass es nun höchste Zeit sei, den Werwolf, oder was es auch immer zu sein pflegte, aufzuspüren, um ihn zu töten, damit er so schnell wie möglich zur Stadt zurückkehren kann.

 

Als er so draußen vor dem Eingang der Hütte stand, hörte er, wie Flemming hinter ihm herankam.

 

Es tut mir leid, Palmer“, sagte er, „dass ich vorher so unhöflich zu Ihnen war, obwohl ich mich eigentlich doch darüber gefreut habe, Sie bei mir zu haben. Ich gebe zu, dass ich eigensinnig und engstirnig bin. Wissen Sie, ich bin die Städter nicht gewöhnt. Das ängstigt Sie wohl ein bisschen. Sie dürfen deshalb nicht beleidigt sein. Ich hoffe nicht, dass Sie glauben könnten, ich selbst sei vielleicht ein Werwolf, nur weil ich hier draußen so gerne in der Wildnis lebe und rohes Fleisch esse. Das tue ich nicht immer, was Sie mir ruhig glauben dürfen.“

 

Ich könnte Sie einem Bluttest unterziehen, sofern Sie dem zustimmen würden, Flemming. Dann wären alle Zweifel zwischen uns beiden ausgeräumt.“

 

Der Jäger griff instinktiv nach seiner Strahlenwaffe und hielt sie mit beiden Händen fest umklammert.

 

Nur so für alle Fälle“, bemerkte er nebenbei.

 

Flemming starrte ihn an und sagte dann: „Kann ich verstehen, Palmer. Sie glauben also, der Werwolf könnte hier in der Gegend sein? Vielleicht ist er Ihnen sogar gefolgt, anstatt Sie ihm? Könnte es sogar sein, dass er Sie angelockt hat, ohne dass Sie es selbst bemerkten? Was meinen Sie?“

 

Sie sagten ja vorhin schon, dass Vollmond ist. Er ist mit Sicherheit hier ganz in meiner Nähe“, gab ihm Palmer zur Antwort.

 

Irgendwo zwischen den Bäumen hinter der Rodung erklang ein unheimlicher Schrei, der gleich mehrmals hintereinander wiederholt wurde.

 

Flemming bat den Jäger wieder in die Hütte zu kommen und die Tür zu schließen. Dann stellte er eine Flasche Wein und zwei Gläser auf den Tisch, den sie zusammen tranken.

 

Wollen Sie heute noch den Werwolf töten oder was sie dafür halten, Palmer?“

 

Wenn er sich mir zeigt oder es nur den Anschein hat, dass er sich in dieser Gegend herumtreibt, will ich ihn in dieser Nacht noch töten. Mein Roboter wird mir dabei helfen. Danach gehe ich in die Stadt zurück.“

 

Palmer, du irrst. Es gibt keine Werwölfe. Die Menschen glauben an so viele unsinnige Dinge und sogar daran, dass es diese Bestien gibt. Aber ich weiß es besser. Glauben Sie mir.“

 

Palmer runzelte die Augenbrauen und blickte mit wachsendem Argwohn zum Forstaufseher hinüber, der ihn plötzlich mit seltsamen Blick anstarrte.

 

Aber damit will ich nicht sagen, dass es keine Ungeheuer oder Monster gibt, die Menschen jagen, sie töten und danach sogar gierig auffressen. Doch, doch..., es gibt sie“, sagte Flemming mit einem seltsam grunzenden Ton in seiner Stimme.

 

Georg Palmer bemerkte ausgerechnet in diesem Augenblick mit Entsetzen, wie sich alles vor seinen Augen zu drehen begann und die Arme seltsam schwer wurden. Irgendwas stimmte hier nicht. Der Wein war manipuliert. Er griff nach seinem Glas und schlug es mit letzter Kraft vom Tisch. In Panik versuchte er sich noch aufzurichten, um an seine Strahlenwaffe zu gelangen, was ihm jedoch nicht mehr möglich war. Er rutschte im nächsten Augenblick kraftlos wie eine Gummipuppe wehrlos vom Stuhl und fiel der Länge nach polternd auf den Holzfußboden, wo er mit paralysiertem Körper liegen blieb.

 

Trotzdem konnte er die grunzenden Worte Flemmings noch deutlich hören, wenngleich sie sich wie ein fernes Echo anhörten.

 

Ach Palmer, wissen Sie eigentlich, dass Sie mir wie eine Fliege ins Netz gegangen sind? Wie ich schon sagte, es gibt sie wirklich, diese schrecklichen Monster. Niemand hat sie eigentlich je direkt zu Gesicht bekommen und wenn doch, dann hat es keiner von ihnen überlebt. Man erzählt sich eine Menge unheimlicher Geschichten über diese Bestien. Ich glaube sogar Hunderte von Geschichten, die alle von dieser schrecklich bösartigen Kreatur berichten, die keine menschliche sein soll. Manche behaupten sogar, sie könne die Gestalt von Menschen annehmen und sich von einer Sekunde auf die andere in ein mit langen Zähnen und scharfen Klauen ausgestattetes Ungeheuer verwandeln, das wie eine aufrecht gehende Echse aussieht und eine Schuppenhaut hat. Es spuckt schwarzen Eiter aus, der so giftig sein soll, dass jedes Lebewesen augenblicklich daran stirbt. Wenn es sein Opfer gefressen hat, verschwindet es wieder unauffällig und taucht lange Zeit nicht mehr auf. Ich persönlich halte es für ein Alien, das aus den unergründlichen Tiefen des Alls hin und wieder den Planeten Erde besucht, um auf Jagd zu gehen. Tja, aber genug der vielen Worte. Ich werde dich jetzt töten und dann fressen, Palmer. Deine Jagd ist hier auf jeden Fall zu Ende. Ein für allemal!“

 

Georg Palmers Blick nahm verschwommen wahr, wie Flemming sich langsam Schritt für Schritt in eine echsenartige Kreatur mit riesigen Reißzähnen verwandelte und wenige Augenblicke später eine schwarz aussehende Flüssigkeit über ihn ausspie. Er wollte noch schreien, brachte aber, weil schon im Todeskampf liegend, keinen Ton mehr über die Lippen.

 

Die Bestie grunzte zufrieden, als sie die Leiche des Jägers gierig in Stücke riss und genüsslich verspeiste. Nur die Knochen blieben übrig. Dann holte die hässliche Kreatur einen silbrig glänzenden Bumerang aus der geöffneten Tischschublade hervor, drückte mit seiner Pranke sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberfläche und löste sich kurz darauf wie ein verblassendes Bild langsam auf. Wenige Augenblicke später war die blutrünstige Gestalt im Nichts verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

 

***

 

Unter den zahlreichen Passagieren eines gewaltigen interstellaren Raumschiffes befand sich auch ein großer hager aussehender Mann in einer schwarzen Raumfahreruniform. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.


Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der intergalaktischen Fluggesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.

 

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen.

 

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch unmerklich für wenige Sekundenbruchteile nur, in die hässliche Gestalt eines echsenartigen Monsters verwandeln.

 

ENDE

 

 

©Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

3. Die Realtraum AG

 

Träume haben unfehlbare Auswirkungen auf unser Leben.“

 


***


Ein fürchterlicher Schrei ließ den alten Steve McCamlan um drei Uhr nachts im Bett hochfahren.

Draußen peitschte der Regen auf das Dach und trommelte unablässig gegen das geschlossene Schlafzimmerfenster seines gemütlich eingerichteten Hauses, das er sich vor knapp acht Jahren als Altersruhesitz von einer unverhofften Erbschaft gekauft hatte. Das Anwesen befand sich in einer äußerst ruhigen Wohngegend und war rundherum von einem schönen gepflegten Garten umgeben. Die weitläufig angelegte Siedlung wurde durch eine holprige Asphaltstraße in zwei Hälften geteilt, die an ihrem Ende, vor einem kleinen Buchenwäldchen, als Sackgasse in einem breiten Rondell mündete.

 

McCamlan warf die wärmende Bettdecke zur Seite, setzte sich auf und lauschte.

Dann rief er nach seiner Frau.

Susan...?“

 

Erst jetzt fiel McCamlan ein, dass seine Frau gar nicht zu Hause, sondern tags zuvor in aller Herrgottsfrüh zu ihrer etwas jüngeren Schwester in die nah gelegene Stadt gefahren war. Sie wollte erst am Wochenende wieder zurück kehren. Etwas verlegen kratzte sich der alte Mann an seine runzlige Stirn, nachdem er seinen Irrtum bemerkt hatte. So was war ihm schon lange nicht mehr passiert

 

Dann lauschte er noch einmal.

 

Da draußen muss auf jeden Fall etwas gewesen sein. Es klang wie der Schrei eines verletzten Menschen. Vielleicht kann ich vom Wohnzimmerfenster aus etwas erkennen. Ich schau' sicherheitshalber mal nach. Man weiß ja nie, ob jemand in Gefahr ist und Hilfe braucht“, murmelte McCamlan halblaut vor sich hin.

Der Alte konnte seine Neugier jetzt einfach nicht mehr bändigen. Schließlich schlüpfte er in die warmen Filzpantoffeln, ging mit schlürfenden Schritten hinüber ins Wohnzimmer und zog das schwere Fensterrollo hoch. Dann schob er vorsichtig die Gardine zur Seite, um freien Blick nach draußen zu bekommen. In diesem Moment schoss plötzlich ein greller Blitz vom dunklen Nachthimmel herunter, der Sekunden später von einem lauten Donnerschlag gefolgt wurde.

 

McCamlan zuckte vor Schreck zusammen, blickte dennoch unbeirrt weiter aus dem Fenster und beobachte angestrengt die schlecht beleuchtete Straße vor seinem Grundstück. Eine Serie von heftigen Blitzen folgten kurz hintereinander. Sie ließen für einige Augenblicke die Nacht zum Tage werden. Fast zeitgleich bemerkte er plötzlich eine regungslos da stehende Person auf dem schmalen Fußgängerweg, die dicht an seinem Gartenzaun lehnte und offenbar schon seit längerer Zeit sein Haus beobachtete.

Erschrocken und leicht irritiert über diesen seltsamen nächtlichen Besuch ließ McCamlan abrupt die Gardine los, stellte sich etwas abseits hinter den bodenlangen Vorhang, wo man ihn nicht sehen konnte und hoffte insgeheim, dass er sich vielleicht nur getäuscht hat.

Er dachte darüber nach, was zu tun sei. Dann ging er hinüber zum Wohnzimmerschrank und holte aus der rechten oberen Schublade seine Halogentaschenlampe, die dort für Notfälle hinterlegt war. Anschließend nahm er wieder den gleichen Platz am Wohnzimmerfenster ein und ließ den hellen Lichtkegel der Taschenlampe durch den prasselnden Regen an der Innenseite des Straßenzauns seines Grundstücks entlangfahren.

 

Da!

 

Der alte McCamlan ließ den unruhig zitternden Lichtkegel zurück huschen. Er hatte sich also doch nicht geirrt. Die dunkle Gestalt stand immer noch wie erstarrt vor dem Zaun und blickte unverwandt direkt zu ihm herüber. Ein mulmiges Gefühl stieg jetzt in dem Alten hoch, denn er war ganz allein im Haus. Irgendwie machte ihn das hilflos und total unsicher. Er wünschte sich in diesem Moment, seine Frau Susan wäre jetzt bei ihm.

Steve McCamlan riss sich trotz steigender Nervosität zusammen. Ihm war mehr oder weniger klar, dass nur ein Verrückter oder ein Einbrecher auf die absurde Idee kommen könne, so spät in der Nacht, noch dazu bei diesem Unwetter, draußen herumzulaufen, um andere Leute durch ihr irres Verhalten zu erschrecken. Bei diesem Gedanken fing der alte Mann an zu schwitzen, denn er musste sich eingestehen, dass seine Situation im Augenblick mehr als nur beängstigend war.

Dann erinnerte er sich plötzlich daran, dass er ja noch einen Trommelrevolver besaß, der seit vielen Jahren stets gut gepflegt zusammen mit einer vollen Schachtel Munition im Safe seines Arbeitszimmers lag. Jetzt ärgerte sich McCamlan darüber, dass er nicht gleich darauf gekommen war. Wenigstens konnte er sich damit wirksam verteidigen, wenn es brenzlig werden sollte.

 

Sofort kam ihm eine Idee, die er sogleich in die Tat umsetzen wollte.

Er verließ das Wohnzimmer, ging durch den langen Gang hinüber in sein Arbeitszimmer und holte den Revolver samt 9mm-Munition aus dem Safe. Nachdem er die Waffe geladen hatte ging er wieder in den Flur zurück, zog sich die Gummistiefel an und nahm den Regenponcho von der Garderobe, den er sich locker über die Schulter legte. Keine fünf Minuten später stand er draußen vor der Haustür mitten im strömenden Regen und marschierte zielstrebig durch den Eingangsbereich seiner Garageneinfahrt rauß auf die Straße, wo der unheimliche Fremde noch immer auf dem schmalen Gehweg am Zaun seines Grundstücks verharrte.

Etwa zwei Meter vor der regungslos da stehenden Gestalt blieb McCamlan vorsichtshalber stehen. Dann hob er die Waffe und zielte auf ihren Körper. Als ob sie ihn erst jetzt bemerkt hätte, drehte sich die Person plötzlich zu ihm herum, sodass der alte Mann ihr direkt ins Gesicht sehen konnte.

Den Revolver immer noch im Anschlag machte McCamlan instinktiv einen Schritt zurück, denn der Unbekannte war ein Mann, der etwa so groß war wie er. Sein hageres Gesicht sah knöchern und eingefallen aus, als hätte er seit mehreren Wochen schon kein richtiges Essen mehr zu sich genommen. Der Fremde machte auf den Alten einen ziemlich erbarmungswürdigen Eindruck, was ihn dazu bewog, ihn direkt anzusprechen.

Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ fragte er den völlig durchnässten Mann, der irgendwie nach faulendem Humus roch. McCamlan war einigermaßen verblüfft darüber, als dieser ohne Umschweife sofort antwortete. Seine Stimme klang tief und hallte ein wenig nach.

Sieh mal einer an! Der alte McCamlan bedroht mich mit einem Schießeisen. Pah...! Willst du mich vielleicht damit umbringen oder was? Steck' das Ding lieber gleich wieder weg! Damit kannst du bei mir sowieso nichts ausrichten, mein Guter.“
Dann tat er so, als wolle er einen Schritt nach vorn machen, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen.

Steve McCamlan riss sofort den rechten Arm mit der Pistole in der Hand nach oben. Seine Worte überschlugen sich fast, als er den Unbekannten dazu aufforderte, keinen Schritt weiterzugehen.

Ok, ist ja schon gut! Nur nicht aufregen, McCamlan! Bleib' ganz ruhig! Ich muss zugeben, dass ich mich schon irgendwie darüber wundere, wie stark deine Emotionen noch sind, obwohl du doch schon längst tot bist.“

Der Alte stutzte nach diesen makaberen Worten des Fremden, der ihm jetzt irgendwie Angst einjagte. Seine Nerven lagen blank. Hatte der Kerl da vor ihm nicht gerade behauptet, er, McCamlan, sei längst tot?

Wie kommen Sie überhaupt dazu, mich für tot zu erklären, Sie Spinner! Wer sind Sie eigentlich und was wollen Sie von mir? Ich mag diese Art von dummen Spielchen nicht. Verschwinden Sie lieber, und zwar gleich auf der Stelle, bevor ich Sie noch aus Versehen erschieße, Sie unsympathischer Zeitgenosse.“

Sein Gegenüber kicherte plötzlich wie eine alte Hexe. Dann schaute er McCamlan direkt in die Augen und sagte mit warnender Stimme: „Schau' mich an, alter Mann! Was denkst du eigentlich wer ich bin? Sehe ich aus wie ein Verbrecher oder denkst du von mir vielleicht, ich sei verrückt? Weit gefehlt, mein Lieber! Ich bin der Tod und bin gekommen, um dich zu holen. Ein für allemal! Die meisten Menschen tun in meiner Gegenwart immer so, als ob sie mich nicht kennen würden..., selbst dann, wenn sie schon längst steif und kalt geworden sind wie du. - Merkst du das denn nicht?“

Steve McCamlan wurde plötzlich leichenblass im Gesicht. Die provozierenden Worte des Unbekannten, der sich ihm gegenüber als der personifizierte Tod ausgab, hatten ihn nicht nur zutiefst schockiert, sondern versetzten ihn auch in eine leichte Panik, die er nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Die Situation ähnelte einem Albtraum, der sich zu verselbständigen drohte. Doch McCamlan behielt die Nerven.

 

Wenn ich tot sein soll, warum steh' ich dann hier draußen vor Ihnen im Regen und halte eine Pistole in der Hand? Können Tote vielleicht reden? Ich bin doch nicht irrsinnig! - Also lebe ich.“

Ach, McCamlan, schau doch mal richtig hin! Alles nur Einbildung! Der Regen geht durch dich hindurch, weil du ein körperloser Geist bist. Ein schwaches Abbild dessen, was du einmal warst. Mehr nicht! - Flüchtig wie Gas. Aber das geht den meisten Verstorbenen so. Sie glauben immer noch ganz fest daran, sie würden körperlich existieren und empfinden das auch so. Sie leben in einer Welt des Überganges, weil sie nicht loslassen wollen oder nicht loslassen können. Mach' also endlich Schluss mit dem Selbstbetrug und akzeptiere deinen eigenen Tod! Und wenn ich dich immer noch nicht davon überzeugt haben sollte, dann geh' mit mir in dein Haus. Dort zeige ich dir, dass du schon lange steif wie ein kalter Fisch in deinem Bett liegst und bereits langsam von den Würmern aufgefressen wirst. - Komm' mit, wenn du keine Angst vor dem Anblick deiner eigenen Leiche hast!“

Der alte Mann blickte nun skeptisch an sich runter. Tatsächlich musste er schockiert feststellen, dass die Regentropfen quer durch ihn hindurch schlugen und genau dort, wo er mit seinen vermeintlichen Gummistiefeln stand, im hohen Bogen spritzend auf dem Boden prasselten.

Ungläubig ging er zurück in sein Haus. Sofort suchte er das Schlafzimmer auf und trat mit zögerlichen Schritten an sein Bett, wo er sich selbst mit weit aufgerissenen Augen tot liegen sah. Ekel erregende Würmer und klebrige Maden krochen bereits überall in und auf seiner Leiche herum. Der verwesende Mund war wie zu einem stummen Schrei weit geöffnet.

Der Tod stand plötzlich wieder neben dem alten Mann. Verständnisvoll legte er dem stumm da stehen McCamlan die knöcherne Skeletthand von hinten auf die Schulter und sagte mit sonorer Stimme: „Na, was hab' ich dir gesagt? Du hast mir eben nicht glauben wollen. Jetzt hast du dich selbst davon überzeugen können, dass du wirklich gestorben bist. Der Tod lügt nicht und scherzt auch nicht bei seiner Arbeit. Komm' also mit! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“

Der alte McCamlan fing an zu zittern wie Espenlaub, schlug plötzlich wie wild um sich und schrie dabei laut um Hilfe. Dann, mit einem Schlag, wurde es finster um ihn herum.


***

Eine Sirene erklang. Der Traumwächter ließ seinen prüfenden Blick über die einzelnen Kontrolllämpchen des mattgrünen Schaltpultes der Horrorabteilung für Realvisionen gleiten und sah sofort, dass im Raum Nr. XII etwas nicht stimmte. Ein älterer Klient lag in der geschlossenen Halluzinationsbox und schlug wie wild mit beiden Armen um sich. Er schrie verzweifelt laut um Hilfe.

Der Assistenzandroide klinkte sich aus seiner Wartevorrichtung und raste in die dezent abgedunkelte Abteilung für Alb- und Horrorträume. Mit ein paar Handgriffen öffnete er die schalldichte Luke der Box Nr. XII und gab dem alten McCamlan ohne lange zu zögern eine Beruhigungsspritze. Zwischenzeitlich war auch der Psychiater und Neurologe Dr. Mantell eingetroffen, der heute als Bereitschaftsarzt für diese Sektion eingeteilt war.

McCamlan hatte sich mittlerweile aus dem Körper angepassten Schalensitz erhoben und saß jetzt aufrecht mit schweißnassem Gesicht vor dem Nervenarzt, der ihn besorgt beobachtete.

Was ist passiert, Mister Camlan? War der Horrortrip zu real für Sie? Ich möchte höflichst darauf hinweisen, dass Sie selbst die Einstellung „extrem“ gewählt haben. Sie hätten besser auf uns hören und erst mit der niedrigsten Stufe anfangen sollen. Trotzdem möchte sich unser Team bei Ihnen entschuldigen. Wir sind natürlich daran interessiert, dass Sie auch weiterhin ein zufriedener Kunde unserer Realtraum AG bleiben und bieten ihnen daher für ihre nächste Session einen kostenlosen Sextrip mit einer 23jährigen Traumfrau an. Na, was sagen sie dazu?“

 

Ist schon Ordnung, Dr. Mantell. Ich nehme ihr Angebot dankend an. Das nächste Mal werde ich mich an ihre Ratschläge halten. Übrigens dürfen sie die elektronischen Aufzeichnungen meines Albtraumes vernichten. Der Trip war schrecklich..., einfach zu real. Darauf lasse ich mich in Zukunft nicht mehr ein. - Sowas möchte ich nicht noch einmal erleben."

Der Sektionsarzt nickte verständnisvoll und rief auf Wunsch von Mister McCamlan eines dieser geräuschlosen Transmissionstaxen, das bereits draußen wartete als McCamlan das gläserne Prachtgebäude der Realtraum AG verließ. Die Seitentür öffnete sich vollautomatisch und der alte Mann nahm auf dem weich gepolsterten Rücksitz gemütlich Platz. Sanft und geräuschlos schloss sich die Einstiegstür wieder. Dann fuhr das Taxi leise surrend davon.

Am Steuer saß eine knöcherne Gestalt in einem schwarzen, nach faulendem Humus stinkenden Anzug, die der alte Steve McCamlan wegen der getönten Scheiben beim Einsteigen in das Fahrzeug aber nicht sehen konnte.

Kurz darauf drang ein fürchterlicher Todesschrei aus dem davon brausenden Taxi, der allerdings im lauten Stadtverkehr unterging und von niemandem mehr gehört wurde.

 


Ende


©Heinz-Walter Hoetter



 


 

***


 

 


4. Das Monster treibt wieder sein Unwesen

 

 

Draußen herrschte ein erbarmungsloser Frost. Lange Eiszapfen hingen überall von den weit verstreut liegenden Gebäuden unterschiedlichster Bauformen und den Ästen der skurril aussehenden Bäume. Die weite Landschaft war mit einer dicken Schneeschicht überzogen, an einigen Stellen hatten die vergangenen, heftigen Schneegestöber die weiße Pracht meterhoch aufgetürmt.

Ich befand mich allerdings nicht auf der Erde.

Die wuchtige Schleusentür eines großen, igluartigen Hauses öffnete sich mit einem zischenden Geräusch. Warme Luft drang nach außen und kondensierte schlagartig zu einer flüchtigen Wolke aus feinen Eiskristallen.

Lazar Tarock hatte offenbar schon gewusst, dass ich kommen würde und den Öffnungsmechanismus der metallenen Haupteingangstür rechtzeitig in Gang gesetzt.

Wenn man einen Hundertjährigen besucht, erwartet man in der Regel einen alten Mann zu begegnen, der sich mehr oder weniger mit seiner Sterblichkeit bereits abgefunden hat und genau aus diesem Grunde eigentlich einen gewissen Grad an innerer Ruhe, Gelassenheit und schicksalsbedingter Resignation ausstrahlen sollte. Man spricht zwar nicht gern darüber, aber man kann zum Beispiel am leeren Blick der Augen und am gebrochenen Klang der Stimme hören, dass bei alten Menschen so eine Art Weltverdrossenheit oder das resignierende Gefühl von Lebensüberdruss vorherrschte, als gäbe es nichts, aber rein gar nichts mehr, was noch zu überraschen imstande gewesen wäre.

Lazar Tarock jedoch war zu meiner großen Überraschung ein reines Energiebündel, der jetzt mit entschlossenen Schritten zur geöffneten Schleusentür herauskam und zielstrebig durch den tiefen Schnee auf mich zuschritt. Sein eng anliegender, wärmender Ganzkörperanzug ließ ihn wie ein Raumfahrer aussehen.

Dann stand er vor mir. Bevor er sprach, atmete er eine kleine Nebelwolke aus und nahm mich konzentriert in Augenschein.

Sind Sie der legendäre Mike Storm?“ fragte er mich mit fester, sonorer Stimme und hielt mir spontan die rechte Hand zum Gruß hin.

Ja..., Mr. Tarock, der bin ich. Aber das mit dem ‚legendär’ lassen wir lieber mal weg.“

Na ja, auch gut. Nun kommen Sie schon herein junger Mann! Sie werden hier draußen noch erfrieren. Warum haben Sie keinen Thermoanzug an?“

Ich zögerte etwas.

Ich kam mit einer Schneeraupe. Die sind innen gut beheizt und der Weg zu Ihnen war nicht weit. Der Raumflughafen Telstar One liegt ja gleich mehr oder weniger um die Ecke“, erwiderte ich ihm.

Sie sind ziemlich leichtsinnig, mein Freund. Hier auf dem Planeten Lanthea sinken die Temperaturen bisweilen schon mal schlagartig auf Minus 60 Grad. Da sollten Sie so einen Ganzkörperanzug immer dabei haben. – Schon aus Sicherheitsgründen, wenn Ihnen was am eigenen Leben liegt.“

So gesehen haben Sie das Recht auf ihrer Seite“, gab ich schnell etwas verlegen zu und ging an Mr. Tarock vorbei in das kuppelartige Haus, dessen gemütlich eingerichteten Räume mich überraschten. Als ich das Ende des langen Röhrenganges durchquert hatte, stand ich plötzlich in einem Wohnraum vor einem brennenden Kaminfeuer. Knisternd stoben rotglühende Funken nach oben in den Abzug.

Der alte Lazar Tarock war mir unmittelbar gefolgt, ging schließlich hinüber zu einem Schrank und öffnete eine kleine Minibar. Dann sah er zu mir hinüber.

Nehmen Sie doch Platz, Mr. Storm! – Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Unbedingt“, gab ich auf der Stelle zur Antwort.

Er förderte einen Dekanter mit dunkelrotem Landwein zutage und als ich ihm meine Hilfe anbot, beharrte Mr. Tarock darauf, dass ich sitzen bleiben und mich entspannen solle.

Wie ich erfahren konnte, hatten Sie einen langen Flug“, sagte er mit Bestimmtheit und entfernte den Korken, schenkte zwei Gläser ein, reichte mir eins rüber und brachte ein Toast aus.

Auf alle, die in der interstellaren Raumflotte Dienst tun“, rief er aus und trank einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Dabei strahlte er mich an, um mir zu zeigen, dass er sehr genau wusste, was er einmal gewesen war, und das die Leute ihn dafür zu schätzen wussten, dass er sich nicht davor scheute, alles über den Haufen zu werfen oder alte, überkommene Zöpfe abzuschneiden, wenn es die jeweilige Situation erforderlich gemacht hätte.

Also Mr. Storm“, fuhr Mr. Tarock fort, “es ist mir eine große Freude, Sie kennen zu lernen. Einen so großartigen Raumfahrer, noch dazu einen so jungen, hier bei mir zu Hause zu haben, kann ich kaum glauben. Ich kann Ihnen nur sagen, ich hätte einiges darum gegeben, dabei gewesen zu sein, als Sie Ihre Entdeckung gemacht haben. – Die Energiekristalle vom Planeten Cristall I. Alle Achtung! Eine großartige Entdeckerleistung, die die Raumfahrt grundlegend verändert hat. So jung und schon so erfolgreich. Man glaubt es kaum.“

Ich wehrte bescheiden ab. Die ganze Sache hatte sich sowieso anders abgespielt. Aber was soll’s? Die Leute erzählten die Geschichte immer wieder anders. Von Planet zu Planet. Ich hatte einfach keine Lust mehr dazu, sie wahrheitsgemäß zu korrigieren.

Mr. Lazar Tarock war ein gepflegter alter Herr, nicht groß, dafür aber sehr schlank und außerordentlich sehnig. Seine wachen Augen waren von einem tiefen Blau und er besaß die aufrechte Haltung einer Person, die halb so alt sein dürfte wie er. Seine Haut war braun und fast ohne Falten, sein Haar war weiß und seine Stimme klang klar und kraftvoll. Dieser alte Mann strahlte immer noch einen unbändigen Lebenswillen aus.

Lazar Tarock stellte den Dekanter auf einen kleinen Rolltisch ab, wo wir ihn alle beide erreichen konnten. Dann setzte er sich in einen bequemen Ledersessel, der gleich rechts neben mir stand. Der alte Mann räusperte sich ein wenig, blickte zu mir herüber und kam gleich zur Sache.

Ich nehme mal an, Sie kommen wegen meines Sohnes Orpheus.“

Richtig, Mr. Tarock.“

Auf einem Bücherregal und auf einem Nebentisch standen einige eingerahmte Fotos. Auf etlichen davon konnte man das Gesicht eines verwegenen Mannes mit weißem Backenbart erkennen. Wir sahen beide hinüber zu den Bildern und betrachteten sie eine zeitlang.

Ich verstehe“, antwortete er mir nach einer Weile des Schweigens. „Das ist schon in Ordnung und die ganze Sache ist auch gar nicht so kompliziert, wie Sie vielleicht denken mögen. Wissen Sie, mein Sohn hat die berühmten KI’s entwickelt, installiert und gewartet. Dreißig Jahre lang hat er für die intergalaktische Raumflotte gearbeitet, ehe er sich ein eigenes Raumschiff zugelegt hat und auf eigene Faust Erkundungsreisen zu unbekannten Planeten unternahm. – Aber ich denke mal, das wissen Sie bereits.“

Ja.“

Bitte erlauben Sie mir dennoch die Frage, Mr. Storm, warum Sie das alles interessiert? Hat es wohl möglich irgendwelche Probleme mit meinem Sohn Orpheus gegeben?“

Nein“, antwortete ich ihm. „Ich versuche nur herauszubekommen, was seinerzeit auf der Trident II passiert ist.“

Mr. Tarock brauchte einen Augenblick, um diesen Gedanken zu verarbeiten. Er schien sich nach innen zu kehren.

Das hat Orpheus sich auch immer wieder gefragt.“

Davon bin ich überzeugt“, erwiderte ich.

Das war eine ziemlich sonderbare Geschichte. Ich habe bis heute nicht verstanden, was genau passiert ist. Deshalb wüsste ich auch nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.“

Der Wein ist sehr gut. Darf ich mir noch ein Glas einschenken?“ fragte ich Mr. Tarock. Ich wollte aber auch andererseits das Gesprächstempo etwas drücken.

Aber natürlich. Nur zu, junger Mann. Tun Sie sich keinen Zwang an.“

Danke. Der ist für Murphy.“

Murphy war ein hervorragender Kommandant gewesen. Ein Vorbild für alle jungen Raumfahrer“, sinnierte der alte Mann.

Das ist richtig. Er war auf dem ersten Schiff, das am Ort des Geschehens eintraf. Er und Lord Blake – Murphy war der 1. Kommandant auf der Poseidon - waren die Männer, die die Trident II nach den mörderischen Ereignissen entdeckt haben. Doch dann wurde Murphy ermordet. Seine Leiche wurde nie gefunden.“

Für einen kurzen Moment spiegelte sich Bedauern in den Augen des Hundertjährigen.

Hat Ihr Sohn Orpheus je mit Ihnen darüber gesprochen oder Ihnen davon erzählt, was da draußen passiert ist? Die Trident II war sein Raumschiff.“

Nein, einmal abgesehen von seinen persönlichen Gefühlen.“

Was hat er gefühlt?“

Anscheinend Angst. Nichts als reine Angst, die sich bei ihm bis ins schier grenzenlose Entsetzen steigerte.“

Ich bemerkte, wie der alte Mann den Kopf schüttelte und innerlich vor seinem geistigen Auge über die Jahre hinweg in die Vergangenheit zu blicken schien.

Ich weckte nur ungern schmerzhafte Erinnerungen, aber da gab es den Verdacht, dass Orpheus späterer Tod kein Unfall gewesen war.

Was denken Sie, warum man Ihren Sohn möglicherweise ermordet hat? Hatte es möglicherweise was mit der Entdeckung auf seinem Schiff zu tun?“ fragte ich mit der gebotenen Zurückhaltung.

Der alte Mr. Tarock bemerkte meine Vorsicht.

Ist schon in Ordnung. Ich bin über den Tod meines Sohnes schon lange hinweg. Sie wollen wissen, ob man ihn ermordet hat?“

Ich nahm einen Schluck Wein zu mir, setzte das Glas vorsichtig ab und sah Mr. Tarock direkt ins Gesicht. Seine Augen blinzelten plötzlich wie eine sprungbereite Katze. Diese Reaktion hatte ich eigentlich nicht erwartet. Ich tat so, als würde ich nichts bemerkt haben.

Was denken Sie?“ fragte ich ihn mit gespielter Ahnungslosigkeit.

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß es ehrlich nicht.“

Ich hakte nach.

Wer konnte durch seinen Tod etwas gewinnen?“

Auch darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, Mr. Storm. Mein Sohn war ein Abenteurer. Er kannte die Gefahren da draußen in den unendlichen Weiten des Alls. Er blickte dem Tod trotzig ins Antlitz. Ich bewunderte seinen Mut, der jedoch auch mit einer Portion Angst gepaart war. Er sagte immer, dass es keinen Mut ohne Angst geben würde. Ich machte mir auf der anderen Seite natürlich auch Sorgen um ihn. Wer tut das nicht als Vater?“

Der alte Mann machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Wein und beendete seine Rede mit einer Frage.

Darf ich fragen, ob der Tod meines Sohnes etwas mit dem Geschehen auf seinem Raumschiff zu hat?“

Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber vor ein paar Tagen hat jemand die Zuleitungen der Antigravitationsspulen an meinem Gleiter sabotiert. Ich kann von Glück sagen, dass ich den Schleudersitz noch rechtzeitig bedienen konnte, bevor der trudelnde Gleiter auf dem Boden aufschlug und explodierte. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Die Suchmannschaften fanden mich schließlich bewusstlos am Rande eines Eismeeres. Fast hätten mich die Eiswölfe gefressen.“

Mr. Tarocks Augen weiteten sich. Er sah mich an, ehe er wieder irgendwohin in weite Ferne zu starren schien. Seine Worte klangen etwas abwesend.

Das ist alles schon sehr merkwürdig. Ich bin froh darüber, dass Sie den Absturz heil überstanden haben und es Ihnen gut geht, Mr. Storm.“

Der Hundertjährige füllte unsere Gläser nach und brachte diesmal einen Toast auf mich aus.

Ich wünschte, Sie wären bei meinem Sohn Orpheus gewesen. Er würde bestimmt noch leben“, sagte er wehmütig und eine Träne rann über seine Wange. „Es ist viel über die Verbrechen auf der Trident II geredet worden. Sogar mein eigener Sohn geriet in Verdacht“, fuhr er verbittert fort und ich sah, wie er in seinen Erinnerungen wühlte.

Er machte wieder eine kleine Pause, bevor er weitersprach.

Und Sie denken wirklich, es gibt einen Zusammenhang zu Orpheus Tod?“ fragte er mich schließlich.

Die Falten um seinen Mund und seine Augen schienen sich dabei noch tiefer in die Haut zu graben. Sein Gesicht veränderte ein wenig die Farbe.

Aber sicher, Mr. Tarock“, antwortete ich ihm.

Er überlegte eine Weile, und was er auch immer sagen wollte, er sprach es jetzt nicht aus.

Ich machte mir ein paar Notizen. Ich hatte mir schon vor langer Zeit angewöhnt, dass es besser war, nicht die ganzen Gespräche aufzuzeichnen, weil das bewirkte, dass die Leute Hemmungen bekamen, frei zu sprechen.

Hat es vor dem Tod Ihres Sohnes irgendwelche Drohungen oder Warnungen gegeben, Mr. Tarock?“

Er nippte an seinem Wein und stellte das Glas behutsam auf den kleinen Rolltisch zurück.

Nein. Es gab nichts dergleichen. Es hat keinen Grund gegeben, dass ihm jemand ein Leid zufügen wollte. Nach dem Geschehen auf seinem Raumschiff Trident II allerdings schien er irgendwelche Geheimnisse zu verbergen. Er hatte sich verändert und wurde immer verschlossener. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Ich hatte das komische Gefühl, er wünschte sich sogleich, er könnte die letzten Bemerkungen zurückziehen; aber es war zu spät, und so zuckte er nur mit den Schultern.

Mr. Tarock, warum glauben Sie, dass Ihr Sohn Geheimnisse hatte?“

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte über meine Frage nach.

Wie ich schon sagte, er hatte sich verändert“, antwortete er schließlich.

Inwiefern?“

Ich kann das schwer in Worte fassen. Es kam mir so vor, als hätte jemand Besitz von ihm ergriffen. Er führte auch immer mehr Selbstgespräche, gerade so, als spräche er mit jemanden. Ich dachte anfangs, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung bei ihm sei, aber da hatte ich mich geirrt. Es wurde noch schlimmer und bald stammelte er nur noch unverständliche Worte. Es klang wie eine fremde Sprache, die nur er verstand.“

Ich grübelte etwas.

Die Veränderungen in seinem Verhalten sind also erst nach der Trident II-Geschichte eingetreten, sagten Sie?“

Ja“, antwortete Mr. Tarock.

Für die nächste Frage wollte ich mir etwas mehr Zeit nehmen und überlegte mir, wie ich anfangen sollte. Schließlich legte ich spontan los.

Wo waren Sie zum Zeitpunkt des Geschehens auf der Trident II, Mr. Tarock.“

Der alte Mann erhob sich plötzlich, trat an den Kamin und stocherte ein paar Mal im Feuer herum.

Ich war damals auf Indianapolis, einer Außenstation im Alpha System. Die liegt im Musari-Sektor, außerhalb des Andromeda Nebels. Mein Sohn hatte mich Monate vorher dort abgesetzt und vorübergehend da ebenfalls Station gemacht. Wir waren eine kleine Gruppe ehemaliger Veteranen aus dem technischen Support. Wir hatten gemeinsame Interessen, und wir haben uns alle recht gut verstanden.“

Ich machte mir abermals ein paar Notizen. Auch dort, auf der Außenstation Indianapolis, hatte es ähnlich schreckliche Morde gegeben.

Wann haben Sie die Außenstation wieder verlassen, Mr. Tarock?“

Ich bin schon am nächsten Tag irdischer Zeitrechnung wieder abgereist. Ich weiß nicht warum ich das tat. Ich hatte so ein komisches Gefühl, vielleicht deshalb, weil ich ahnte, dass ich wohl eine lange Zeit von meinem Sohn nichts mehr hören würde. Nun, Sie müssen bedenken, dass er sich da draußen in der Unendlichkeit an Bord der Trident II befand und schon vorher monatelang zusammen mit seiner Crew unterwegs gewesen war. Sie waren auf dem Weg zu irgendeinem Zielort, ich weiß nicht mehr, zu welchem, und Orpheus testete gerade eine neue Generation von KI’s an Bord seines Schiffes. Ich nahm noch während des Fluges zur Trident II Kontakt zu ihm auf und habe von ihm fast täglich gehört. Irgendwann hat er mir eine verschlüsselte Botschaft zukommen lassen und darin geäußert, dass irgendwas seltsames auf der Trident II passiert sei, aber dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Er schrieb, vermutlich wäre nur die Kommunikationsanlage ausgefallen. Dann hörte ich vorläufig nichts mehr von ihm.“

Und als Sie schließlich die Trident II erreichten, hat er Sie da weiterhin auf dem Laufenden gehalten?“

Nur bis auf das, was Sie schon wissen. Er wurde plötzlich von Tag zu Tag verschlossener und sprach nur noch mit sich selbst. Die ganze Crew bekam Angst vor ihm. Er wurde unberechenbar.“

Während Ihres Aufenthaltes auf dem Schiff Ihres Sohnes sind sechs Passagiere der Trident II so gut wie spurlos verschwunden. Hat er Ihnen nichts davon erzählt? Nicht einmal andeutungsweise?“ fragte ich argwöhnisch und verzog dabei die Mine etwas säuerlich.

Ja, ich habe davon gehört. Sozusagen auf Umwegen. Das war wirklich ärgerlich. Mein Sohn spielte die ganze Sache herunter. Er wollte wohl eine Panik verhindern. Immerhin befanden sich weit mehr als dreihundert Leute auf seinem Raumschiff. Er schien sich auch nicht sonderlich darüber aufgeregt zu haben. Einige andere Crewmitglieder haben mir später erzählt, dass irgendwas Furchtbares auf der Trident II passiert sein musste. Es gab anscheinend eine Reihe von bestialischen Morden an fünf oder sechs Besatzungsmitgliedern. Man fand lediglich nur noch einige verstreut herumliegende, blutverschmierte Knochen an den jeweiligen Orten dieser entsetzlichen Taten. Mehr kann ich darüber nicht sagen. “

Ich wusste auf einmal nicht mehr, wie ich meine nächste Frage loswerden sollte. Deshalb fragte ich Mr. Tarock, ob sein Sohn im Umgang mit anderen Leuten ehrlich gewesen war.

Soviel ich weiß, hat sich Orpheus stets korrekt benommen. Aber Unehrlichkeit und Korruption kann man bei keinem Menschen ganz ausschließen“, gab er mir zur Antwort.

Hätte er sich denn kaufen lassen? Was meinen Sie?“

Um möglicherweise etwas Unmoralisches oder Böses zu tun? Orpheus? Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Er war eine ziemlich starke Persönlichkeit und voller Selbstbewusstsein.“

Aber ganz ausschließen würden Sie es nicht?“

Ich sagte Ihnen doch schon, Mr. Storm, dass man Unehrlichkeit und Korruption bei keinem Menschen ganz ausschließen kann. Das gilt auch für das Böse. Es steckt in jedem als Keim in uns.“

Ich zog aus meiner wasserdichten Seitentasche sechs Bilder hervor auf denen die Gesichter einiger Crewmitglieder der Trident II zu sehen waren.

Kennen Sie vielleicht zufällig einige dieser Personen, Mr. Tarock?“

Er studierte sie und schüttelte nach einer Weile den Kopf.

Auf dem Langstreckenraumschiff meines Sohnes gab es eine eingeschworene Kernmannschaft, die für den sicheren Flugbetrieb der Trident II unerlässlich war. Die Gesichter dieser Männer und Frauen könnte ich unter Tausenden sofort herauspicken. Das übrige Mannschaftspersonal wechselte aber ständig, weil es entweder Kolonisten oder freie Raumfahrer waren, die manchmal nur für die Dauer einer einzigen Mission angeheuert wurden. Die Personen auf den Fotos kenne ich daher nicht. Sie sind mir unbekannt.“

Sind Sie sich da ganz sicher, Mr. Tarock?

Ja natürlich. Es müssen Leute sein, die auf den unteren Decks oder im Maschinenraum der Antimateriegeneratoren gearbeitet haben. Ich hielt mich in der Regel, wenn ich hin und wieder mal auf der Trident II war, meistens auf der Kommandobrücke meines Sohnes auf. Ich kam nur ganz selten mit der übrigen Mannschaft in Kontakt.“

Hm, na gut. Ich glaube, das war’s dann, Mr. Tarock. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu reden“, sagte ich. „Auch für den Wein, der mir außerordentlich gut gemundet hat. Ich fühle mich wie neugeboren.“

Ja, der Wein verändert oftmals den Charakter des Menschen. Und dieser Wein stammt vom Sonnenplaneten Ischcolon, im Raumquadraten Delta, falls dieser Ihnen ein Begriff ist. Aber schon gut, Mr. Storm. Ich habe mich sehr darüber gefreut, Sie mal ganz persönlich kennen gelernt zu haben. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“

Ach was, Mr. Tarock. Machen Sie sich wegen Ihres Alters keine allzu großen Sorgen. Unsere hervorragenden Biogenetiker können das Leben eines Menschen glatt verdoppeln.“

Sie haben gut reden, junger Mann. Was wissen Sie schon vom Alter und Älterwerden?“

Ich erhob mich leicht benommen aus meinem Ledersessel. Mir wurde plötzlich etwas schwindlig und wäre beinahe über den kleinen Rollwagen gestürzt, der mir den Weg versperrte.

Geht’s Ihnen nicht gut, Mr. Storm?“, fragte mich der Alte und grinste mich dabei herablassend an.
Irgendwas ging in mir vor, ich wusste aber nicht was. Ich kam nicht dahinter.

Mittlerweile war es draußen schon dunkel geworden.

Wir kamen zur offenen Schleusentür heraus, blieben für einen Moment in der frostigen Luft stehen und gingen dann schnurstracks zu meiner abgestellten Schneeraupe hinüber. Die Innenheizung hatte sich bereits automatisch eingeschaltet, die Front- und Seitenscheiben waren deshalb schnee- und frostfrei.

Ich verabschiedete mich von dem alten Mann, der sich Lazar Tarock nannte und wünsche ihm noch ein langes Leben. Dann setzte ich mich, noch immer leicht benommen, hinter den klobigen Steuerknüppel meines Schneefahrzeuges und fuhr damit zurück zum Raumflughafen Telstar One, der etwa acht Kilometer von meinem derzeitigen Standort in westlicher Richtung lag.

Als ich wieder im meinem Hotel war, ging es mir schon wieder viel besser. Ich stellte umgehend eine verschlüsselte Video- und Tonverbindung mit der Zentrale des Raumflottengeheimdienstes (RGD) her.

Nur wenige Sekunden später blickte ich in das Gesicht meines Führungsoffiziers Oberst Stanislav Poronovsky.

Mein Gott, Storm! Ich dachte schon, es gibt Sie nicht mehr. Wo haben Sie bloß solange gesteckt? Sie sind mir vielleicht ein Draufgänger. Und was Ihre geheimen Daten anbelangt, habe ich diese bereits im Labor auswerten lassen. Sie sind eine einzige Sensation! Wir haben auch eine genetische Fernprobe von Mr. Tarocks Körperzellen gemacht. Es gibt keinerlei Zweifel darüber, dass Lazar Tarock nicht ‚der’ Lazar Tarock ist, den wir von früher her kennen. Wir haben aufgrund der biogenetischen Untersuchungsergebnisse der von Ihnen sichergestellten Gewebezellen nachweisen können, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um jenes Monster handelt, so eine Art Reptil oder ähnliches, das für die bestialischen Fressmorde auf der Trident II verantwortlich ist. Es mordet wohlmöglich überall, wohin es kommt. Dieses Biest hat unseren Ermittlungen nach offenbar sowohl den echten Lazar Tarock, als auch seinen Sohn Orpheus gefressen. Dann nahm es die Gestalt vom alten Tarock an, und konnte auf diese Weise unerkannt entkommen. Dieses Ding scheint jede x-beliebige Gestalt eines Menschen annehmen zu können und ist dazu in der Lage, jedes Individuum täuschend echt zu imitieren. Dabei infiziert es den befallenen Wirtskörper nach und nach mit seiner eigenen DNS und verändert ihn innerhalb nur weniger Minuten in seinen eigenen, ursprünglichen Körper. Das ist einfach phantastisch. Wir konnten es zuerst selbst nicht glauben, aber die Resultate der Biogenetiker sind eindeutig. Die Ergebnisse stellen einen gewaltigen Fortschritt in der Biogenetik dar. Wir wissen jetzt um das Geheimnis der Metamorphose dieses Monsters. Stellen Sie sich einmal vor, welche ungeahnte Tragweite diese neu gewonnenen Erkenntnisse für die gesamte Menschheit haben werden. Nicht auszudenken! – Ach übrigens, dass Sie den Mut hatten, in die Höhle des Löwen zu spazieren, macht Sie für eine neuerliche Beförderung reif. Ich schlage daher vor, Sie beenden die geheime Mission und zünden den ferngesteuerten Sprengsatz, den Sie in Tarocks Haus heimlich reinschmuggeln konnten. Der Körper des Monsters wird durch die Hitze des Thermosprengsatzes bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Bestätigen Sie diesen Tötungsbefehl und senden Sie uns den Code X, wenn Sie ihn ausgeführt haben. Ende der Übermittlung. – Oberst Stanislav Poronovsky, Raumflottengeheimdienst.“

Nur wenige Augenblicke später jagte ich Tarocks Kuppelhaus aus einer Entfernung von mehr als acht Kilometer mit einem ferngezündeten Sprengsatz in die Luft. Es war eine fürchterliche Detonation, die man noch bis Telstar One hören konnte. Danach stieg eine gewaltige Stichflamme hinauf in den dunklen Nachthimmel von Lanthea. Eine Weile betrachtete ich versonnen den hell lodernden Lichtschein am fernen Horizont und sendete kurz darauf den Code X an die Zentrale des Raumflottengeheimdienstes, der ihn umgehend verschlüsselt bestätigte. Dann wurde die Verbindung endgültig gekappt.

Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte, ging ich zum Videophon und orderte eine Einzelkabine für einen einfachen Langstreckenraumflug zurück zum Planeten Terra im Sonnensystem SOL.

Mein neuer Körper fühlte sich noch etwas sonderbar an, denn er war im Vergleich zum alten Body von Mr. Tarock relativ jung und angenehm unverbraucht. Auch der Name Mike Storm ging mir noch etwas schwer über die Lippen. Aber ich würde mich schon noch daran gewöhnen. Auf dem Flug zur Erde war ja Zeit genug dafür.


***


Unter den zahlreichen Passagieren eines gewaltigen interstellaren Raumschiffes befand sich auch ein großer hager aussehender Mann in einer schwarzen Raumfahreruniform. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.

Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der intergalaktischen Fluggesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen.

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch für wenige Sekundenbruchteile nur, in die hässliche Gestalt eines echsenartigen Monsters verwandeln.


ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

***

 

5. Mr. Georg Konrad, LEWIS und

die Würmer

 

Einsam kreist ein tropfenförmiges Raumschiff im Orbit eines fremden Planeten.

 

***

 

Der Androide war fast zwei Meter groß und sah aus wie ein Mensch, zumindest was seine äußere Erscheinung betraf. Auf seiner glatten Brustplatte stand sein Name: LEWIS.

 

Ansonsten hatte er nichts Menschliches an sich. Diese künstlichen Dinger waren eben nicht mehr und nicht weniger als eine hoch effiziente und äußerst komplexe Maschine mit einer programmierten Identität, die man ihnen tief in ihrem elektronischen Gehirn eingegeben hatte.

 

Der Kunstmensch stand vor einem nackten Mann, der bewusstlos auf einer Behandlungsliege vor ihm lag und offenbar dringend Hilfe benötigte.

 

Der Roboter beugte sich nach vorne und übte einen sanften, rhythmischen Druck auf jenen Teil der Brust aus, die den Herzschlag und den Atmungsvorgang anregte.

 

Einige Augenblicke später.

 

Der Bewusstlose zuckte etwas zusammen, stieß ein schwaches, unbewusstes Ächzen aus, das von einem leichten Hustenanfall begleitet wurde. Der Körper, der offenbar so gut wie tot gewesen war, kämpfte sich jetzt seinen Weg ins Leben zurück.

 

Der nackte Mann atmete auf einmal tief ein, sein Herzschlag normalisierte sich und die Augenlider flatterten nicht mehr. Der Androide beendete seine Massage und presste dem Bewusstlosen eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase.

Es dauerte nicht lange, da erlangte der Mann auf der Liege wieder das volle Bewusstsein.

 

Langsam öffneten sich die Augen des Nackten, der sich aufrichten wollte, aber von dem Androiden in die Liegehaltung zurück gedrückt wurde. Plötzlich schrie der Mann gepeinigt auf. Im gleichen Moment platzierte ihm der Roboter eine goldfarbene Elektrode auf seine rechte Schläfe und der Patient beruhigte sich wieder.

 

Dann starrte er den Androiden an, der ihm die Atemmaske von Mund und Nase nahm.

 

Sir“, wie geht es Ihnen? Können Sie mich hören? Verstehen Sie mich, wenn ich mit Ihnen rede?“

 

Der Nackte lächelte müde. Dann sagte er: „Ja, ich verstehe dich, mein Freund. – Was ist mit mir geschehen, LEWIS?“

 

Mr. Konrad, sie haben sich mehr als eine Woche im Zustand des Scheintods befunden. Etwa fünfundneunzig Prozent aller Personen, die sich in dieser Lage befanden, erlitten nach ihrer Wiederbelebung eine Totalamnesie. Viele wurden verrückt. Sie scheinen da eine große Ausnahme zu sein, denn ihr momentaner Zustand ist fast wieder normal. Sie haben mich sofort wiedererkannt, Sir.“

 

Georg Konrad setzte sich jetzt mühsam auf. Die Bewegungen seiner Glieder bereiteten ihm zwar noch Schmerzen und es kostete ihm einige Überwindung, sich ganz aufzurichten, aber er biss die Zähne zusammen. Dann rutschte er von der Behandlungsliege. Der Androide LEWIS griff ihm unter die Arme und half ihm hochzukommen.

 

Wo ist dieses schreckliche Biest von diesem verfluchten Planeten, LEWIS?“ frage er plötzlich den Androiden.

 

Sie haben es mit einer Strahlengranate erledigt, Sir. Aber den Schädel haben wir noch“, entgegnete der Roboter und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die wuchtige Stahltür des Quarantäneraumes am anderen Ende des bogenförmigen Ganges hin.

 

Ich bin froh, dass ich noch kein Frühstück zu mir genommen habe, LEWIS. – Wollen wir uns die Reste dieses Ungeheuers nicht einmal aus der Nähe ansehen?“

 

Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir. Ich habe nichts dagegen. Ich bin ja bei Ihnen. Kommen Sie mit!“

 

***

 

Aus der Nähe betrachtet war der Schädel mehr als scheußlich. Ein widerlich aussehendes Gebilde, so ekelerregend und abstoßend, dass man keine Worte dafür fassen konnte.

 

Das riesige Maul, eingefroren im Griff des Todes, besaß dunkelblaue, wulstige Lippen, die aussahen, als bestünden sie aus weichem Gummi. Sie waren in unregelmäßigen Abständen mit dicken Pusteln besetzt, die eher den Eindruck machten, als seien sie Saugnäpfe, etwa solche von der Sorte, mit denen unwiderruflich die Beute festgehalten wird, sobald das Opfer fliehen wollte.

 

Offenbar musste das grauenhafte Wesen seine Nahrung nicht zerkauen. Dafür war an beiden Seiten des Maules rollenartiges Muskelgewebe zu erkennen. Handelte es sich dabei um Zungen oder um Tentakel, die sich ausfahren ließen, um die Beute damit zu fangen und zu den Saugnäpfen zu transportieren, wo das unglückliche Opfer festklebte, bevor das Maul es ganz verschlang?

 

Der Raumfahrer Georg Konrad, der sich bis jetzt auf das „Gesicht“ des Ungeheuers konzentriert hatte, warf einen Blick auf das am Kopf anschließende Gewebe, wo noch ein paar abgetrennte Organe lose heraus hingen.

 

Sieht aus wie der Teil ein großen Wurmes, LEWIS.“

 

Georg Konrad hielt sich die Nase zu.

 

Teufel noch mal, die Überreste stinken ja wie eine verfaulte Leiche“, würgte er gequält hervor. Er bemühte sich mit aller Kraft, nicht zu erbrechen.

 

Mr. Konrad“, versuchte der Androide zu erklären, „diese Kreatur da hat über der Oberlippe ohne Zweifel ein Augenpaar. Ich habe den komischen Eindruck, dass sie uns noch beobachten. Dieses Biest ist in der Tat das allerabscheulichste Wesen, das ich je im Universum gesehen habe.“

 

Nicht nur das, LEWIS. Sieh nur, da sickert etwas aus der großen Wunde, wo der Kopf vom Rumpf abgetrennt worden ist. Ich möchte mir das mal ansehen.“

 

Der Androide drehte sich um und schaute dorthin, wo Mr. Konrad hindeutete.

 

Tropfenweise quoll eine braune, halbfeste Körperflüssigkeit, vermischt mit Schleim, Blut und Fleischresten aus dem abgetrennten Kopf und schien sich auf geheimnisvolle Weise zu einer kleinen Pfütze zu formieren.

 

Georg Konrad zwang sich dazu, über das Gewirr der abgerissenen Organe zu steigen und hinter den grässlichen Schädel zu treten…und hinzusehen.

 

Der Anblick entsetzte ihn zutiefst. Der Innenraum des Schädels war so gut wie leer. Die Gehirnmasse auf dem Innenboden der Knochenschale stellte nur einen kleinen Teil des Fleisches dar, das sich hier eigentlich befinden sollte.

"Wo war der Rest des Kadavers? Vielleicht noch in diesem Raum, was ich…"

 

Der Beweis blieb nicht lange aus. Georg Konrad kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden.

 

Der Androide LEWIS war plötzlich leise von hinten herangetreten und hielt ihn ohne Vorwarnung brutal mit seinen kräftigen Armen fest. Sich dagegen zu wehren, war zwecklos.

 

Mr. Konrad“, sagte LEWIS mit monoton gleichgültiger Stimme, „wie ich Ihnen schon sagte, gehören wir zu den allerabscheulichsten Wesen, die es je im Universum gegeben hat und immer noch gibt. Wir sind wirklich monströse Kreaturen. Selbst eine einzige noch lebende Zelle von uns ist dazu in der Lage, ein anderes Lebewesen zu befallen und zu infizieren. Wir machen auch nicht Halt vor euren Androiden, denn unsere Gene dringen in sie hinein, besetzen ihre Leiterbahnen und programmieren sie einfach um. Wir unterwerfen eure seltsamen elektronischen Freunde quasi unserem genetischen Willen und benutzen sie für unsere Zwecke. Aber leider können wir uns nur in einem lebendigen Wirtskörper vermehren. Tot nützt er uns nicht. Wir konnten Sie glücklicherweise reanimieren und am Leben erhalten. Und jetzt Mr. Konrad dienen Sie uns als Wirtskörper für eine neue Generationen von Würmern. Zuerst werden unsere Larven Ihr Gehirn auffressen und dann den Rest Ihres Körpers, bevor sie schlüpfen. – Halten Sie also still und schauen Sie zu, wie die noch lebensfähigen Überbleibsel unseres zellularen Gewebes in Ihren Körper eindringen. Und wenn wir hier fertig sind, benutzen wir Ihr Raumschiff, um damit zur Erde zu fliegen. Unsere Wurmrasse wird sich zu einem wahrhaft gigantischen Volk vermehren, denn eure Erde hält ideale Lebensbedingungen für uns bereit.“

 

Der starke Roboter drückte plötzlich den Kopf des Raumfahrers auf den kalten Metallboden und öffnete mit der rechten Hand gewaltsam seinen Mund, wo Sekunden später eine schleimig-schlängelnde Fleisch- und Blutspur wabbernd darin verschwand.

 

Nachdem das geschehen war, trug der Androide Mr. Konrad zurück durch den Gang hinüber zur Krankenstation, wo er ihn auf eine Behandlungsliege legte und mit Gurten an Händen und Füßen festschnallte.

 

Dann trat der Androide abrupt einen Schritt zurück und erstarrte plötzlich wie zu einer Salzsäule, gerade so, als hätte man ihn kurzgeschlossen.


Die Würmer aber würden ihn erst dann wieder aktivieren, wenn sie sich in ihrem Wirtskörper zum Schlüpfen fertig entwickelt hätten, um schließlich mit LEWIS Hilfe das gekaperte Raumschiff dahin fliegen zu lassen, wo sich in der Milchstraße die Erde des Menschen befand.



ENDE

 

©Heinz-Walter Hoetter


 

 

***

 

6. Die Geschichte der Miss Elli Flint


 

Miss Flint, ich möchte Sie nur ungern stören, aber kommen Sie doch bitte einmal ganz schnell zu mir herüber.“

 

Die junge Sekretärin stutzte kurz, ließ die angefangene Arbeit liegen und starrte auf das blinkende Licht der kleinen Sprechanlage. Die plärrende Stimme war nicht von ihrem Chef Mr. Kelvin Stone gekommen, sondern von dessen jüngerem Bruder Michael Stone, der als Notar die große Anwaltskanzlei mit ihm teilte.

 

Am gegenüberliegenden Schreibtisch saß Rose Brake und sah mit skeptischem Blick zu ihre Freundin Elli rüber.

 

Was will denn der kleine Dicke von dir?“ fragte sie spöttisch.

 

Wenn ich das nur wüsste. Ausgerechnet jetzt, fünf Minuten vor Feierabend, ruft er nach mir. Mal sehen, was er diesmal von mir schon wieder möchte“, sagte Miss Elli Flint missmutig und warf ein zerknülltes Blatt Papier wütend in den Papierkorb.

 

Mr. Michael Stone war um die fünfundfünfzig Jahre alt und ein ziemlich korpulenter Mann.

 

Komisch“, räusperte sich Rose Blake wieder, „Eigentlich ist es nicht üblich, dass er von seinem Bruder Arbeitskräfte anfordert“, fuhr sie fort und zog die Augenbrauen dabei hoch.

 

Tja, ich weiß es auch nicht. Vielleicht will er heute noch mit mir zum Essen gehen“, sagte die junge Frau mit gekünstelter Verlegenheit und schaltete den Computer aus. Ihr Ärger hatte sich wieder gelegt. „Aber seine Stimme hat irgendwie seltsam geklungen. Nicht so wie sonst“, sagte sie und blickte ihre Freundin Rose dabei etwas nachdenklich an.

 

Die verzog ihr Gesicht zu einer fies aussehenden Grimasse.

 

Bei dem dicken Schwerenöter ist alles möglich. Lass’ dich bloß nicht von ihm breit treten! Sag’ ihm einfach, du hättest heute keine Zeit und müsstest noch nach der Arbeit deiner kranken Mutter dringend einen Besuch abstatten.“

 

Noch hat er ja nichts zu mir gesagt. Ich geh’ jetzt erst mal rein zu ihm und mach mich mal schlau, was er von mir will“, sagte die hübsche Sekretärin mit den langen blonden Haaren schnippisch, erhob sich, strich ihre Kleider glatt und ging langsam auf das Büro von Mr. Michael Stone zu.

 

...und ich mach’ mich schon mal auf den Nachhauseweg“, rief Rose ihr noch nach, „wer weiß, wie lange das bei dir heute noch dauern wird. Also tschüss meine Gute! Wir sehen uns dann vielleicht später...“

 

Die beiden jungen Frauen bewohnten eine gemeinsame Wohnung ganz in der Nähe der Kanzlei.

 

Miss Elli Flint ging mit gemischten Gefühlen auf das schicke Büro des Notars zu. Sie klopfte behutsam an die Tür, die sich kurz darauf summend öffnete.

 

Da sind Sie ja endlich, Miss Flint. Ich habe schon auf Sie gewartet. Kommen Sie herein!“

 

Michael Stone saß hinter seinem wuchtigen Schreibtisch in einem schwarzen Lederstuhl und legte gerade eine schmale Akte auf seinen Schreibtisch zurück. Er wirkte wie ein dicker Buddha auf die junge Sekretärin, die jetzt brav mitten im Büro stehen geblieben war und darauf wartete, was Mr. Stone ihr zu sagen hatte.

 

Die kleinen, verschmitzten Augen des korpulenten Notars schienen über ihre ganze Figur zu wandern. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen massigen Körper, als hätte ihn jemand mit einer Stecknadel in den Allerwertesten gestochen.

 

Äh..., entschuldigen Sie, Miss Flint, aber nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er auf einmal mit überaus freundlicher Stimme und wies mit seiner rechten Hand auf den Stuhl ihm gegenüber. Nachdem sich die junge Sekretärin gesetzt hatte, nahm der Notar ein großes weißes Kuvert aus der schmalen Akte, öffnete den Umschlag vorsichtig mit einem verchromten Brieföffner und faltete das herausgenommene Blatt Papier umständlich auseinander. Es dauerte eine Weile, bis er es durchgelesen hatte.

 

Dann platzte es ohne Vorwarnung aus ihm heraus.

 

Ihr Onkel ist vor etwa zwei Wochen gestorben, Miss Flint. Mein Bruder hat mich gebeten, Ihnen diese traurige Nachricht zu überbringen.“

 

Die junge Sekretären schüttelte mit dem Kopf.

 

Hier muss ein Irrtum vorliegen, Mr. Stone. Ich habe doch gar keinen Onkel“, sagte sie verwundert.

 

Der Notar setzte eine überraschte Mine auf und lächelte leicht gequält.

 

Nun ja, hier in diesem Schreiben vom Nachlassgericht steht, dass ihr Vater noch einen Bruder hatte. Wussten Sie das denn nicht?“

 

Mein Vater ist schon lange tot. Er starb, als ich noch ein Kind war und Mutter hat mir nie etwas davon erzählt, dass er noch einen Bruder hatte.“

 

Wie auch immer, Miss Flint, die Sache verhält sich jedenfalls so, dass der Kontakt zwischen den beiden Brüdern, also Ihrem Vater Steven Flint und seinem Bruder Lionel Flint, bereits sehr früh abbrach, genau genommen nach der Hochzeit Ihrer Mutter mit Ihrem Vater. Es muss zwischen den beiden Brüdern damals einen schrecklichen Streit gegeben haben. Anscheinend liebten sie die gleiche Frau, nur das Lionel dabei den Kürzeren zog. Es kam schließlich zum endgültigen Bruch zwischen ihnen, als Sie geboren wurden. Sie können sich denken, dass es damals einige böse Gerüchte gab, die kurz nach Ihrer Geburt in Umlauf waren, was die Vaterschaft anbelangte. Nun, als Notar möchte ich mich nicht näher mit der Vergangenheit Ihrer Familie beschäftigen, sondern Ihnen nur pflichtgemäß mitteilen, dass Ihr Onkel Lionel Flint, bevor er starb, Sie als Universalerbin eingesetzt hat.“

 

Ich wurde von meinem Onkel als Universalerbin eingesetzt?“ fragte die junge Frau fassungslos und schüttelte ungläubig den Kopf.

 

Tja, liebe Miss Flint, so ist es. Eine ziemlich große Überraschung für Sie, nicht wahr? Aber das Dokument hier in meiner Hand lügt nicht. Wir haben zwar viel mit Erbschaftsangelegenheiten zu tun, aber es ist das erste Mal, dass eine Angestellte unserer Anwaltspraxis selbst die glückliche Erbin ist. Ich kann Sie nur noch herzlich dazu beglückwünschen.“

 

Die junge Frau wollte ihr Glück nicht wahrhaben. Nervös strich sie sich mehrmals hintereinander durch die langen blonden Haare und konnte sich nur schwer zusammenreißen.

 

Was habe ich denn geerbt“, fragte Elli Flint erwartungsvoll den Notar, der sich im Moment intensiv mit den Unterlagen beschäftigte.

 

Wie bitte? Ach ja, ich habe hier ein Foto vom Anwesen Ihres verstorbenen Onkels. Dazu gehört noch ein ziemlich umfangreicher Grundbesitz und ein beträchtliches Barvermögen, etwa zwei Millionen Pfund, über das Sie ab sofort verfügen können, sobald Sie die Dokumente in meinem Beisein unterzeichnet haben, Miss Flint“, antwortete Mr. Stone lächelnd.

 

Der jungen Frau wurde fast schwindlig bei dieser Summe. Dann blickte sie interessiert auf das große Foto. Es zeigte ein sehr großes, vornehm aussehendes Wohnhaus, das mit viel Efeu dicht bewachsen war. Im Hintergrund konnte man einige langgestreckte Gebäude erkennen, die mehr wie eine Fabrik aussahen. Ganz rechts im Bild waren mehrere Schornsteine zu erkennen.

 

Was sind das für Gebäude, Mr. Stone?“

 

Das wollte ich Ihnen gerade erklären, Miss Flint. Die Gebäude im Hintergrund waren einmal eine große Brauerei. Leider stehen sie schon lange leer. Das Wohnhaus im Vordergrund war einmal ein dazugehöriges Gasthaus. Ihr Onkel hat es vor vielen Jahren umbauen lassen und wohnte bis zu seinem Tod selbst darin. Dann gibt es da noch eine gewisse Mrs. Weedman mit ihrem Sohn Mark. Den beiden hat ihr Onkel Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt. Ferner gibt es noch ein Dienstmädchen namens Betty Mills. Ein blutjunges Ding aus dem nächsten Ort. Sie müssen natürlich selbst entscheiden, ob sie das Personal behalten wollen oder nicht.“

 

Puh, Dienstpersonal. Ich kann es einfach nicht glauben“, stöhnte die junge Neuerbin und rollte mit den Augen.

 

Der Notar lachte plötzlich laut los. Dann erklärte er ihr noch einige Dinge und riet ihr dann, bei seinem Bruder um Urlaub nachzusuchen, damit sie ihr Erbe sobald wie möglich in Augenschein nehmen konnte. Andererseits würde sie natürlich auch kündigen können, was bei dem Vermögen jederzeit möglich ist und Geldprobleme jetzt bei ihr wohl keine Rolle mehr spielen würden.

 

Von dem Geld können Sie sich jetzt eine schöne Menge leisten, auch ein ganzes Spukschloss inklusive Poltergeist, der seinen Kopf unterm Arm trägt und in der Nacht mit seinem Geheule die Leute aus dem Schlaf reißt“, lachte Mr. Stone schallend.

 

Die junge Frau lachte mit. Sie war auf einmal wie ausgewechselt und dachte nur noch daran, so schnell wie möglich ihr Erbe anzutreten. Dann verabschiedete sie sich von Mr. Stone, nachdem er ihr eine größere Summe Bargeld ausgehändigt hatte, mit dem Hinweis darauf, dass das restliche Barvermögen sicher auf einem Geheimkonto einer bekannten Bank liegen würde. Er übergab ihr noch einen versiegelten Umschlag mit allen notwendigen Zugangsdaten für das Konto und ein paar andere wichtige Unterlagen diverser Versicherungspapiere ihres verstorbenen Onkels, um die sie sich noch kümmern müsste. Danach verließ Miss Elli Flint das Büro des Notars und machte sich auf den Weg nach Hause.

 

Draußen war mittlerweile die Nacht hereingebrochen. Wie eine Schlafwandlerin ging die junge Frau durch die hell erleuchteten Straßen. Hin und wieder blieb sie stehen, sah sich verstohlen um, griff nach dem gebündelten Geld in der Tasche und tastete es ab, um sich zu vergewissern, dass alles kein Traum war. Nein, die Erbschaft ihres unbekannten Onkels war Realität. Sie ließ die Geldbündel wieder los, zog den Reißverschluss der Tasche zu und während sie langsam weiterging, ließ sie sich dabei noch einmal alles durch den Kopf gehen. In Gedanken malte sie sich die Zukunft in den schillerndsten Farben aus. Außerdem dachte sie darüber nach, wann sie das geerbte Anwesen ihres verstorbenen Onkels besuchen sollte. Sie wollte es auf jeden Fall so schnell wie möglich kennen lernen. Das galt auch fürs Personal.

 

***

 

Für die Fahrt von Alloa nach Blairhall hatte sich Miss Elli Flint keinen schönen Tag ausgesucht. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete etwas. Die ganze Landschaft vor ihr war in dichten Nebel gehüllt. Schon jetzt bedauerte es die junge Frau, die Reise so schnell angetreten zu haben und dass sie von der Gegend, durch die sie noch nie gefahren war, überhaupt nicht zu sehen bekam. Alle war grau in grau, nur die kurvenreiche Straße, mit ihrer nass glänzenden Fahrbahndecke, hob sich etwas dunkler hervor.

 

Der Nebel wurde noch dichter. Die junge Frau schaltete das Scheinwerferlicht ein und starrte angestrengt durch die Frontscheibe ihres Aston Martins. Sie fuhr durch Ortschaften, die wie ausgestorben dalagen und in deren düster aussehenden Häusern kein einziges menschliches Wesen zu leben schien. Elli Flint wäre am liebsten in einem Gasthof abgestiegen, um dort die kommende Nacht zu verbringen. Aber weit und breit entdeckte sie keinen.

 

Die regennasse Straße, auf der sie fuhr, war eng und schmal. Der Straßenkarte nach konnte es keine Bundesstraße sein und Elli Flint wunderte sich darüber, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Bei der nächsten Gelegenheit fuhr sie rechts an den Straßenrand, holte die Straßenkarte aus dem Handschuhfach, faltete sie umständlich auseinander und suchte nach der angegebenen Landstraße. Leider musste sie sehr schnell feststellen, dass sie mit der Karte nichts anfangen konnte, weil sie überhaupt nicht wusste, wo sie sich befand. Sie ärgerte sich darüber, ließ die Karte geöffnet auf dem Beifahrersitz liegen und fuhr mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend weiter. Sie konnte nur hoffen, dass die eingeschlagene Richtung stimmte.

 

Ganz plötzlich tauchte im Nebel eine Straßengabelung auf. Aber es waren keine Wegweiser zu erkennen, die auf die nächste Ortschaft hingedeutet hätten. Zu dicht war die Waschküche.

 

Die junge Frau trat auf die Bremse und blieb mitten auf der Straße mit ihrem Aston Martin stehen. Was nun? Sollte sie nun rechts oder links abbiegen? Keine der beiden abzweigenden Straßen sahen verlockend aus. Schlimmer noch. Unter den vorbeiziehenden Nebelschwaden konnte Elli Flint riesige Schlaglöcher erkennen, was ihre Entscheidung, irgendeine Richtung einzuschlagen, noch zusätzlich erschwerte.

 

Mit zweifelndem Blick starrte sie unschlüssig in den dichten Nebel, als hoffte sie darauf, in den gespenstisch aussehenden Dampfschwaden eine geheimnisvolle Botschaft zu lesen, die ihr die Richtung vorgab. Schließlich warf sie noch einmal einen Blick auf die Straßenkarte. Doch nirgendwo konnte sie im ganzen Umkreis eine Straße erkennen, die eine V-förmige Abzweigung besaß.

 

Trotz des laufenden Motors und eingeschalteter Heizung kroch eine unangenehme Kälte in Elli Flint hoch. Schlagartig wurde ihr zudem bewusst, dass sie mit ihrem Wagen mitten auf der Straße stand und verwundert feststellen musste, dass ihr schon seit längerer Zeit kein anderes Fahrzeug mehr entgegen gekommen war. In welcher gottverlassenen Gegend habe ich mich bloß verirrt, dachte sie ängstlich und setzte den Aston Martin vorsichtig wieder in Bewegung.

 

Dann, mit einem harten plötzlichen Ruck, lenkte sie ihren Wagen nach links in jenen Weg hinein, von dem sie glaubte, eher an ihr Ziel zu kommen. Es war eine Entscheidung der inneren Stimme, der sie spontan nachgegeben hatte. Doch schon bald wich ihre anfängliche Zuversicht einer steigenden Mutlosigkeit, weil der feste Asphaltbelag durch eine lockeren Schotterschicht ersetzt wurde. Steine schleuderten hoch und schlugen hart gegen den Wagenboden. Die junge Frau bremste den Wagen etwas ab und fragte sich ängstlich, ob sie doch lieber wieder umkehren sollte. Aber den ganzen einsamen Weg zurückfahren? Das kam für sie nicht in frage. Außerdem hätte sie mit ihrem schweren Aston Martin sowieso nirgendwo wenden können. Also fuhr sie einfach weiter.

 

Langsam schob sich der Mond über den nächtlichen Himmel. Er war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Nur kurz erhellte er mit seinem milchig weißen Schein die mit Nebelschwaden durchsetzte Landschaft, dann krochen wieder geisterhafte Wolkenfetzen über ihn hinweg.

 

Elli Flint starrte durch die trübe Frontscheibe, die mit feinen Wassertropfen überzogen war. Die junge Frau schaltete die Scheibenwischer ein und folgte den vorauseilenden Lichtfingern der sich zitternd in die Dunkelheit tastenden Scheinwerfer ihres dahin rauschenden Fahrzeuges.

 

Plötzlich nahm die junge Frau etwas gewahr.

 

Angestrengt blickte sie nach vorn und im nächsten Moment wurde ihr heiß und kalt bei dem, was sie nur schemenhaft erkennen konnte.

 

Es waren entweder die Reste eines alten Castells oder auch nur die eines eingefallenen Getreidesilos. Sie konnte es nicht eindeutig sagen. Das einzige, was sie wusste, war die Tatsache, dass sie schon einmal hier vorbeigekommen war, allerdings von der anderen Richtung her.

Elli Flint stöhnte, stoppte ihren Wagen und ließ das elektrische Fahrerfenster herunter, um besser sehen zu können.

 

Das darf doch alles nicht wahr sein oder stelle ich mich nur so ungeschickt an“, kam es ihr halblaut über die Lippen, dann schloss sie das Fenster wieder und setzte die Fahrt langsam fort.

 

Plötzlich sah sie auf der rechten Seite mehrere Lichter durch das dichte Blätterwerk schimmern. Anscheinend gab es hier noch andere Gebäude ganz in der Nähe.

 

Aber anstatt erleichtert darüber zu sein, überkam der jungen Frau eine unerklärliche Angst. Schon wollte sie den Wagen beschleunigen, als sie einen steinigen Fahrweg bemerkte, der von der Schotterstraße abging und direkt zu den Lichtern hinüberführte.

 

Miss Elli Flint bremste den Aston Martin sofort hart ab und erblickte im gleichen Moment direkt gegenüber ein altes Holzschild am Wegrand mit der Aufschrift: Brauerei Lionel Flint.

 

Ich kann es einfach nicht glauben. Ich hab mein Ziel tatsächlich erreicht, dachte die junge Frau so für sich und fuhr langsam an der alten Holztafel vorbei in Richtung der Gebäude, durch deren Fenster Licht schimmerte. Doch merkwürdigerweise war sie gar nicht so froh darüber und am liebsten wäre sie wieder auf der Stelle umgekehrt. Dennoch setzte sie ihre Fahrt konsequent fort, obwohl das Haus, auf dem sie jetzt direkt zusteuerte, einen ziemlich düsteren Eindruck auf sie machte.

 

Sie parkte den Aston Martin im Hof, stieg aus und ging die Treppen zur Haustür hinauf. Dann drückte sie die Klingel, die sich gleich rechts daneben an der Wand befand und von Efeublättern überwachsen war.

 

Zweimal drückte sie auf den Knopf.

 

Gerade als sie ein drittes Mal drücken wollte, gab es einen ziemlichen dumpfen Schlag, der durch das ganze Wohnhaus hallte und im selben Augenblick erloschen die Lichter in den angrenzenden Nebengebäuden. Elli Flint erschrak etwas, fragte sich mit Befremden, was hier eigentlich los sei und was es mit dem dumpfen Geräusch auf sich hatte. Hatte Mr. Stone nicht gesagt, die Brauerei wäre nicht mehr in Betrieb?

 

Hallo, ist jemand zu Hause?“ rief sie ungeduldig, als sie bereits zum vierten Mal auf den Klingelknopf gedrückt hatte.

 

Ich bin Miss Elli Flint und komme wegen der Erbschaft. Ist hier denn niemand?“

 

Plötzlich hörte sie leise Schritte. Die junge Frau hatte den Eindruck, als stünde jemand hinter der schweren Tür. Fast glaubte sie, das Atmen eines Menschen zu hören. Sie trat noch näher heran und rief noch einmal.

 

Endlich öffnete sich die Tür und eine hagere alte Frau mit einem hässlichen, Falten überzogenen Krähengesicht erschien auf der Bildfläche. Sie stand da, mitten zwischen Tür und Angel und musterte Elli Flint mit Hass erfülltem Blick.

 

Die junge Frau wich ängstlich zurück.

 

Guten Abend. Sie müssen Mrs. Weedman sein, nicht wahr? Ich heiße Elli Flint und bin die Nichte meines verstorbenen Onkel Lionel Flints. Ich bin gekommen, um mein Erbe anzutreten. Mr. Stone, der Notar, hat Sie sicher schon davon in Kenntnis gesetzt, Mrs. Weedman.“

 

Sie sind Miss Flint? Das kann doch jeder behaupten“, stieß die ältere Frau hervor. „Sie sollen das hier alles geerbt haben? Das ich nicht lache!“ schrie die Alte krächzend und trat einen Schritt vor, sodass sie dicht vor der jungen Frau stand.

 

Höre Sie mal gut zu, Sie junges, unerfahrenes Ding. Es gibt keine Erben, keine Erben außer uns. Verschwinden Sie lieber sofort von dem Grundstück, bevor ich die Hunde auf Sie loslasse.“

 

Mit diesen Worten schlug Mrs. Weedman die Haustür zu, schloss sie zweimal ab und schaltete das Hoflicht aus. Elli Flint stand im dunkeln.

 

Eine ohnmächtige Wut schüttelte sie. Was dachte sich diese Person eigentlich dabei, mich einfach von meinem eigenen Besitz zu jagen? Ausgesperrt im eigenen Haus? Und Hunde gab es hier offenbar auch keine. Sie hätten schon langst angeschlagen.

 

Sie klingelte noch ein paar Mal – aus Trotz, was aber nichts brachte. Vielmehr gingen im Wohnhaus überall die Lichter aus. Dann war es überall totenstill.

 

Schließlich ging Miss Flint zu ihrem Auto zurück, setzte sich hinters Lenkrad und dachte darüber nach, was sie in dieser absurden Situation tun sollte. Die Nacht gedachte sie jedenfalls hier zu verbringen, ganz gleich, was auch immer geschieht. Nach einer Weile startete sie den Motor ihres Wagens und verschwand in der schützenden Dunkelheit.

 

***

 

Der leichte Regen hatte nachgelassen. Auch der Nebel verzog sich langsam und der bleiche Mond erschien über den hohen Wipfeln der Laubbäume. Er spendete gerade so viel Licht, wie Miss Flint für ihre nächtliche Entdeckungsreise benötigte. Trotzdem nahm sie die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und verstaute sie in ihrer ledernen Hängetasche. Den Aston Martin hatte sie im hinteren Teil des Hofes geparkt und war dann direkt hinüber zu den alten Brauereigebäuden gegangen. Jetzt stand sie vor einer der schweren Betriebstore, die mit wuchtigen Eisenriegeln und mehreren Schlössern gesichert waren. Alle Tore waren so verriegelt worden.

 

Merkwürdig, dachte sich die junge Frau, was mochte sich in dem verlassenen Brauereigebäude befinden, dass man die Eingänge so sorgfältig verschloss?

 

Ein schlürfendes Geräusch ließ sie plötzlich zusammenfahren. Ängstlich drückte sie sich in eine dunkle Nische. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass jemand ganz in der Nähe herumlief. Elli Flint lauschte atemlos in die Dunkelheit hinein.

 

Das Geräusch von schleichenden Schritten schien ganz deutlich vom Hof zu kommen, der vom Mondlicht nur vage erhellt wurde. Die junge Frau wusste nicht, ob sie schon entdeckt worden war, obwohl sie sich in der Mauernische ziemlich sicher fand. Außerdem schoben sich gerade wieder ein paar große Wolkenfetzen vor die helle Mondscheibe, die sein Licht verdüsterten.

 

Da.

 

Eine schattenhafte Gestalt schlich lautlos über den gepflasterten Hof.

 

Elli Flint hielt den Atem an.

 

Was hatte das zu bedeuten? Wer vom Personal würde sich so seltsam benehmen oder wurde sie gerade Zeugin eines Einbruchs?

 

Doch dann erkannte die junge Frau mit Entsetzen, dass die Gestalt zu ihrem Aston Martin hinüber huschte, der sich durch seine Form und seiner hellen Farbe deutlich vom Hintergrund abhob.

 

Auf gar keinen Fall konnte sie es zulassen, dass jemand versuchte, ihr Auto zu stehlen, sonst würde sie ohne Papiere und ohne einen Cent dastehen.

 

Dieser schreckliche Gedanke versetzte Miss Flint in helle Panik. Sie vergaß alle Vorsicht. Gerade in dem Moment, als die dunkle Gestalt im Begriff war, die Autotür zu öffnen, verließ sie ihr Versteck, rannte laut schreiend mit fuchtelnden Armen auf ihren Wagen zu und blieb erst dann wieder stehen, als sie ihn fast schon erreicht hatte.

 

Der Unbekannte drehte sich erschrocken um, hob sofort schützend beide Hände vors Gesicht und floh in dieser Haltung mit einem gurgelnden Laut in ein nah gelegenes Wäldchen, das gleich hinter dem Anwesen lag. Dann war er im Unterholz verschwunden.

 

Miss Flint setzte sich sofort hinters Lenkrad und verriegelt alle Türen von innen. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie wieder, während ihre Augen die düstere Fassade des Wohnhauses absuchte, das ihr jetzt nicht mehr so einladend aussah, wie auf dem Foto in der Anwaltskanzlei. Vielmehr wirkte es abweisend, feindselig und bedrohlich auf sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie daran dachte, hier möglicherweise wohnen zu wollen, was sie sich wegen der seltsamen Ereignisse seit ihrer Ankunft jetzt sowieso nicht mehr vorstellen konnte.

 

Die junge Frau kam sich entsetzlich einsam und verlassen vor. Sie startete den Motor ihres Aston Martin und drehte die Heizung voll auf. Sie fror und zitterte am ganzen Körper und es dauerte eine Weile, bis das Heizgebläse den Innenraum ihres Fahrzeuges mit einer wohligen Wärme ausgefüllt hatte. Außerdem war sie hungrig und müde und sehnte sich nach einem behaglichen Zimmer mit einem bequemen Bett.

 

Sie dachte an all die unerfreulichen Dinge, die ihr bisher widerfahren waren. Offenbar war sie nicht willkommen gewesen und nachdem man festgestellt hatte, dass sie sich immer noch auf dem Gelände der Brauerei befand, wollte man sie wohl auf andere Art und Weise beseitigen. Trachtete man ihr sogar nach dem Leben? Diese Gefahr spürte Elli Flint wie ihre eigene Haut. Angst stieg in ihr hoch. Was aber sollte sie tun? Die Flucht ergreifen und wieder wegfahren? Sie würde sich in dieser Gegen sowieso nur hoffnungslos verirren. Es machte also keinen Sinn, da draußen in der Nacht herumzufahren. Lieber wollte sie den Morgen abwarten und dann noch einmal versuchen, ins Haus zu gelangen und die alte Mrs. Weedman davon zu überzeugen, dass sie die rechtmäßige Erbin war und ein Anspruch darauf hatte, das Erbe mitsamt den Liegenschaften auch in Augenschein nehmen zu dürfen. Vielleicht sollte ich sogar die Polizei einschalten oder sich umgehend mit Mr. Michael Stone in Verbindung setzen, damit die gesamte Angelegenheit vor Ort ein für allemal geklärt werden konnte, dachte die junge Frau.

 

Aber vielleicht war Mrs. Weedman allen nächtlichen Besuchern gegenüber misstrauisch. Dagegen sprachen jedoch ihre Worte, dass es keine Erben gebe, außer ihr? Dass ihr Onkel Lionel Flint allein nur ihr die alte Brauerei samt Barvermögen vererbte hatte, musste sie doch längst von Mr. Stone erfahren haben. Sie wurde bestimmt rechtzeitig darüber informiert.

 

Im Wageninnern wurde die Luft jetzt unerträglich warm. Miss Elli Flint kurbelte das Seitenfenster herunter. Der Regen hatte ganz aufgehört und hier und da zwitscherten schon ein paar Vögel. Der Morgen kündigte sich an.

 

Um diese Zeit war es draußen empfindlich kühl. Trotzdem entschloss sich Miss Flint dazu, den Wagen zu verlassen um sich ein wenig ganz in seiner Nähe die Beine zu vertreten. Als sie zu dem Anwesen hinübersah, dachte sie bedrückt daran, dass ihr die Erbschaft bisher kein Glück gebracht hatte. Sie empfand keinerlei Freude darüber.

 

Die Brauereigebäude lagen direkt vor ihr. Sie waren nicht weit entfernt und deshalb entschloss sie sich dazu, noch einmal hinüber zu gehen. Es waren hässliche Bauten aus roten Backsteinen und mit hohen, vergitterten Fenstern. Dichtes Unkraut wucherte überall wohin man sah. Elli Flint ging an den großen, verriegelten Toren vorbei, doch dann blieb sie unvermittelt stehen, als wäre ihr eben etwas aufgefallen, was sie in der Dunkelheit der Nacht übersehen hatte.

 

Tatsächlich entdeckte sie breite Reifenspuren auf dem lehmigen Boden, den es nur zwischen dem gepflasterten Hof und dem Tor gab. Die Spuren schienen von einem größeren Transporter zu stammen – und dieses Fahrzeug musste durch das Tor gefahren sein.

 

Die Nerven der jungen Frau waren auf einmal angespannt, wie die Sehne eines Bogens, als sie neugierig weiterging. Sie hatte offenbar einen schmalen Pfad entdeckt, der hinter dem Unkrautgestrüpp an der Backsteinwand entlang führte. In der Nacht war ihr das nicht aufgefallen. Außerdem sah es so aus, als würde dieser versteckte Weg öfters benutzt. Elli Flint wunderte sich darüber, hatte es doch geheißen, dass die Brauerei schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb sei.

 

Nach etwa zehn Meter kam sie an ein weiteres Tor, das wesentlich kleiner und weder mit Eisenriegel noch mit Schlösser gesichert war. Seltsamerweise waren auch keine Griffe vorhanden. Wahrscheinlich konnte man es nur mit einem Schlüssel öffnen oder zusperren.

 

In der Ferne zeigte sich mittlerweile das erste Morgenrot über den bewaldeten Hügeln. Schnell wurde es heller. Die Aufmerksamkeit der jungen Frau galt jetzt nicht mehr nur den Gebäuden der Brauerei, sondern auch dem alten Wohnhaus, das früher einmal ein Wirtshaus gewesen war. Das kupferfarbene Schild hing immer noch über dem Eingang.

 

Sind ging zu dem Wohnhaus hinüber, marschierte bis zum Ende der Efeu berankten Wände und stand bald vor einem total verwilderten Garten. Weiter hinten endeten auch die Brauereigebäude. Anscheinend hörte hier das Grundstück auf. Neugierig durchquerte sie den Garten, bis sie auf der anderen Seite eine kleine Tür entdeckte, die zwar offen stand, aber von Unkraut aller Art völlig überwuchert war. Dahinter gab es nur noch dichtes Brombeergestrüpp. Hier gab es also kein Weiterkommen. Also wandte sich Elli Flint ab, verließ den Garten und ging außen am Zaun entlang, bis sie plötzlich abermals auf einen kleinen Weg stieß, der offenbar zur asphaltierten Straße runter führte. Ohne lange zu zögern ging sie durch ein kleines Wäldchen, das von grünen Wiesen und bestellten Äckern abgelöst wurde, bis sie auf einmal vor der Straße stand, auf der sie gekommen war. Selbst den Schotterweg konnte sie von hier aus sehen, der schnurgerade auf das Gelände der Brauerei zuführte. Bei Tageslicht sah alles viel überschaubarer aus, als in der Nacht.

 

Nicht weit von ihrem Standort entfernt kam ein LKW die Straße hoch, der gerade von einem tuckernden Motorrad überholt wurde. Es konnte sich also nur um die Hauptstraße handeln. Auch die Kreuzung war nicht weit entfernt. Elli Flint schlug den Weg dorthin ein und als sie dort ankam, las sie auf einem Straßenschild, dass es rechts nach Alloa ging. Das war die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie war in der Nacht links abgebogen und hatte nur durch Zufall die Brauerei ihres Onkels gefunden.

 

Eilig ging Miss Flint den Weg zurück und strebte ihrem Auto zu, das immer noch hinten im Hof der Brauerei stand. Schnell öffnete sie die Fahrertür, setzt sich hinters Lenkrad und startete den Motor. Die Sonne schien bereits, als sie den Hof mit quietschenden Reifen verließ und auf der gut ausgebauten Straße zurück nach Alloa fuhr. Ihre gute Laune kehrte zurück und gleichzeitig spürte sie ihren leeren Magen, der sich mit einem kneifenden Hungergefühl zurückmeldete.

 

Nach wenigen Meilen entdeckte sie eine Raststätte in unmittelbarer Nähe der Straße, die schon geöffnet hatte. Miss Flint steuerte ihren Aston Martin auf den Parkplatz des Rasthofes und betrat wenige Minuten später eine düster aussehende Gaststube, in der es nach abgestandenem Zigarettenrauch und schal gewordenem Bier roch.

 

An fensterseitigen Tischen saßen einige Männer und unterhielten sich angeregt. Als die junge hübsche Frau mit den langen blonden Haaren zur Tür hereinkam hoben sie nacheinander die Köpfe, lachten und machten zweideutige Bemerkungen. Besonders ein Kerl mit schwarzen Haaren tat sich mit anzüglichen Sprüchen hervor. Elli Flint beachtete ihn nicht.

 

Eine übergewichtige Wirtin trat zu ihr und musterte sie neugierig von oben bis unten. Wahrscheinlich war es nicht alltäglich, dass eine derart hübsche Person wie sie ohne Begleitung diese herunter

 

gekommene Gaststätte aufsuchte. Elli Flint war das egal. Sie bestellte Kaffe und einen Schinkentoast bei ihr.

 

Sie kommen nicht aus dieser Gegend?“ fragte die Wirtin, die gleichzeitig auch Kellnerin war und musterte die junge Frau abermals von oben bis unten. So eine gute Figur hätte sie auch gerne, verriet ihr neidischer Blick.

 

Ich bin auf dem Weg zum Anwesen der Flints“, erklärte sie bereitwillig, vermied dabei aber absichtlich, dass sie schon einmal dort gewesen war und die Nacht in ihrem Auto auf dem Hof der Brauerei verbracht hatte.

 

Die Wirtin der Gaststätte machte auf einmal große Augen und setzte sich unaufgefordert an den Tisch. Mit einer lässigen Handbewegung wies sie einen älteren Mann hinter der Theke an, ihr ebenfalls etwas zu trinken zu bringen.

 

Sie wollen zur Familie Flint?“ wiederholte die Dicke mit einem Ausdruck im Gesicht, als hätte die junge Frau einen Flug zum Mond gebucht.

 

Was wollen Sie denn ausgerechnet dort? Gehören sie vielleicht zur Familie des alten Lionel Flints, dem ehemaligen Brauereibesitzer? Hat der nicht das Zeitliche gesegnet?“

 

Lionel Flint war mein Onkel. Ich wusste nicht, dass mein Vater noch einen Bruder hatte. Erst durch meinen Notar erfuhr ich dann die ganze Wahrheit und dass ich die einzige Erbin bin.“

 

Die alte Mann brachte der Wirtin eine Tasse Kaffee und stellte sie auf den Tisch. Argwöhnisch schaute er Miss Flint an, drehte sich demonstrativ um und trottete zurück hinter die Theke. Von dort aus beobachtete er sie weiter.

 

Kennen Sie die Leute, die dort oben auf dem Gelände der Brauerei wohnen?“ fragte sie die korpulente Frau mit zurückhaltender Stimme. Sie wollte nicht, dass die übrigen Gäste etwas mitbekamen.

 

Die stellte sich erst einmal vor.

 

Ich heiße Sonja Lux und betreibe dieses schäbige Lokal hier. In der ganzen Gegend gibt es für Leute wie mich weit und breit keine ordentliche Arbeit, die gut bezahlt wird. Also habe ich dieses Gasthaus aufgemacht. Von den Einnahmen kann meine Familie und ich gerade mal so leben.“

 

Sie machte eine kleine Pause und sprach dann sofort weiter.

 

Nein“, antwortete sie, „die Leute selbst kenne ich so gut wie überhaupt nicht, aber es heißt, dass es in der alten Brauerei nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will.“

 

Spukt es dort vielleicht? Meinten Sie das? – Ach, bevor ich’s vergesse..., ich heiße Elli Flint und komme aus der Gegend um Alloa.“

 

Das Sie eine von den Flints sind, dachte ich mir schon. Aber was soll’s. Sie wollten wissen ob es dort spukt? Nein, das ist es nicht.“

 

Die junge Frau sah die Wirtin an und hatte plötzlich den komischen Eindruck, einen Anflug von Furcht in den wasserblauen Augen zu erkennen.

 

Was ist es dann? Sie können es mir ruhig sagen. Ich bin auf alles gefasst“, sagte Miss Flint mit ernstem Gesichtsausdruck.

 

Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Aber irgend etwas stimmt dort nicht. Und auch mit dem Tod Ihres Onkels soll angeblich etwas nicht in Ordnung gewesen sein“, antwortete die korpulente Frau.

 

Laut dem ärztlichen Befund soll er an einem Herzversagen gestorben sein“, meinte Elli Flint leise, „das ist bei älteren Leuten nicht Ungewöhnliches und kommt häufiger vor, als man annimmt.“

 

Sonja Lux nahm jetzt einen kräftigen Schluck Kaffee aus der breiten Tasse, stand plötzlich auf und während sie den Tisch abräumte sagte sie flüsternd zu der jungen Frau: „Mir lag nichts daran, Sie zu erschrecken. Aber Sie sollten sich Ihr Erbe genau ansehen. Vielleicht kommen Sie ja dann hinter das Geheimnis der alten Brauerei.“

Dann verabschiedete sie sich von ihrer Gesprächspartnerin und verschwand hinten in der Küche des Gasthofes.

 

Die junge Frau war wie gelähmt. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Die Gäste des Lokals schauten sie auf einmal misstrauisch an. Was hatten sie von dem Gespräch zwischen der Wirtin und ihr mitbekommen?

 

Miss Flint beschlich plötzlich das mulmige Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben, dass sie über die alte Brauerei ihres Onkels geredet und den Namen Flint dabei erwähnt hatte.

 

Als sie wieder vor ihrem Aston Martin stand, atmete sie erst einmal tief durch. Dann fuhr sie langsam durch die wenigen Straßen der nah gelegenen Ortschaft Blairhall. Die ganze Gegend hier behagte ihr nicht und obwohl die Sonne schien, wirkte sie trostlos und düster.

 

Hier soll ich wohnen? Niemals! Lieber verkaufe ich das gesamte Anwesen samt Wohnhaus und den umliegenden Ländereien. Ich pfeife darauf!

 

Bei diesem Gedanken wurde ihr wieder etwas wohler.

 

***

 

Unten in der Ortschaft Blairhall suchte Elli Flint nach einem Telefon und fand es schließlich in einem kleinen Café. Den Aston Martin hatte sie an der Hauptstraße, die direkt durch den Ort führte, stehen lassen. Ein hübsches Mädchen, das adrett gekleidet war, servierte.

 

Sind Sie zu Besuch hier?“ fragte das junge Mädchen freundlich und nannte auch gleich ihren Namen, der Stella hieß und dass sie die gute Seele des Cafés sei.

 

Weil niemand sonst im Café saß, erzählte Miss Elli Flint von ihrer Erbschaft und das ihr jetzt die alte Brauerei ihres verstorbenen Onkels Lionel Flint gehöre.

 

Würde die Serviererin das gleiche sagen, wie die klatschsüchtige Kellnerin aus der Raststätte?

 

Aber das junge Mädchen war wesentlich zurückhaltender als sie dachte. Als sie jedoch davon sprach, dass ihre Schwester Betty Mills in dem herrschaftlichen Wohnhaus als Dienstmädchen arbeitete, hätte sie fast einen Schrei losgelassen. Aber sie riss sich zusammen.

 

Was? Betty ist Ihre Schwester? Das ist aber eine Überraschung“, sagte sie zu dem Mädchen. „Leider habe ich sie noch nicht kennen gelernt. Aber ich werde heute noch dort hinfahren.“

 

Über das schöne Gesicht des jungen Mädchens flog ein Schatten.

 

Wissen Sie Miss Flint, meine Schwester Betty hat es nicht leicht bei der alten Mrs. Weedman. Sie wäre schon längst von dort weggegangen, wenn man sie nicht darum gebeten hätte, auf die Ankunft der neuen Besitzerin zu warten. Ich glaube, Betty wird sie mögen und sich darüber freuen, wenn Sie erfährt, dass Sie es sind, die alles geerbt hat.“

 

Nachdem Miss Flint ihren Kaffee ausgetrunken und die Rechnung bezahlt hatte, fragte sie nach dem Telefon.

 

Sie können hier völlig ungestört reden, Miss Flint“, sagte die junge Serviererin und deutete auf das Telefon rechts neben dem Ausgang des Cafés.

 

Die Verbindung nach Alloa war schnell hergestellt. Mr. Michael Stone, der Notar, war selbst am Apparat.

 

Na, wie gefällt Ihnen die Erbschaft, Miss Flint?“ wollte er sofort wissen.

 

Überhaupt nicht“, stieß die junge Frau gepresst hervor. „Ich will das ganze Anwesen so schnell wie möglich loswerden. Geben Sie mir die Adresse von einem Immobilienmakler, damit ich alles in die Wege leiten kann.“

 

Aber, aber, meine liebe Miss Flint, wie können Sie das jetzt schon sagen. Sie sind doch sicherlich erst gestern Abend angekommen.“

 

Das hat mir auch gereicht. Ich habe mich irrsinnig verfahren, und als ich endlich da war, hat man mich nicht einmal in mein eigenes Haus gelassen. Dann wollte man mir den Wagen stehlen und mich anscheinend darin hindern, den Ort wieder zu verlassen. Ich werde die alte Mrs. Weedman zur Rede stellen, was sie sich dabei gedacht hat.“

 

Das ist nun wirklich allerhand, Miss Flint“, meinte der Notar empört, „das brauchen Sie sich selbstverständlich nicht gefallen zu lassen. Ich werde Mrs. Weedman umgehend anrufen und mit ihr hart ins Gericht gehen. Unglaublich, was sich die alte Frau mit Ihnen erlaubt hat. Was bildet sich diese Person nur ein?“

 

Ich werde sie hinauswerfen, noch bevor ich alles zum Verkauf anbiete“, sagte die junge Frau erbost. Diese Person möchte ich dort nicht mehr sehen.“

 

Das können Sie aber nicht, Miss Flint. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass Ihr Onkel Mrs. Weedman und ihrem Sohn Mark dort Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt hat. Sie können die beiden höchsten aus Ihren Diensten entlassen, aber dann müssten Sie ihnen eine neue Unterkunft besorgen und die Kosten dafür selbst tragen. Sie wissen doch selbst, dass man alte Bäume nur sehr schlecht verpflanzen kann. Sie sterben vorher. Wollen Sie das, Miss Flint?“

 

Die junge Frau seufzte hörbar und bedankte sich bei Mr. Stone für die guten Ratschläge. Dann legte sie den Hörer wieder auf die Gabel.

 

Natürlich war ihr jetzt klar, dass sie nicht einfach davonlaufen konnte. Sie musste auf jeden Fall ihr Erbe in Augenschein nehmen. Das war das einzige in dieser Situation, was sich machen konnte.

 

Also setzte sie sich wieder ins Auto und fuhr aus dem Ort hinaus und nahm die Abzweigung in Richtung des Anwesens ihre verstorbenen Onkels. Diesmal würde sie sich nicht die Tür vor der Nase zuschlagen lassen. Das schwor sie sich eisern. Schon bald stand sie wieder mit ihrem Aston Martin auf dem Hof und stieg die Treppen zur Tür hinauf.

 

Mrs. Weedman!“ rief sie erbost mit lauter Stimme, „machen Sie sofort die Tür auf oder ich lasse die Polizei kommen.“

 

Immer wieder drückte sie auf die Klingel.

 

Drinnen rührte sich plötzlich was. Schritte näherten sich, und gleich darauf wurde die Tür aufgerissen.

 

Miss Elli Flint sah sich einem Mann gegenüber, der das gleiche hässliche Gesicht hatte wie Mrs. Weedman. Seine Augen, die nervös hin und her zuckten, standen viel zu eng zusammen. Noch nie in ihrem ganzen Leben war der hübschen jungen Frau ein derart unsympathischer Mann begegnet.

 

Aber, aber, wer wird denn gleich nach der Polizei rufen? Wer sind Sie überhaupt?“

 

Ich bin Miss Flint, die Nichte von Lionel Flint, meinem verstorbenen Onkel. Reicht Ihnen das jetzt, Mr. Mark Weedman?“ donnerte sie mit bebender Stimme.

 

Nun mal langsam, meine schöne Dame. Ich verstehe ja, dass Sie aufgeregt darüber sind, dass meine Mutter Sie heute Nacht nicht ins Haus ließ. In dieser abgelegenen Gegend treibt sich allerlei Gesindel herum. Wir müssen immer sehr vorsichtig sein.“

 

Ich habe für das unglaubliche Benehmen Ihrer Mutter nicht das geringste Verständnis. Mr. Stone hat Ihnen meine Ankunft doch rechtzeitig mitgeteilt und auch meinen Namen genannt.“

 

Der große hagere Mann zuckte gelangweilt die Schulter und schlenderte an ihr vorbei, als wäre nichts gewesen.

 

Ich habe noch einiges zu erledigen, Miss Flint. Gehen Sie nur rein. Es ist ja jetzt Ihr Haus. Wenn Sie mich dringend brauchen, können Sie das Dienstmädchen nach mir schicken. Die weiß, wo ich zu finden bin“, sagte Mark Weedman spöttisch und verschwand in einem der Brauereigebäude.

 

Kopfschüttelnd ging Miss Flint ins Haus. Zu ihrer großen Überraschung stand sie in einer wunderschön ausgestatteten Halle mit geschnitzten Eichenmöbeln und prächtigen Perserteppichen. Auf einem langen Bord standen historische Trinkgefäße. Im Hintergrund führte ein breite, blankgeputzte Holztreppe nach oben. Von der Halle gingen mehrere Türen ab. Eine davon öffnete sich jetzt und ein hübsches Mädchen in adretter Dienstkleidung erschien.

 

Herzlich willkommen im Haus der Familie Flint. Sie müssen Miss Elli Flint sein. Ich bin Betty, das Hausmädchen“, sagte sie lächelnd.

 

Die junge Erbin fand Betty auf Anhieb sympathisch und reichte ihr spontan die Hand.

 

Betty, würden Sie bitte so nett sein und mir das Haus zeigen?“ bat sie dann, „ich möchte mir ein Zimmer aussuchen und anschließend ein Bad nehmen.“

 

Aber gewiss doch, Miss Flint. Nur hat Mrs. Weedman..., ich meine...“

 

Das Mädchen brach mitten im Satz ab und blickte die junge Frau hilflos an.

 

Was ist mit Mrs. Weedman?” fragte Elli Flint ungeduldig. Wo steckt diese so überaus freundliche Person überhaupt?“

 

Kennen Sie denn Mrs. Weedman schon?“ fragte das Dienstmädchen.

 

Und ob. Ich hatte bereits das Vergnügen mit ihr. Heute Nacht wurde ich von ihr aus meinem eigenen Haus gewiesen, d. h., sie ließ mich erst gar nicht hinein.“

 

Das ist ja fürchterlich“, empörte sich Betty um sich gleich darauf ängstlich umzuschauen.

 

Haben Sie etwa Angst vor ihr, Betty?“

 

Das Dienstmädchen errötete.

 

Sie haben ja keine Ahnung, wie schlimm sie ist. Aber jetzt, wo Sie hier sind, wird sie sich wohl zusammenreißen und alles wird anders. Mrs. Weedman hat mich ständig herumkommandiert, als wenn ihr das hier alles selbst gehörte. Ich bin wirklich froh darüber, dass Sie da sind, Miss Flint. Ich freue mich sehr darüber.“

 

Keine Angst, ich werde schon mit ihr fertig werden“, beruhigte Miss Flint das junge Mädchen, dem die Tränen in den Augen anzusehen war. Behutsam legte sie ihren Arm um sie.

 

Aber bevor ich das tue, zeigst du mir das ganze Haus. Ich will es genau kennen lernen.“

 

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf.

 

Mrs. Weedman hat für Sie schon ein Zimmer ausgewählt“, erklärte Betty oben auf dem Flur. Hier gab es eine Menge Türen, fast wie in einem Hotel.

 

Ich suche mir mein Zimmer selbst aus“, gab die junge Frau stirnrunzelnd zur Antwort, „was diese Frau im Sinn gehabt hat, ist mir völlig gleichgültig“, entgegnete sie dem Mädchen, die jetzt eine Tür nach der anderen öffnete und jedes Zimmer einzeln erklärte.

 

Etwa eine Stunde später, nach der Zimmerbegehung, ging sie rüber ins Bad und räkelte sich bereits wohlig im duftenden Badewasser. Wenn sie von Mrs. Weedman und dem blödsinnigen Gerede über das Anwesen ihres Onkels einmal absah, gefiel es ihr plötzlich sehr gut hier. Die gesamte Inneneinrichtung war wirklich von allerhöchster Qualität und musste wohl seinerzeit ein Vermögen gekostet haben. Außerdem würde sie heute nacht zum ersten Mal in diesem Haus schlafen, worauf sie sich schon freute.

 

Miss Flint entstieg der Badewanne, trocknete sich ab und kleidete sich an. Sie wählte einen sportlichen Hosenrock mit Bolero und langärmeliger Bluse. Dann bürstete sie sich ausgiebig die langen blonden Haare und verlies danach das Zimmer.

 

Auf dem Flur kam ihr Mrs. Weedman entgegen. Die alte Frau konnte ihr nicht ausweichen und starrt sie feindselig an.

 

Kaum stand sie auf gleicher Höhe, polterte sie mit krächzender Stimme los.

 

Sie sind selbst schuld, Miss Flint. Sie kommen mitten in der Nacht an, klingeln an der Tür und stellen sich nicht einmal vor. Um diese nachtschlafende Zeit lassen wir keinen mehr rein. Das muss Ihnen doch klar sein...“

 

Was sagen Sie da? Sie müssen sich täuschen, Mrs. Weedman. Sie wussten genau, wer ich bin. Außerdem habe ich mich vorgestellt. Entweder haben Sie schlechte Ohren oder sind eine Lügnerin.“

 

Die alte Frau hörte ihre Worte nicht mehr. Sie war einfach an Miss Flint vorbei gerauscht, die Treppe runter gegangen und in der Küche verschwunden.

 

Als sie unten im Esszimmer ankam, stand plötzlich Mark Weedman neben ihr und grinste unverschämt wie ein Honigkuchenpferd. Er bot ihr den Arm an.

 

Ich habe mich extra für sie in Schale geworfen, Miss Flint. Ich wollte Sie zum Essen führen.“

 

Was wollten Sie?“

 

Die junge Frau unterdrückte ein Lachen.

 

Mich? Zum Essen führen. Vielen Dank, aber ich kann allein gehen. Haben Sie denn wirklich gedacht, ich würde mit einem Dienstboten zusammen speisen? Das kommt überhaupt nicht in frage. Ziehen Sie sich gefälligst um und gehen Sie wieder an die Arbeit, bevor ich mir was anderes überlege.“

 

Miss Elli Flint wusste im Augenblick nicht, woher sie den Mut zu solchen Worten nahm. Aber für sie war es wichtig den Leuten hier zu zeigen, wer das Sagen hatte. Sie war die neue Herrin des Hauses.

 

Das komische Grinsen auf Mark Weedmans Gesicht gefror ganz plötzlich zu eine Maske. Seine eng anliegenden Augen blinzelten heimtückisch auf.

 

Meine Mutter und ich haben immer mit Mr. Flint das Essen eingenommen“, sagte er wütend. Er gab sich keine Mühe, sich zu beherrschen.

 

Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich nicht Lionel Flint bin. Was mein Onkel zu tun pflegte, war ganz allein seine persönliche Sache. Meine ist eine andere. Ich bin jetzt die Herrin hier. Und wer ab sofort meinen Anweisungen nicht Folge leistet, muss sich für sein Verhalten verantworten. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt“, sagte Miss Flint mit kühler Stimme.

 

Ich wünsche jetzt zu speisen. Geben Sie Betty Bescheid, dass sie servieren soll. Und nach dem Essen möchte ich mit Ihrer Mutter sprechen“, hakte Miss Flint nach.

 

Mark Weedman stand da und man sah es ihm an, dass er sich nur mühsam zusammenriss. Schließlich ging er in die Küche, um seiner Mutter bei der Arbeit zu helfen.

 

Nach dem Essen kam Mrs. Weedman mit ihrem Sohn in die Küche. Während das Dienstmädchen das Geschirr wegräumte, bot ihnen Miss Flint einen Platz am rustikalen Esstisch an. Sie wartete geduldig ab, bis beide sich hingesetzt hatten.

 

Zunächst möchte ich einmal klarstellen, dass ich die neue Herrin des Hauses bin. Sie stehen in meinen Diensten und werden von mir bezahlt. Wenn die Sache nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle, kann ich jederzeit das Arbeitsverhältnis zwischen Ihnen und mir kündigen. Ist Ihnen das klar?“

 

Wenn Sie mit uns in diesem Ton sprechen, werden wir uns wohl kaum miteinander vertragen, Miss Flint“, meinte Mrs. Weedman bissig.

Das ist mir gleichgültig. Es liegt ganz allein an Ihnen. Ich werde Ihnen bestimmt nicht das Leben schwer machen. Ich hoffe daher, dass Sie alle zu meiner Zufriedenheit arbeiten werden. Das Essen war übrigens schauderhaft. Wenn Sie nicht kochen können, werde ich mich nach einer anderen Köchin umsehen, Mrs. Weedman.“

 

Die alte Frau lief puterrot an.

 

Es tut mir wirklich leid, Miss Flint. Es wird nicht wieder vorkommen. Normalerweise kann ich sehr gut kochen. Ich war auf meinen neuen Gast nicht eingerichtet. Geben Sie noch etwas Zeit und Sie werden von meinen Kochkünsten begeistert sein.“

 

Das klingt schon viel besser. Hoffentlich kann ich das heute Abend beim Dinner feststellen.“ Nach diesen Worten entließ sie Mutter und Sohn und ließ Betty zu sich kommen.

 

Als das Dienstmädchen die Küche betrat, bat Miss Flint auch sie an den Tisch.

 

Nehmen Sie doch Platz, Betty. Ich habe übrigens Ihre Schwester in dem kleinen Café kennen gelernt. Sie ist genauso freundlich und nett wie Sie. Ich soll schöne Grüße von ihr bestellen. Was sagen Sie dazu?“

 

Das junge Mädchen strahlte über das ganze Gesicht.

 

Miss Flint kam jetzt zur Sache.

 

Sagen Sie, Betty, ich habe schon mehrmals hören müssen, dass es im Haus meines Onkels oft nicht mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Was hat das zu bedeuten? Hatten Sie in der Vergangenheit auch diesen Eindruck?“

 

Das Dienstmädchen blickte sich ängstlich um.

 

Ach Miss Flint, genaues weiß ich auch nicht, aber die alte Mrs. Weedman und ihr Sohn führen etwas im Schilde. Mitten in der Nacht tauchen plötzlich wildfremde Menschen auf, die sich merkwürdig benehmen. Jedes Mal gingen sie gemeinsam in die Werkhallen der alten Brauerei und schalteten überall das Licht an. Dabei stehen die Gebäude doch angeblich leer. Als ich Mrs. Weedman einmal danach fragte, wurde sie sehr böse und ungehalten. Sie sagte, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Doch ich weiß, dass sie die schrecklichen Geräusche in der Nacht auch gehört haben muss. Ebenso ihr Sohn. Auch er schweigt dazu. Beide hatten wohl Angst davor. Oh, Miss Flint, ich weiß nicht was hier auf dem Gelände der alten Brauerei vor sich geht. Aber ich fürchte mich sehr davor. Ich bin froh, dass Sie da sind.“

Ist schon gut, Betty. Sie können jetzt Feierabend machen und sich Ihren privaten Angelegenheit widmen. Sie können jetzt gehen.“

 

Vielen Dank, gnädige Frau. Sie sind sehr nett zu mir. Wenn Sie mich trotzdem brauchen, bin ich jederzeit für Sie da. Sie müssen nur auf einen der versteckten Knöpfe hinter den Vorhängen am Fenster drücken und schon weiß ich Bescheid, dass Sie mich angefordert haben.“

 

Oh, das wusste ich nicht. Vielen Dank für diesen Tipp, Betty. Wir sehen uns dann zum Frühstück.“

 

Gute Nacht, Miss Flint. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Schlaf.“

 

Das Dienstmädchen verließ die Küche und ging auf ihr Zimmer im ersten Stock.

 

Die junge Hausherrin saß aber noch lange am Küchentisch und dachte darüber nach, welches Geheimnis sich wohl hinter den dicken Mauern der alten Brauerei verbergen mochte. Sie würde es sicherlich bald heraus bekommen, denn wenn sich Elli Flint mal etwas vorgenommen hatte, konnte man sie nur sehr schwer wieder davon abbringen. Zähe Ausdauer und unnachgiebige Zielstrebigkeit waren zwei ihrer herausragendsten Eigenschaften.

 

***

 

Der nächste Morgen fing mit Sonnenschein an. Die neue Hausherrin war schon früh aufgestanden und inspizierte das gesamte Gelände des Anwesens, so auch den verwilderten Garten. Hier musste unbedingt etwas getan werden, dachte sie. Allerdings würde sie diese Arbeit einer Landschaftsgärtnerei übergeben, was sicherlich sinnvoller sei, als selbst Hand anzulegen oder das vorhandene Personal dafür heranzuziehen.

 

Neben dem Garten entdeckte Miss Flint einen verlassenen Hühnerstall. Sie wunderte sich darüber, was es an Unentdecktem hier alles noch gab.

 

Das Brauereigelände lag einsam und verlassen da. Nichts deutete darauf hin, dass es möglicherweise doch noch benutzt wurde. Selbst die verdächtigen Reifenspuren vor dem Tor, die sie einen Tag vorher noch gesehen hatte, waren jetzt nicht mehr da. Miss Flint hatte den seltsamen Eindruck, dass sie sehr sorgfältig beseitigt worden waren.

 

Die gesamte Betriebsanlage der Brauerei wirkte reichlich verwildert und ungepflegt. Sie fragte sich, welche Arbeit Mark Weedman auf dem Anwesen überhaupt verrichtete. Der Mann war an die fünfunddreißig Jahre alt und hatte wohl über seine Mutter diese Arbeit bekommen. In seinem Arbeitsvertrag stand, dass er die Tätigkeit eines Gärtners und Chauffeurs auszuüben hatte. Zusätzlich hatte er freiwillig noch hausmeisterliche Tätigkeiten übernommen, die als zusätzliche Erweiterung seiner Aufgaben in dem Arbeitsvertrag nachträglich aufgenommen worden waren. Dafür wurde er auch recht gut bezahlt. Miss Flint beschloss, ihm etwas auf die Finger zu sehen.

 

Die junge Frau ging jetzt durch den verwilderten Garten und bahnte sich einen Weg durch die offene Gartentür. Hinter dem Zaun war alles mit Brombeeren, Dornengestrüpp und Farnkraut überwuchert. Aber um an den hinteren Teil der alten Gebäude heranzukommen, musste sie durch diesen Teil des Geländes, weil die Tore immer noch verriegelt waren und die Schlüssel sich angeblich bei einem Mann namens Fred White, einem Freund von Mark Weedman, befanden, der zur Zeit angeblich in Urlaub war.

 

Als sie endlich die Front des ersten Brauereigebäudes erreichte, stieß sie abermals auf eine alte Holztür. Sie war nur notdürftig mit neuen Brettern repariert worden und in keinem guten Zustand. Die Tür wies überall breite Risse auf, war aber ebenfalls, anscheinend von innen, verriegelt worden.

 

Miss Ellis Herz klopfte aufgeregt, als sie durch die Ritzen lugte. Vor Überraschung stieß sie einen kleinen Schrei aus, als sie einen überdachten Innenhof entdeckte, in dem mehrere Backsteinhaufen lagen. Dazwischen stand ein großer Lastwagen.

 

Miss Flint ging später um das Gebäude herum, wurde aber durch einen hohen Zaun daran gehindert, den dahinter liegenden Bereich, der zum Hof führte, zu erreichen. Zum Glück befanden sich zwischen dem Zaun und der mächtigen Grundstückmauer ein paar lose Latten, die sie gekonnt zur Seite schob. Schließlich wand sie sich durch den offenen Spalt hindurch und stand bald auf der anderen Seite. Sie merkte sich diese Stelle, weil sie dann nicht mehr durch den Garten und die dahinter liegenden Brombeersträucher und Dornengebüsche steigen musste.

 

Im ersten Impuls dachte sie daran, den Sohn von Mrs. Weedman zur Rede zu stellen, was es mit dem LKW auf sich hatte. Dann dachte sie darüber nach, dass es wohl klüger sei, erst einmal abzuwarten, was sich weiter ereignen würde. Der Lastwagen wurde sicher zu einem ganz bestimmten Zweck benutzt.

 

Sie lief den ganzen Tag überall herum und machte sogar einen kleinen Spaziergang durch den nah gelegenen Wald, den sie jetzt ebenfalls ihr eigen nennen durfte und zum weitläufigen Geländer der Brauerei gehörte. Das hier früher Holz geschlagen wurde, erkannte man an den zahlreich vorhandenen Baumstümpfen. Ihr Onkel fand darüber hinaus wohl viel Spaß an der Jagd, weil an etlichen Stellen große Hochsitze standen.

 

Erst gegen Abend schlenderte sie über den gepflasterten Hof. Dem Wohnhaus gegenüber stand eine große Garage, in der jetzt ihr Aston Martin untergebracht war. Daneben stand der Ford von Mark Weedman, der ziemlich ungepflegt aussah. Die Reifen waren mit getrocknetem Schlamm überzogen.

 

Miss Flint holte noch einige Sachen aus ihrem Auto und ging dann auf das Haus zu. Es war mittlerweile Zeit zum Abendessen. Sie wollte sich außerdem noch umkleiden.

 

Das Dinner war wirklich vorzüglich. Die alte Dame hatte tatsächlich Wort gehalten und sie schien sich große Mühe mit dem Essen zu geben. Es gab diesmal Lammkeule in einer köstlichen Soße mit verschiedenen Gemüse und ein leckerer Apfelkuchen zum Dessert.

 

Die neue Herrin des Hauses ließ es sich schmecken.

 

Was haben Sie jetzt für einen Eindruck von Ihrem neuen Zuhause, Miss Flint? Gefällt es Ihnen besser oder wollen Sie es immer noch verkaufen?“ fragte das Dienstmädchen, als sie das Geschirr abräumte.

 

Elli Flint zuckte mit der Schulter und zündete sich eine Zigarette an.

 

Ach Betty, so genau kann ich das jetzt noch nicht sagen. Teils gefällt es mir, teils wieder nicht. Ich bin heute den ganzen Tag draußen herumspaziert und habe mir überlegt, ob ich nicht Teile der alten Brauerei einreißen lassen soll um Platz für einen Reitstall mit Herberge und Gasthof zu schaffen. Die Gegend ist eigentlich recht schön, was mir vorher nicht so deutlich aufgefallen ist. Sie eignet sich besonders gut für ausgedehnte Reitausflüge, weil die Landschaft abwechslungsreich ist und es zudem viele kleine Seen gibt, die zum gemütlichen Verweilen einladen. Ich denke jedenfalls darüber nach. Die zwei Millionen Pfund müssen ja irgendwo gut angelegt werden.“

 

Die Idee mit dem Reitstall, dem neuen Gasthaus und einer Herberge ist wirklich nicht schlecht, Miss Flint. Aber was die alten Gebäude betrifft; wer weiß, was da alles zum Vorschein kommen würde, wenn Sie die Gemäuer einreißen lassen. Ich will gar nicht daran denken.“

 

Elli Flint dachte an den LKW und überlegte, ob sie Betty von ihrer Entdeckung erzählen sollte. Obwohl sie Vertrauen zu ihrem jungen Dienstmädchen hatte, entschied sie jedoch, dass es dafür noch zu früh war, um mit ihr darüber zu sprechen.

 

Wenn das Wetter morgen mitspielt, werde ich mir jedes Gebäude einzeln vorknöpfen. Wenn es sein muss, werde ich die schweren Eisenriegel aufbrechen lassen“, sagte sie zu Betty.

 

Mr. Weedman wird Sie kaum hineinlassen. Sein Freund Fred White und er achten sehr darauf, dass Unbefugte keinen Zutritt erlagen. Niemand kommt ohne Genehmigung dort rein.“

 

Aber erlauben Sie mal! Ich werde niemanden um Erlaubnis fragen müssen, wenn ich mir meinen Besitz ansehen will. Notfalls lasse ich die Polizei kommen, wenn es Schwierigkeiten mit den beiden Typen geben sollte. Darauf können sich die beiden Herren verlassen.“

 

Betty wurde plötzlich blass im Gesicht.

 

Ich habe Angst um Sie, Miss Flint“, sagte sie leise und etwas schüchtern. „Sie sind eine liebe Frau, aber bitte seien Sie vorsichtig! Die beiden Männer, besonders dieser Fred White, schrecken selbst vor Gewalt nicht zurück. Da bin ich mir ganz sicher. Ich kenne diesen Mann. Er ist sehr gefährlich. Ich sollte sie lieber begleiten.“

 

Ach was, auf keine Fall. Ich habe keine Angst. Und wenn Sie mich begleiten, würde das nur Aufsehen erregen. Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen. Ich habe sogar eine funktionierende Pistole im Schlafzimmer meines Onkels gefunden. Sie lag zusammen mit der dazu gehörigen Munition in seiner Nachtkommode unter einem kleinen Stapel loser Zeitungen. Ich werde sie mitnehmen, wenn ich auf Entdeckungstour gehe.“

 

So furchtlos, wie sich Elli Flint gab, war sie gar nicht. Im Gegenteil, ihr graute vor dem Gedanken, das Ding vielleicht mal einsetzen zu müssen.

 

Später, als sie schon im Bett lag, konnte sie einfach nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, die sich hauptsächlich um die alte Brauerei drehten.

 

Irgendwann war sie schließlich so müde, dass ihr die Augen von selbst zufielen.

 

***

 

Mitten in der Nacht wurde Elli Flint von einem unbestimmten Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Wie elektrisiert fuhr sie in die Höhe und saß im nächsten Augenblick hellwach im Bett.

 

Wieder hörte sie das Geräusch ganz deutlich. Irgendwo im Haus knarrte eine Diele und es hörte sich so an, als schlich jemand durch die Gänge.

 

Miss Flint sprang aus ihrem Bett, ging leise zur Schlafzimmertür hinüber, öffnete sie behutsam und lauschte. Sie wagte es nicht, dass Licht anzumachen, als sie auf den Gang hinaustrat. Nichts rührte sich. Das ganze Haus schien im tiefen Schlaf zu liegen.

 

Die junge Frau ging zurück ins Zimmer und wollte sich gerade wieder ins Bett legen, als sich zum Fenster hingezogen fühlte. Würde in dieser Nacht das Brauereigebäude wieder hell erleuchtet sein.

 

Aber das gesamte Gelände lag wie immer düster und verlassen da.

 

Plötzlich schien sie etwas bemerkt zu haben. War da nicht gerade jemand im Schatten über den Hof geschlichen? Miss Flint trat näher ans Fenster, blieb aber vorsichtshalber hinter dem Vorhang stehen und schob ihn nur ein klein wenig zur Seite. Sie wollte auf keinen Fall entdeckt werden.

 

Und tatsächlich. Dort unten war jemand und drückte sich jetzt an der Ziegelwand des Brauereigebäudes entlang. Mark Weedman konnte es nicht sein, wie die junge Frau feststellte, denn der war groß und hager. Die Gestalt dort unten hatte ehr eine kleine, kurz gedrungene Statur. Jetzt waren es also schon zwei unbekannte Personen, die des nachts auf ihrem Besitz aufgetaucht waren und heimlich umherschlichen. Diese Tatsache gefiel ihr ganz und gar nicht. Früher oder später würde sie wohl die Polizei kommen lassen müssen, wenn es für sie gefährlich werden sollte. Im Moment jedoch war sie noch Herr der Lage.

 

Auf einmal war die Gestalt nicht mehr zu sehen. Dann leuchtete abrupt das helle Licht einer Taschenlampe auf. Der Fremde schien den Boden abzusuchen.

 

Ob er nach den Reifenspuren sucht? fuhr es der jungen Frau durch den Sinn. Vielleicht gab es noch andere, die das Geheimnis ergründen wollten, was sich auf dem Geländer der alten Brauerei abspielte. Nur wer konnte das ein? War der nächtliche Besucher ein Freund oder ein Feind? Gut möglich, dass sich auch jemand von der Polizei hier herumtrieb, die ebenfalls von der Sache Wind bekommen hatte. Man musste alles in Betracht ziehen.

 

Aufgrund der neuerlichen Ereignisse stieg wieder dieses bedrückende Angstgefühl in ihr hoch. Hatte es diese Vorgänge wohlmöglich auch schon zu Lebzeiten ihres Onkels gegeben? Und wer steckte dahinter? Fragen über Fragen, die ihr große Sorgen bereiteten.

 

Plötzlich erschloss das Licht der Taschenlampe und die Gestalt verschwand irgendwo in der Dunkelheit. Das letzte, was Elli Flint noch zu sehen bekam, war das kurze Aufblitzen eines Feuerzeuges. Sekunden später hörte sie, wie ein Motor gestartet wurde und kurz danach ein Wagen über den Schotterweg ohne Scheinwerferlicht davonraste, die der Fahrer erst einschaltete, als er die Hauptstraße bereits erreicht hatte.

 

Miss Flint atmete tief durch. Ihr Puls beruhigte sich wieder etwas. Trotzdem kam in ihr die Frage auf, wie sie sich auf Dauer hier wohl fühlen sollte, wenn der Ort voller düsterer Rätsel und Geheimnisse war?

 

***

 

Draußen zwitscherten schon die Vögel, als Elli Flint erwachte. Die Sonne schien durchs Fenster und ihre hellen Strahlen luden zum Aufstehen ein. Vom Bett aus konnte die junge Frau den blauen Himmel sehen. Es war ein schöner, friedlicher Sommermorgen. Doch plötzlich standen die Erlebnisse der letzten Nacht wieder vor ihr.

 

Miss Flint verließ das Bett, ging rüber ins Bad und machte sich frisch. Nachdem sie sich angekleidet hatte stieg sie Treppe hinunter und begab sich in die Küche. Dann ließ sie sich von dem Dienstmädchen das Frühstück servieren. Etwa zehn Minuten später kam polternd Mark Weedman herein.

 

Einen wunderschönen guten Morgen, Herrin“, grinste er. „Ich hoffe Sie haben gut geschlafen und sind mit meiner Arbeit zufrieden.“

 

Miss Flint blickte tadelnd auf seine Stiefel, an denen feuchter, klebriger Dreck hing.

 

Lassen Sie Ihre Stiefel in Zukunft draußen vor der Tür, Mr. Weedman. Sie machen Ihrer Mutter und dem Dienstmädchen nur unnütze Arbeit damit“, meinte sie missbilligend. „Was haben Sie eigentlich bis jetzt gemacht?“ fragte sie forsch.

 

Seien Sie vorsichtig, Miss Flint. Behandeln Sie mich bitte nicht wie einen kleinen Jungen. Dass kann ich überhaupt nicht vertragen. Und wenn Sie wissen wollen, was ich getan habe, kann ich nur sagen, dass ich den Garten ausgemistet habe. Ich bin noch nicht fertig damit und werde wohl den ganzen Tag dazu brauchen, ihn aufzuräumen. Ich weiß nur nicht, ob ich eine glückliche Hand für Blumen und Gemüsepflanzen habe.“

 

Das wird sich schon herausstellen. Wenn nicht, lasse ich mir eine Gärtnerfirma kommen, die die Sache für mich erledigt. Außerdem wollte ich mit Ihnen nicht über Ihre Arbeit sprechen, sondern möchte Sie fragen, wer nachts hier auf meinem Grundstück herumschleicht.“

 

Was? Herumschleichen. Da täuschen Sie sich bestimmt, Miss Flint. Sie haben doch geschlafen.“

 

Die junge Frau sah, wie Mark Weedman nervös wurde.

 

Ganz und gar nicht, Mr. Weedman. Ich habe nicht geschlafen. Dann erzählte sie von ihren Beobachtungen und war danach gespannt auf seine Reaktion. Auch auf die von seiner Mutter.

 

Er und seine Mutter tauschten erschrockene Blicke aus. Die alte Frau verließ hastig die Küche.

 

Und heute Nacht war es eine andere Gestalt, die Sie gesehen haben“? fragte Mark Weedman und man sah ihm dabei an, dass er sich höchst unbehaglich dabei fühlte.

 

So ist es“, antwortete ihm Elli Flint. „Außerdem möchte ich sie fragen, was der LKW hier soll, den ich hinten in einem der alten Brauereigebäude entdeckt habe. Gehört das Fahrzeug Ihnen?“

 

Der Lastwagen gehört meinem Freund Fred White“, erklärte der Gehilfe. „Ihr Onkel war damit einverstanden, ihn dort unterzustellen. Ich habe ganz vergessen, Sie auch um Erlaubnis zu bitten. Ich hoffe, dass Sie damit einverstanden sind. Das Fahrzeug stört schließlich niemanden. – Ach, ich wollte Ihnen noch sagen, dass Sie die Gebäude nicht besichtigen können, weil sie stark einsturzgefährdet sind. Ich könnte es nicht verantworten, Ihnen den Schlüssel zu geben.“

 

Ach, wirklich? Aber Ihr Freund, der kann unbesorgt aus und eingehen, wie er will. Finden Sie das nicht ein bisschen seltsam, Mr. Weedman?“

 

Der Mann hob beide Hände, als wolle er etwas abwehren.

 

Mein Gott noch mal. Der fährt doch nur in den Innenhof, Miss Flint. Bis dahin können Sie selbstverständlich auch gehen. Kein Problem. Ich meinte ja nur, dass es gefährlich ist, die Gebäude zu betreten. Überall sind schon Steine herabgefallen, und die Decken haben große Löcher. So oft es meine Zeit erlaubt, repariere ich alles, so gut es geht. Und mein Freund hilft mir natürlich dabei, weil ich allein das sonst nicht schaffen würde. Das ist übrigens eine Regelung, die Ihr Onkel noch getroffen hat.“

 

Die Reparaturarbeiten können Sie ab sofort einstellen. Sie brauchen sich keine weitere Mühe mehr zu geben, Mr. Weedman. Ich habe nämlich vor, einen Großteil der sanierungsbedürftigen Gebäude abreißen zu lassen. Die alten Werkhallen sind hässlich und dienen keinem Zweck mehr. Ich habe Pläne, hier einen Reitstall mit Wirtschaft und Herberge zu errichten. Das kommt bei den Leuten immer gut an und wird viel Geld bringen, auch für die kleine Ortschaft. Ich habe dem Bürgermeister schon schriftlich davon in Kenntnis gesetzt. Er ist von meiner Idee begeistert.“

 

Was, Sie wollen die Gebäude abreißen lassen? Das können Sie nicht machen!“

 

Mark Weedman wurde mehr als nervös. Sein rechtes Augen zuckte unkontrolliert auf und ab.

 

Und warum nicht?“ frage Miss Flint.

 

Weil die Gebäude unter Denkmalschutz stehen. Das weiß ich von Ihrem Onkel. Er hatte ebenfalls Pläne und wollte immer das Anwesen der alten Brauerei einem anderen Zweck zuführen. Leider hat ihm da die Denkmalschutzbehörde stets einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch Sie haben die Verpflichtung, alles zu erhalten. Lassen Sie sich etwas anderes einfallen, Miss Flint.“

 

Ich werde die Sache überprüfen lassen. Auf jeden Fall wird sich hier in nächster Zeit einiges ändern. Ich will nicht mein ererbtes Vermögen ausschließlich in den Erhalt einer baufälligen Immobilie stecken. Wenn es sein muss, lasse ich die Wände stehen, die dann renoviert werden müssen. Aber innen kann mir niemand vorschreiben, was ich mit den neuen Räumen danach machen werde.“

 

Mr. Weedman fing plötzlich an zu schwitzen. Dann stand er erbost auf und verließ die Küche. Draußen vor der Tür hörte man ihn fluchen und auf seine neue Herrin schimpfen.

 

 

***

 

Am nächsten Tag fuhr Miss Flint in die nah gelegene Ortschaft Blairhall. Sie wollte einige Besorgungen machen und sich vor allem einen Hund kaufen. Das Gelände der Brauerei konnte einen aufmerksamen Beschützer gut gebrauchen. Nachdem sie soweit alles erledigt hatte, entschloss sie sich dazu, das kleine Café aufzusuchen, wo Betty auf sie wartete. Das Dienstmädchen hatte heute frei und war zu Besuch bei ihrer Schwester Stella.

 

Aber Betty war nicht allein. Ein breitschultriger Mann mit schwarzen Haaren, den Miss Flint nur von hinten sehen konnte, saß an einem der rückwärtigen Tische und erklärte dem jungen Mädchen offenbar etwas.

 

Miss Flint beschlich ein unangenehmes Gefühl. Wer mochte schon Betty Mills kennen? Zudem erinnerte sie der Mann mit den schwarzen Haaren an jemanden, den sie in der schmuddeligen Raststätte schon mal gesehen hatte. Er war ihr durch seine anzüglichen Sprüche aufgefallen, als sie mit Sonja Lux geredet hatte.

 

Entschlossen steuerte sie auf den Tisch zu. Der Mann drehte seinen Kopf nach hinten und sah sie an. Elli Flint erstarrte. Es war tatsächlich derselbe Typ, der ihr vor ein paar Tagen in der herunter gekommenen Gaststätte begegnet war.

 

Bei ihrem Anblick erhob er sich wortlos, aber mit einem Blick, der das junge Mädchen erschauern ließ. Dann verließ der Mann grußlos das Lokal und knallte die Tür hinter sich zu.

 

Betty machte einen etwas verwirrten Eindruck auf Miss Flint.

 

Wer war das denn? Wollte der Mann was von dir?“

 

Ihr Dienstmädchen schüttelte den Kopf.

 

Ich saß gerade am Tisch und trank meinen Kaffee, als dieser Kerl zur Tür hereinkam und sich einfach unaufgefordert zu mir setzte. Dann sagte er, dass ich doch das Dienstmädchen der Brauereifamilie Flint sei, und was ich hier in Blairhall mache. Schließlich begann er, mich nach Ihnen auszufragen, Miss Flint. Aber ich habe nicht viel gesagt – und wenn, nur Gutes. Zum Glück sind Sie gekommen. Er selbst hat sich mir nicht vorgestellt.“

 

Miss Flint runzelte die Stirn. Sie bestellte bei Bettys Schwester einen Kognak und für ihr Dienstmädchen eine Tasse Kaffee. Dann unterhielten sie sich eine Weile. Dass sie den schwarzhaarigen Mann schon mal getroffen hatte, verschwieg sie dem Mädchen. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken und hatte auch keine große Lust zum Rätselraten. Etwa eine Stunde später verließ sie das Café wieder und fuhr zu einem Hundezüchter ganz in der Nähe, der auf Wachhunde spezialisiert war. Dort angekommen erschien dieser auch gleich mit einem jungen, kräftigen Schäferhund, der Elli Flint lebhaft anbellte. Es war ein lieber Kerl, kohlrabenschwarz und schien sehr aufmerksam zu sein. Er hörte auf den Namen Ricky.

 

Der Hundezüchter versicherte ihr, dass er auf jedes fremde Geräusch reagiere und mit seinem wütenden Bellen unliebsame Besucher fernhielt. Aber er konnte auch gut zubeißen, wenn es sein müsste.

 

Miss Flint war zufrieden und nahm den Schäferhund gleich mit, der auf dem Rücksitz des Aston Martins Platz nehmen musste.

 

Als die junge Frau mit ihrem Aston Martin den Heimweg antrat, war es draußen schon wieder dunkel geworden.

 

***

 

Die Nacht war nasskalt und ein dichter Nebel stieg auf. Es war fasst die gleiche Situation wie auf der ersten Fahrt zum Anwesen ihres verstorbenen Onkels vor wenigen Tagen.

 

Miss Flint fand ihre Idee plötzlich kindisch, wieder zurückzufahren. Sie hätte auch in Blairhall übernachten können. Andererseits wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie Betty mitgenommen hätte. Wegen ihr hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen, als sie beim Verlassen des Cafés ihr Dienstmädchen nervös mit bleichem Gesicht am Tisch sitzen sah. Aber über ihre Freizeit konnte sie nicht bestimmen.

 

Diesmal fand sie sich gut zurecht auf der Straße. Trotz des Nebels verfehlte sie den Schotterweg nicht. Sie ging vom Gas weg, schaltete einen Gang zurück und schaute während des Lenkeinschlags hinüber zum Anwesen der Brauerei, als sie plötzlich mehrere Lichter verschwommen durch die trübe Nebelküche erblickte.

 

Ellis Flint Herz begann ängstlich zu pochen. Etwas ging dort vor sich. Sie schaltete die Autoscheinwerfer aus, fuhr den Aston Martin rechts auf den Grünstreifen und verließ das Fahrzeug. Den Schäferhund nahm sie mit. Er spürte, dass Frauchen etwas vorhatte. Aufgeregt zog er an der Leine und wollte voraus preschen, doch die junge Frau hielt ihn energisch an der Leine zurück.

 

Als Elli Flint den Hof fast erreicht hatte, sah sie ganz deutlich alle Lichter in dem alten Brauereigebäude brennen. Im Hof stand ein großer Lastwagen mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfer.

 

Ein unwillkürliches Zittern überlief Miss Flint, und einen Moment lang war sie versucht, einfach zum Auto zurückzugehen und weiter zu fahren. Aber dann dachte sie sich, dass damit nichts gewonnen wäre. Sie nahm jetzt ihren ganzen Mut zusammen und schlich mit dem Hund zusammen über den Nebel verhangenen Hof rüber zum Haus. Sie wollte sich dort hinter der nächsten Ecke verstecken.

 

Doch das war gar nicht so einfach. Plötzlich traten drei Männer aus dem großen Tor und gingen auf den Lastwagen zu. Einer davon war Mark Weedman, das konnte Elli Flint ganz deutlich feststellen. Als sie den anderen Mann erkannte, überlief sie ein eisiges Gefühl. Es war kein anderer als der Typ aus dem Café, der ihr schon zweimal unangenehm aufgefallen war und wohl Fred White hieß. Er war ein enger Freund von Mark Weedman. Den dritten Mann hatte sie noch nie zuvor gesehen.

 

Was hat das denn zu bedeuten?“ murmelte sie mit halblauter Stimme in sich hinein und dachte, dass das nichts Gutes sein konnte.

 

Die junge Frau hielt den kräftigen Schäferhund noch kürzer, der jetzt auf einmal ganz still geworden war. Er witterte etwas und starrte konzentriert in eine Richtung.

 

Im nächsten Augenblick begann Ricky zu knurren, riss sich los und schoss wie ein Blitz auf die drei Männer zu. Elli hielt die Leine fest in der Hand und wollte den Hund zurück reißen, was ihr in der Aufregung nur schlecht gelang. Sie konnte nicht verhindern, dass der Schäferhund den Mann mit den schwarzen Haaren ansprang und ihn dabei fast in den Hals gebissen hätte.

 

Was zum Teufel soll das? Wo haben Sie den Köter her? Und wieso sind Sie auf einmal hier?“ rief Mark Weedman wütend.

 

Hast du nicht zu uns gesagt, wir sind heute ungestört?“ zischte der Schwarzhaarige aufgebracht und rieb sich mit der rechten Hand die Kehle. Seine Augen blitzten böse und angriffslustig auf. Am liebsten hätte er wohl den Hund eigenhändig erschlagen.

 

Eine namenlose Angst kroch in Miss Flint hoch. Hastig zog sie den wild bellenden Schäferhund an sich. Dann beruhigte sie ihn, so gut es ging.

 

Wir sprechen morgen darüber, Mr. Weedman, was hier los ist. Ich habe jetzt keine Zeit für lange Streitereien“, rief sie steif und ging mit Ricky eilig ins Haus.

 

Als die junge Frau die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, verzichtete sie zunächst darauf, das Licht anzumachen. Den Hund band sie an einen der hölzernen Bettfüße fest, der immer noch sehr aufgeregt war. Sie streichelt ihn zur Beruhigung liebevoll über den Rücken und ging schließlich zum Fenster hinüber, verbarg sich aber hinter dem Vorhang.

 

Der Lastwagen fuhr gerade ab. Doch nur der Schwarzhaarige saß darin. Mr. Weedman und der andere Mann verschwanden im Brauereigebäude. Kurze Zeit später gingen dort die Lichter aus und die Tore wurden wieder verriegelt. Dann kamen die beiden Männer über den Hof und traten ins Haus. Miss Flint hörte noch unterdrückte Stimmen und leise Schritte, dann wurde es still.

 

 

***

 

Miss Flint erwachte am nächsten Morgen sehr spät. Sie war wie gerädert und hatte leichte Kopfschmerzen. Gerade als sie aufstehen wollte, klopfte es an der Tür.

 

Ricky, der Schäferhund, der die ganze Nacht in ihrem Zimmer verbracht hatte, fing sofort zu bellen an.

 

Als sie die Tür öffnete, stand Betty vor ihr und brachte das Frühstück. Sie sah blass und übernächtigt aus.

 

Guten Morgen Miss Flint“, begrüßte sie das Mädchen und stellte das silberne Tablett ab. Als sie Ricky sah, streichelte sie den Hund und fragte die Hausherrin, ob sie ihm etwas zum Fressen bringen soll.

 

Ich habe mein Auto oben an der Straße stehen. Im Kofferraum liegen ein paar Säcke mit Hundefutter. Ich werde es nachher selbst holen und Ricky damit füttern. Du kannst ihm aber schon mal etwas zu trinken hinstellen. Ich glaube er ist durstig.“

 

Betty nickte zerstreut. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben.

 

Zuerst dachte ich, Sie hätten bereits in der Küche gefrühstückt als ich heute morgen nach unten kam. Auf dem Tisch standen bereits einige Frühstücksgedecke, die alle benutzt worden waren.“

 

Ach so, ja. Wir hatten in der Nacht einige Gäste“. Dann erzählte Miss Flint von ihren Beobachtungen und den seltsamen Vorkommnissen in der alten Brauereihalle.

 

Mir macht das alles irgendwie Angst, Miss Flint. Die Männer sind gefährlich. Die führen irgend etwas im Schilde. Sie sollten die Polizei rufen und nachsehen lassen, was sie in der alten Brauerei zu verbergen haben.“

 

Vielleicht ist es dazu noch zu früh. Ich werde aber heute noch runter nach Blairhall fahren und Mr. Stone anrufen. Unsere Telefone sind tot und der Störungsdienst wird wohl noch einige Zeit brauchen, bis alles wieder funktioniert.“

 

Dann schickte sie Betty weg.

 

Nach dem Frühstück holte sie den Wagen und parkte ihn in der Garage. Das Futter für Ricky nahm sie gleich mit, füllte eine Schale damit auf und stellte sie nach draußen auf die Treppe. Als sie den Schäferhund von der Leine ließ, rannte dieser sofort aus dem Schlafzimmer über die Holztreppe runter durch die offene Tür nach draußen auf den Hof. Miss Flint rief ihn zurück und zeigte ihm den gefüllten Napf. Sofort war Ricky wieder zur Stelle und fiel mit Heißhunger über das Futter her.

 

Plötzlich stand Mrs. Weedman hinter ihr.

 

Wieso haben Sie einen Hund mit ins Haus gebracht?“ fragte die alte Frau mürrisch.

 

Ich sehe keinen Grund, warum ich keinen Hund halten sollte. Ricky ist ein besonders aufmerksames Tier, das ich hier gut brauchen kann. Der Hund wird die anderen wohl kaum stören, höchstens nächtliche Besucher ihres Sohnes. – Übrigens, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, ohne meine persönliche Zustimmung hier in meinem Haus jemanden übernachten zu lassen?“

 

Ich weiß nicht, was Sie meinen, Miss Flint. Ich habe die ganze Nacht durchgeschlafen und verbitte mir derartige Anspielungen. Damit habe ich nichts zu tun. Da müssen Sie schon meinen Sohn fragen. Leider ist er heute nicht da.“

 

Wütend drehte sich die alte Haushälterin herum und verschwand im Innern des Hauses.

 

Nach dem Mittagessen machte Miss Flint einen ausgedehnten Spaziergang. Sie ging ein Stück die Hauptstraße entlang bis zur Abzweigung und dann rüber über ein paar Felder den Hügel hinauf, der sich hinter der alten Brauerei erhob. Ein verwilderter Pfad führte durch das Dickicht, den sie von hier oben deutlich erkennen konnte. Er endete am Tor der verwitterten Brauereimauer, wo sich eine kleiner Durchbruch befand, der gerade so groß war, dass sie hindurch passen würde. Interessiert folgte sie dem Pfad, kam bald an den besagten Mauerdurchbruch, krabbelte mit Ricky hindurch und stand im nächsten Moment schon auf der anderen Seite. Dann hörte sie ein deutlich kratzendes Geräusch aus dem vor ihr liegenden Gebäude.

 

Vor Aufregung blieb ihr fast das Herz stehen, als sie durch das hohe Gras auf das Gebäude zu schlich und durch das hintere Eingangstor spähte. Sie sah, wie Mark Weedman im Innenhof damit beschäftigt war, einen Stapel Kisten abzutragen und durch eine kleine Maueröffnung schob. Auch der Lastwagen stand nicht mehr da. Sicher war er derselbe, den sie in der Nacht gesehen hatte und der dann weggefahren war. Hatte er diese Kisten gebracht? Und was enthielten sie?

 

Miss Flint zwang sich zum nüchternen Denken.

 

Der Lastwagen gehörte Marks Freund Fred White, wenn sie damit richtig lag, dass das der Mann mit den wilden schwarzen Haaren war.

 

Sie konzentrierte sich und fasste zusammen.

 

Der Typ darf den LKW hier abstellen und hilft Mr. Weedman dabei, das schadhafte Gebäude zu reparieren. Doch warum geschah das niemals am Tag? Alles passierte nachts. Tagsüber waren die Brauereigebäude zudem verriegelt. Enthielten die Kisten Baumaterial? Das hätte man ihr sagen müssen. Außerdem waren bisher keine Rechnungen aufgetaucht, die Angaben über gekauftes Baumaterial enthielten. Also musste in den Kisten etwas anderes sein.

 

Bei dieser Vorstellung überfiel sie eine heftige Angst. Wenn Mr. Weedman wirklich etwas Ungesetzliches tat und sie ihn dabei ertappte, konnte es sein, dass er möglicherweise kurzen Prozess mit ihr machte. Sie traute diesem Kerl ohne weiteres zu, was für ihn sicherlich kein Problem war, in den hier stehenden, halbverfallenen Gebäuden einen Unfall vorzutäuschen.

 

Langsam trat sie mit Ricky den Rückzug an. Der Hund verhielt sich vorbildlich, als ahnte er, was hier abging. Sie machte einen kleinen Umweg, um nicht aufzufallen, erreichte bald den Hof und ging ins Haus, um mit Mrs. Weedman bestimmte Punkte der Haushaltsführung durchzusprechen. Das Gespräch dauerte nicht lange und nach dem Abendessen ging Miss Flint in ihre Räume hinauf.

 

Als die junge Frau ihren Wohnraum betrat, hatte sie das seltsame Gefühl, als wenn noch jemand anders in diesem Zimmer gewesen wäre. Ein ganz schwacher, süßlicher Tabakgeruch hing im Raum.

Sie wusste, das Mark Weedman Pfeifenraucher war.

 

Und dann, ganz unvermittelt, entdeckte sie den kleinen Schraubenzieher, der halb verborgen unter dem Sessel lag. War der Sohn von Mrs. Weedman hier oben gewesen? Miss Flint hob den Schraubenzieher auf und legte ihn auf den Tisch gleich neben die Blumenvase. Dann holte sie sich ein Buch aus dem Regal und machte es sich im Sessel bequem.

 

Draußen erhob sich ein starker Wind. Er wurde immer heftiger, heulte und pfiff bald durch alle Ritzen. Die großen Laubbäume des kleinen Wäldchens rauschten wie die anbrandenden Wellen einer Meeresküste. In der Ferne war ein rumpelndes Donnergrollen zu hören. Die junge Frau war so in ihrer Lektüre vertieft, dass sie von alledem nichts mitbekam. Erst als die kleine Stubenuhr auf dem Kaminsims zwölfmal schlug, hob sie den Kopf und lauschte den Klängen der Uhr gedankenverloren nach.

 

Mitternacht, Geisterstunde! dachte sie mit einem merkwürdigen Gefühl in der Bauchgegend. Sie klappte das Buch zusammen und wollte ins Bett gehen. Sie stand auf und begann sich auszukleiden.

 

Plötzlich hörte sie ein seltsam scharrendes Geräusch. Es schien von gar nicht weit her zu kommen. Dazwischen vernahm sie immer wieder ein unterdrücktes Schluchzen. Ein Gänsehaut überzog Miss Flints Rücken. Sie hielt den Atem an, schaltete das Licht aus, ging leise rüber ins Bad, schlüpfte in den Schlafanzug und schlich hinüber zum Fenster.

 

Gerade als sie den Vorhang etwas zur Seite schob, erhellte ein greller Blitz die nächtliche Dunkelheit. Für Bruchteile von Sekunden sah Miss Flint etwas metallisches aufblitzen, konnte aber nicht erkennen, was es war. Danach war alles wieder in tiefe Finsternis getaucht. Auch die alten Brauereigebäude lagen vollkommen im Dunkeln. Sie schob vorsichtig den Vorhang zurück und begab sich ins Bett. Doch kaum hatte sie die weiche Daunendecke zugezogen, als sie erschreckt wieder in die Höhe fuhr.

 

Das laute Geräusch war diesmal nicht zu überhören. Es kam von draußen und hörte sich an, als lande ein Flugzeug mit heulenden Turbinen.

 

Ein Zittern überkam Miss Flints Körper. Sie verließ das Bett, schaltete das Zimmerlicht ein, das aber im selben Moment wieder erlosch.

 

Jemand hatte wohl absichtlich den Strom abgeschaltet.

 

Kalter Schweiß stand der jungen Frau jetzt auf der Stirn. Sie wollte in der Dunkelheit nach Hilfe rufen, brachte aber keinen Laut heraus. Sie stolperte ins Bett zurück, kroch ängstlich immer weiter unter die Decke, bis nur noch die Augen herausschauten. Miss Flint seufzte und versuchte sich zu beruhigen. Wie gerne hätte sie jetzt den Schäferhund bei sich gehabt. Aber sie hatte dem Dienstmädchen erlaubt, ihn mit auf sein Zimmer zu nehmen, weil Ricky ein aufmerksamer Hund war, der jeden heimlichen Schleicher sofort entdeckte. Betty fühlte sich einfach mit dem Hund sicherer in diesem Haus.

 

Plötzlich ging das Licht wieder an. Elli Flint erschrak, doch dann dachte sie daran, dass wohl die Stromversorgung durch das Gewitter unterbrochen worden war. Sie löschte das Licht wieder und rollte sich nach einer Weile auf die Seite. Bald war sie eingeschlafen.

 

***

Am Morgen erwachte die junge Frau mit schmerzenden Gliedern. Es war ein trüber, grauer Morgen, als sie aus dem Fenster schaute. Das schlechte Wetter brachte sofort die Erinnerungen an die Schrecken der letzten Nacht zurück. Sie war sich allerdings jetzt nicht mehr so sicher, ob sie all diese unheimlichen Geräusche bei vollem Bewusstsein gehört hatte.

 

Es klopfte an der Tür und Betty trat mit dem Frühstückstablett ein. Ihre Augen waren angstvoll auf die Hausherrin gerichtet.

 

Haben Sie es auch gehört, Miss Flint? Es war wieder da...in der Nacht.“

 

Ja, ich habe sie ebenfalls gehört. Es hat sich angehört wie die laufenden Turbinen eines Flugzeuges. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wer oder was dieses Geräusch erzeugt hat. Trotzdem muss es eine logische Erklärung dafür geben. Es gibt für alles eine logische Erklärung. Es gibt keine Geister und Gespenster“, sagte Miss Flint zu ihrem Dienstmädchen mit zuversichtlicher Überzeugung.

 

Und wenn doch, Miss Flint? Ich meine, wenn es was anderes ist, als wir denken oder vermuten.“

 

Miss Flint schüttelte energisch den Kopf.

 

Nein, mein liebes Kind. Es muss für die Ereignisse hier auf dem Anwesen meines Onkels eine logische Erklärung geben. Und ich werde sie finden.“

 

Als Miss Flint nach unten in die Küche ging, machte sie ein möglichst gleichgültiges Gesicht. Mrs. Weedman war gerade dabei, einige Töpfe einzuräumen. Als sie die junge Herrin sah, schien sie etwas verlegen und unschlüssig zu wirken. Doch schien das nur äußerlich so zu sein.

 

Haben Sie gut geschlafen, Miss Flint?“ erkundigte sie sich und fuhr fort: „Ich denke mal, nein. Sicher wissen Sie jetzt auch, dass es in der alten Brauerei Ihres verstorbenen Onkels spukt. Jetzt, wo sie da sind, eine Angehörige der Familie Flint, fängt das Ganze wieder von neuem an.

 

Miss Flint zog die Augenbrauen hoch.

 

Wollen Sie damit sagen, dass ich an allem schuld bin, Mrs. Weedman?

 

Die alte Frau nickte.

 

Aber das ist doch lächerlich. Es gibt für diese Vorgänge mit Sicherheit eine Erklärung. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, als die Menschen aus Angst vor Geister und Gespenster gestorben sind.“

 

Nicht für die Vorgänge hier“, beharrte die alte Wirtschafterin. Auf ihren Wangen bildeten sich auf einmal hektische rot Flecken. Ihr Gesicht schien sich zu verändern, für wenige Sekundenbruchteile nur.

 

Aber Sie werden sie schon noch merken und am eigenen Leib zu spüren bekommen, auch wenn Sie sich jetzt so überlegen geben“, sagte sie und fuhr im gehässigen Ton fort, „und ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie schon sehr bald die Flucht ergreifen werden. – Wenn Sie können...“

 

Die Worte der alten Frau ließen Mrs. Flint aufhorchen. Und als sie dem hasserfüllten lauernden Blick der Wirtschafterin begegnete, kam in ihr eine fürchterlicher Verdacht auf. Griffen die Weedmans bereits zu solchen Mitteln, um sie von hier zu vertreiben? Oder fürchteten sie sich nur davor, dass ich eines Tages etwas entdecken könnte, das sie sorgfältig geheim zu halten versuchten? In diesem Zusammenhang fiel ihr der Tod ihres Onkels wieder ein, der an Herzversagen gestorben sein soll. Hatten die Weedmans vielleicht ein bisschen nachgeholfen?

 

Miss Flint fühlte, wie ihr der kalte Schweiß über die Stirn lief. Die düstere Vorahnung einer drohenden Gefahr rollte wie ein große Woge auf sie zu. Hastig verließ sie die Küche und ging nach draußen.

 

Auf dem Hof angekommen, beschloss zu kurzerhand einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie wollte einfach nur frische Luft schnappen und sich etwas entspannen.

 

Sie ging wieder in Richtung des kleinen Wäldchen. Plötzlich entdeckte sie auf dem Feldweg ein Auto, das jemand anscheinend dort geparkt hatte. Als sie sich dem Wagen näherte, stieg ein Mann aus und kam ihr entgegen.

 

Elli Flint musterte ihn erst misstrauisch, doch dann hatte sie das Gefühl, dass ihr von ihm keine Gefahr drohen würde. Im Gegenteil! Sie spürte, dass ihre Sympathie ihm förmlich entgegenflog und dies eine schicksalhafte Begegnung war.

 

Der fremde Mann mochte ein paar Jahre älter als sie sein. Sie schätze ihn auf etwa achtundzwanzig Jahre. Er hatte eine überaus sportliche Figur, war ungefähr einsachtzig groß und strahlte viel Männlichkeit aus. Die kastanienbraunen Haare hingen ihm keck in die Stirn und seine blauen Augen leuchteten wie zwei Diamanten. Sein stets lächelnder Mund machte ihn doppelt sympathisch.

 

Die junge Frau starrte ihn fasziniert an.

 

Großer Gott, was für ein Mann! dachte sie.

 

Als er auf ihrer Höhe war, grüßte er sie gut gelaunt.

 

Guten Tag, schöne Maid. Sie sind sicher das Hausmädchen der Familie Flint.“

 

Sie blickte ihn an und grüßte freundlich zurück. Dann korrigierte sie ihn.

 

Sie werden es vielleicht nicht glauben, mein Herr“, sagte sie neckend, „aber ich bin die neue Besitzerin der alten Brauerei meines Onkels Lionel Flint, der erst kürzlich verstorben ist. Ich kann also nicht das Haus- oder Dienstmädchen sein...“

 

Sie schaute dabei an sich herunter und betrachtete die verdreckten Gummistiefel. Dann lachte sie.

 

Oh, entschuldigen Sie vielmals, Miss...“

 

...Miss Elli Flint. Ich komme aus der Gegend von Alloa und wohne seit einer zirka Woche hier auf dem Anwesen der Brauerei. Darf ich wissen, wer Sie sind?“

 

Äh.., ich heiße Heinz-Walter Hoetter“, stammelte der junge Mann sichtlich verwirrt. „Es tut mir wirklich leid, Miss Flint, aber...“

 

Schon gut“, unterbrach ihn die junge Frau lachend. Ich bin in diesem Aufzug selber schuld an dieser Verwechslung. Aber selbst wenn ich spazieren gehe, lege ich meine Arbeitskleidung nicht immer ab.

 

Mr. Hoetter schenkte ihr einen bewundernden Blick aus seinen blauen Augen. Dass das Mädchen ihm auf Anhieb gefallen hatte, war unschwer zu erkennen. Auch Elli Flint ging es nicht anders. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der nette junge Mann nie wieder aus ihrem Leben verschwinden möge.

 

Dann fragte sie ihn, wohin er wollte, da der Weg direkt zum Anwesen der Flints führen würde.

 

Ja, in der Tat, ich war auf dem Weg zur alten Brauerei“, erwiderte der junge Mann spontan, „oder genauer gesagt, zu Ihnen, Miss Flint. Wissen Sie, ich bin Schriftsteller und arbeite gerade an einem Buch über geheimnisvolle Begebenheiten und unerklärliche Vorkommnisse. Ich wollte Sie eigentlich darum bitten, mir Gelegenheit zu geben, die alten Gebäude auf Ihrem Gelände ansehen zu dürfen. Ich suche Inspirationen. Sicher sind die Anlagen noch erhalten und es existieren vielleicht sogar irgendwelche historisch wertvolle Unterlagen im Archiv Ihres verstorbenen Onkels, die für mich sehr nützlich sein könnten.“

 

Oh, Sie sind Schriftsteller“, sagte die junge Frau beeindruckt. „Natürlich dürfen Sie mich jederzeit besuchen kommen. Ich würde mich sogar darüber freuen, Ihnen alles zu zeigen. Ich würde Ihnen wirklich gerne dabei helfen, dass Ihr Buch ein interessantes, aufschlussreiches und informatives Lesewerk wird, Mr. Hoetter.“

 

Das ist überaus nett von Ihnen, Miss Flint. Ich bin hoch erfreut darüber, dass Sie mir soviel Vertrauen entgegenbringen. Das ist nicht alltäglich“, sagte der junge Mann. „Hätten Sie vielleicht auch ein Zimmer für mich? Selbstverständlich bezahle ich für Unterkunft und Verpflegung.“

 

Dagegen habe ich etwas. Sie dürfen aber mein Gast sein“, bestimmte Elli Flint kurzerhand. „Sie können solange in meinem Haus wohnen, wie es Ihnen gefällt.“

 

Die Aussicht, diesen wirklich gutaussehenden jungen Mann nun jeden Tag um sich zu haben, verursachte ein äußerst aufregendes Kribbeln in Elli Flint. Allein bei dem Gedanken schnellte ihr Puls in die Höhe.

 

Sind Sie schon länger hier in der Gegend, Mr. Hoetter, nicht wahr.“

 

Der junge Mann sah sich verlegen um.

 

Ja, das stimmt. Ich kam gestern mitten in der Nacht hier an und konnte sie doch unmöglich stören. Ich blieb deshalb im Wagen, und wollte jetzt einen Spaziergang machen und Sie bei dieser Gelegenheit besuchen“, sagte er.

 

Was? Sie haben die ganze Nacht in Ihrem Auto verbracht?“ fragte Miss Flint verwundert. Im gleichen Moment erinnerte sie sich daran, dass sie vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Situation gewesen war.

 

Warum sind Sie nicht nach Blairhall gefahren und haben sich dort ein Hotelzimmer gesucht“, fragte sie weiter.

 

Weil..., weil es einfach schon so spät war und ich keine Lust mehr hatte, draußen in der nasskalten Nacht herumzufahren. Während er sprach, setzte er sich ins Auto und startete den Motor.

 

Elli Flint beäugte ihn verstohlen von der Seite, setzte sich dennoch zu ihm in den Wagen auf den Beifahrersitz und beide fuhren sie zusammen den kurzen Weg nach Hause. Sie hatte zu ihm Vertrauen und fühlte sich zu ihm hingezogen. Trotz ihrer derzeitigen Schwierigkeiten mit einem Teil des Personals und des neuen Besitzes durfte sie ihr Misstrauen nicht auch auf ihn ausdehnen. Sie hatte einen guten Freund zur Zeit bitter nötig. Und sie dachte ein Stück weiter. Vielleicht, wenn er länger bei ihr wohnen bleiben würde, könnte er ihr dabei helfen herauszufinden, was hier nicht stimmte.

 

 

***

 

Als Miss Flint zusammen mit ihrem Gast ins Haus trat, rief sie sofort nach Mrs. Weedman und dem Dienstmädchen Betty. Mark Weedman schien nicht da zu sein.

 

Als sich alle in der geräumigen Eingangshalle versammelt hatten, trat die jung Hausherrin vor und wies auf den jungen Mann neben ihr.

 

Das ist Mister Heinz-Walter Hoetter, unser neuer Gast. Mr. Hoetter ist Schriftsteller und arbeitet zur Zeit an einem Buch. Er ist auf der Suche nach verlassenen Häusern, alten Gebäuden und verfallenen Gemäuern, die für ihn eine gewisse Inspiration darstellen. Ich wünsche, dass er eines der neu renovierten Zimmer auf dem oberen Gang im ersten Stock bekommt. Er wird mit uns alle Mahlzeiten einnehmen und darf sich auf dem gesamten Gelände frei bewegen.“

 

Das Dienstmädchen Betty nickte mit dem Kopf und begrüßte den Mann freundlich. Nur Mrs. Weedman starrte den neuen Gast an, wie einen Außerirdischen.

 

Sie wissen doch, Miss Flint, dass wir hier keine Fremden haben wollen“, knurrte sie gehässig.

 

Die junge Frau war erbost über diese unfreundlichen Worte. Im Beisein von Mr. Hoetter wandte sie sich an die alte Dame und sagte zu ihr: „Was Sie wollen, ist mir egal, Mrs. Weedman. Sie werden sich nach meinen Wünschen ausrichten oder ich hole mir eine neue Wirtschafterin“, sagte sie hart.

 

Mrs. Weedeman lief leichenblass an, sagte aber kein Wort mehr, sondern verließ auf der Stelle den Raum.

 

Nach diesem unfreundlichen Ereignis entschuldigte sich Miss Flint bei ihrem Gast und führte ihn durchs ganze Haus. In der Bibliothek, wo sie zum Schluss hinkamen, ließen sie beide zu einem Drink nieder. Mr. Hoetter zeigte sich von den alten Fachbüchern tief beeindruckt.

 

Ich sehe schon, dass es hier einen reichhaltigen Bücherfundus gibt. Das hätte ich mir nie zu träumen gewagt. Ich frage mich nur, wann ich das alles lesen soll.“

 

Oh, Sie können hier bleiben, solange Sie es für nötig halten“, erwiderte die junge Frau und fühlte, wie ihr eine leichte Röte über die Wangen kroch.

 

Der junge Mann bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln.

 

Ich bin darüber sehr froh, Miss Flint.“ Dann schaute er zum Fenster hinaus und deutete auf die alten Brauereigebäude.

 

Wie stets mit denen da drüben? Kann man die Gebäude besichtigen und sind die Anlagen noch vorhanden?“

 

Nein... ja, das heißt...die Tore sind...“

 

Die hübsche Hausherrin wusste auf einmal nicht, was sie sagen sollte. Sie schämte sich dafür, dass sie ihren Besitz nicht einmal richtig kannte.

 

Sie entschloss sich dazu, Mr. Hoetter die Wahrheit zu sagen. Sie sprach von dem widerspenstigen Person, dem Lastwagen, den fremden Männern in der Nacht und dass Mark Weedman ihr untersagt hatte, die Gebäude innen zu betreten, er selbst jedoch mit seinen engsten Freunden darin ein und ausging. Auch von den seltsamen Geräuschen berichtete sie ihm, die sie des nachts in Angst und Schrecken versetzt haben.

 

Der junge Mann hörte ihr interessiert zu. Zu interessiert, wie sie fand, aber sie machte sich keine weiteren Gedanken. Sie war froh darüber, sich jemanden anvertrauen zu können.

 

Nach dem Mittagessen verlangte sie von Mark Weedman energisch die Schlüssel zu den alten Brauereigebäuden. Mit einiger Genugtuung sah sie, wie Mr. Weedman erblasste. Doch sein hasserfüllter Blick jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein.

 

Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich niemanden den Zugang ins Innere der Gebäude gewähren kann, außer dem arbeitenden Personal, die sich um die Instandhaltung kümmern, Miss Flint“, sagte er mit scharfer Stimme, „und Fremde haben da drüben schon gar nichts verloren. Haben Sie die Folgen schon bedacht, wenn ihnen oder Ihrem Begleiter etwas zustoßen würde?“

 

Das müssen Sie mir nicht erzählen. Sie verstoßen ja ständig dagegen, Mr. Weedman. Wir wollen vorläufig ja auch nur den Innenhof besichtigen“, erklärte Miss Flint und streckte ungeduldig die Hand nach den Schlüsseln aus.

 

Mark Weedman fiel es anscheinend sehr schwer, sich jetzt noch zu beherrschen.

 

Ich komme auf jeden Fall mit“, sagte er dann etwas freundlicher, „bitte gedulden Sie sich noch ein paar Minuten, ich möchte mich nur von meinem Freund verabschieden.“

 

Miss Flint blickte ihm skeptisch hinterher. Dieser Mann besaß eine unglaubliche Dreistigkeit. Er schien sie immer noch wie eine Fremde zu behandeln, obwohl er genau wusste, dass sie die neue Herrin war. Aber vielleicht würde sich schon bald eine günstige Gelegenheit ergeben, um ihn ein für allemal loszuwerden. Dieser Kerl war für sie untragbar.

 

Draußen vor der Tür traf Mr. Weedman auf seine Mutter. Er hielt sie am Arm fest und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann verschwand er hastig.

 

Gehen wir doch einstweilen schon mal rüber, Miss Flint“, schlug der junge Schriftsteller plötzlich vor, „Sie können mir ja vorher noch das Grundstück zeigen, wenn es Ihnen recht ist.“

 

O nein, bleiben Sie doch bitte noch da“, rief Mrs. Weedman auf einmal etwas schrill aus der Küche. „Ich wollte Ihnen eben eine Eistorte in der Bibliothek servieren.“

 

Und schon kam sie mit diesen Worten aus der Küche und trug ein wahrhaftes Kunstwerk von Eis und Biskuits vor sich her. Ohne einen Einwand abzuwarten, steuerte sie damit auf die Bibliothek zu.

 

Ein Eistorte? Das ist ja wunderbar! Darauf hätte ich jetzt einen Riesenappetit.“

 

Ohne zu zögern folgte Mr. Hoetter der alten Frau und Miss Flint ärgerte sich darüber, dass sie keine Möglichkeit hatte, die Sache zu ändern. Sie wollte ihren Gast nicht verprellen. Deshalb ging sie ebenfalls rüber in die Bibliothek und ließ sich ein Stück von der Eistorte geben.

 

Ich kann Ihnen viele interessante Geschichten erzählen, junger Mann. Die Bücher hier in der Bibliothek sind ein Vermögen wert. Teilweise sind es richtige kleine Kunstwerke und älter als wir alle zusammen genommen. Können Sie sich vorstellen, was die bei einer Auktion bringen würden? Mr. Lionel Flint hatte zu Lebzeiten schon sehr früh damit begonnen, einen Teil seiner sehr wertvollen Bücher schätzen zu lassen. Als er einige davon schließlich versteigern ließ, war der Erlös gewaltig. Und das waren nur ein paar ganz wenige Exemplare aus dem vorhandenen, uralten Familienbesitz. Eigentlich gehören sie gar nicht hierhin. Sie sind von unschätzbarem Wert. Stellen Sie sich nur vor, Diebe brechen ins Haus ein und würden diesen wertvollen Kulturschatz rauben. Das wäre eine Katastrophe für uns alle.“

 

Miss Flint hätte die alte Frau am liebsten auf den Mond geschossen. Sie ärgerte sich maßlos darüber, dass der junge Mann mit der Wirtschafterin so ins Gespräch vertieft war und löffelt deshalb missmutig ihr Eis.

 

Plötzlich hörte sie ein lautes Motorengeräusch. Der jungen Mr. Hoetter schien sich nichts dabei zu denken, aber in den Augen der alten Frau blitzte es befriedigt auf.

 

So ist das also. Man hatte sie auf raffinierte Art und Weise reingelegt, dachte Elli Flint wütend und warf einen Blick durchs Fenster. Sie konnte zwar nicht erkennen, aber sie wusste auch so, dass eben der Lastwagen aus dem Innenhof der Brauerei gefahren wurde. Sie und ihr Gast Mr. Hoetter sollten den Lastwagen nicht sehen und unter die Lupe nehmen können. Sicherlich hatte er etwas geladen, was niemand wissen sollte.

 

Nach einer Weile verabschiedete sich Mrs. Weedman mit einem triumphierenden und gehässigen Blick auf ihre Herrin. Plötzlich erschien auch wieder ihr Sohn auf der Bildfläche und tat so, als wäre nichts geschehen.

 

Wollen wir jetzt gehen?“ fragte Miss Flint den jungen Mann, der sogleich nickte und sich aus dem Sessel erhob. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, mit ihm hinüberzugehen. Mark Weedman hatte ja Zeit genug gehabt, alles zu vertuschen. Sie würde kaum noch etwa Interessantes oder Verbotenes entdecken.

 

Wenige Minuten später betraten sie alle gemeinsam den Innenhof, in dem noch die Reifenspuren von dem LKW zeugten. Ein paar Backsteinhaufen waren an den Wänden aufgeschichtet worden. Daneben lagen Bretter und ein Betonmischer stand in er Nähe einer schadhaften Mauer, die wohl erst vor kurzem ausgebessert worden ist.

 

Während Mark Weedman ihrem Gast alles erklärte, schaute sich die junge Frau um. Ihr Blick fiel dabei zufällig auf ein vergittertes Fenster, das sich etwa einen halben Meter über dem Boden in einer alten Ziegelmauer befand. Es sah aus wie ein altes Kellerfenster. Dahinter konnte sie nichts als pechschwarze Dunkelheit erkennen. Als sie sich dem Gitter unauffällig näherte, roch es förmlich nach Geheimnis, Tod und Verbrechen. Vielleicht ein Kerker mit Leichen?

 

Die junge Frau erschrak vor ihren eigenen Gedanken und schüttelte sich vor Entsetzen. Ihr Angstgefühl verstärkte sich noch weiter, als sie einen Kellerschacht sah, in den Mark Weedman vor ein paar Tagen anscheinend noch Kisten runter gebracht hatte. Jetzt war er bis zum Rand mit altem Baumaterial zugeschüttet worden.

 

Mark Weedman warf ihr einen eigentümlichen Blick zu. Offenbar beobachtete er sie, was sie tat.

 

Miss Flint hat vor, das Gebäude abreißen zu lassen“, hörte sie ihn gerade laut sagen. „Aber es steht unter Denkmalschutz, und es wäre ja wohl auch schade darum.“

 

Kann mir bitteschön jemand einen anderen Vorschlag machen“, sagte sie, als sie zu den beiden Männern getreten war.

 

Ich würde eine Kernsanierung durchführen lassen und ein Museum daraus machen. Die meisten Geräte und Kessel sind schließlich noch hier, und die wertvollen alten Bücher samt historischen Trinkgefäße könnte man in sicheren Panzerglasvitrinen ausstellen“, meldete sich Mark Weedman zu Wort.

 

Keine schlechte Idee“, gab der junge Gast anerkennend zu. „Sie könnten vielleicht sogar zusätzlich noch ein Gasthaus bauen lassen und die Sache hätte somit Hände und Füße. Interessenten würden bestimmt nicht ausbleiben. Zusätzlich müssten noch genügend Parkplätze gebaut und die Zufahrtstraße erweitert werden, wegen der Busse mit den zahlungskräftigen Urlaubsgästen, die dann zu erwarten wären“, meinte Mr. Hoetter.

 

Miss Flint starrte den jungen Mann verblüfft an. Die Idee war wirklich nicht schlecht, zudem so ein aufwändiges Projekt sicherlich mit staatlicher Unterstützung rechnen könnte. So käme sie in den Genuss von nicht unerheblichen Zuschüssen und könnte ihr eigenes Vermögen schonen.

 

Dann blickte sie zu Mark Weedman hinüber, der mit den Händen in den Hosentaschen gelangweilt dastand. Im Prinzip kam der Vorschlag ja von ihm, aber in seinen Augen glaubte sie, eine Warnung zu lesen.

 

Außerdem konnte sie sich keinen Reim darauf machen. wieso ausgerechnet er ihr jetzt dazu riet, ein Museum daraus zu machen? Sie hatte doch ehr den Eindruck gehabt, als wolle man sie von hier vertreiben.

 

Alle drei machten später noch einen Rundgang und ihr Gast und sie durften sogar eine Halle betreten, in der riesige Kupferbottiche standen. An einer Stelle war die Decke durchbrochen, und Miss Flint konnte sich selbst davon überzeugen, dass es ein große Gefahr darstellte, die Gebäude zu betreten. Sie wurde immer unsicherer und verwirrter. Gab es hier in der alten Brauerei überhaupt ein Geheimnis? Langsam zweifelte sie daran.

 

Sie atmete einmal tief durch. Dann fielen ihr wieder die Kisten und der verschüttete Kellergang ein. Es sah trotzdem so aus, als wenn Mr. Weedman und seine alte Mutter etwas zu verbergen hatten. Sie würde schon noch dahinter kommen, dachte sie so für sich selbst.

 

Nachdem sie wieder ins Haus zurückgekehrt waren, bekam Mr. Hoetter ein hübsches Zimmer in der Nähe von Miss Flints Räumen. Sie half ihm dabei, es entsprechend häuslich einzurichten.

 

Während sie das Fenster des Zimmers öffnete, um den Raum zu lüften, fing der junge Mann plötzlich an zu reden.

 

Ist es für eine so hübsche Frau wie Sie, Miss Flint, hier nicht ein wenig zu einsam?“ fragte er rundheraus.

 

Nun ja, wie man’s nimmt. Ja doch, eigentlich schon. Jedenfalls für jemanden wie mir, der eigentlich aus der Stadt kommt. Es ist schon eine Umstellung. Aber es kommt darauf an, mit wem man zusammenlebt und wie man sich versteht, denke ich mal. Dann wird so manches erträglicher. Aber ob ich auf Dauer hier bleiben werde, wird sich dann noch herausstellen.“

 

Wie finden Sie die Idee mit dem Museum?“ wollte Mr. Hoetter wissen.

 

Eigentlich nicht so schlecht. Geld wäre für so ein Projekt mehr als genug da. Die Einnahmen würden bald die Ausgaben wett machen. Ich arbeitete vor meiner Erbschaft in einer Anwaltskanzlei und kam immer wieder mit Geschäftsleuten in Kontakt, die ähnliche Projekte an ebenso weit abgelegenen Orten durchzogen. Sie waren alle erfolgreich. Außerdem kämen wieder viele Gäste nach Blairhall und in die alte Flint’sche Brauerei. Dann wäre hier wieder ganz schön was los und die Einsamkeit dahin.“

 

Und dann gäbe es sicher noch einen jungen Mann, der Sie heiratet und bei Ihrer anstrengenden Arbeit unterstützt“, sagte Mr. Hoetter mit einem fast bedauerlichen Gesichtsausdruck.

 

Miss Flint errötete bis unter die blonden Haarwurzeln.

 

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber bestimmt wird mir eines schönen Tages ein schöner Märchenprinz über den Weg laufen und mich vom Fleck weg heiraten“, sagte sie mit verschmitztem Lächeln.

 

In Gedanken aber fragte sie sich, ob sie das nicht schon war und schaute dem jungen Mann dabei tief in die Augen.

 

Der Schriftsteller war ein Mann, den sie lieben könnte, auch wenn sie nicht viel von ihm wusste und ihn erst seit wenigen Stunden kannte.

 

Sie saßen noch lange zusammen an diesem Abend. Als Miss Elli Flint weit nach Mitternacht ihrem männlichen Gast eine gute Nacht wünschte, hatte sie das schöne Gefühl, einen guten, verlässlichen Freund gefunden zu haben.

 

Und vielleicht, wenn das Schicksal es so wollte, noch ein bisschen mehr...

 

***

 

Der Mond schien bleich wie ein trübe Funzel in Miss Flints Schlafzimmer. Sie lag mit offenen Augen im Bett und konnte nicht schlafen.

 

Ricky, der treue Schäferhund lag, alle Viere von sich gestreckt, auf einer warmen Decke unter dem Fenster und schlief. Manchmal zuckte er zusammen und knurrte dabei, als würde er im Traum jemanden verfolgen.

 

Plötzlich glaubte Miss Flint, draußen auf dem Flur Schritte zu hören. Auch der Hund war wach geworden und spitzte die Ohren. Er sah zur Schlafzimmertür rüber.

 

Wer mochte mitten in der Nacht auf dem Gang herumschleichen. Vielleicht ihr neuer Gast?

 

Die junge Frau verließ das Bett, ging entschlossen zur Tür, öffnete sie vorsichtig und schaute auf den Gang hinaus. Doch alles war vollkommen finster und leise.

 

Schon wollte sie wieder die Tür schließen, als sich hinten am Fenster ein Schatten bewegte. Elli Flint erschrak. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Am liebsten hätte sie laut um Hilfe gerufen. Doch dann riss sie sich zusammen.

 

Ist da jemand?“ rief sie mit erstickter Stimme in den Gang hinein. Doch nichts und niemand rührte sich. In diesem Moment fiel ihr die Taschenlampe ein, die sie gleich neben der Tür auf ein kleines Regal gestellt hatte, sozusagen für alle Fälle. Schnell griff sie nach ihr und leuchtete in die dunkle Ecke. Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich getäuscht haben musste. Sie verschloss trotzdem die Tür und ging wieder ins Bett zurück.

 

Am nächsten Morgen machte sich Miss Flint sorgfältig zurecht. Sie wollte ihrem neuen Gast gefallen, das gestand sie sich offen ein. Sie hatte dem Dienstmädchen angeordnet, diesmal im Speisesaal frühstücken zu wollen.

 

Als sie dort ankam, saß der junge Mann bereits am Tisch und trank gerade seinen Kaffee. Ihr Herz klopfte, als sie ihn sah und mit einem freundlichen ‚Guten Morgen’ begrüßte. Er grüßte ebenso freundlich zurück.

 

Dann setzte sie sich zu ihm.

 

Haben Sie in ihrer ersten Nacht in meinem Haus gut geschlafen?“ erkundigte sie sich bei ihm.

 

Ich habe wunderbar geschlafen und fühle mich wie neugeboren“, sagte er mit einem frischen Lachen.

 

Und Sie, Miss Flint?“

 

Was sollte sie darauf antworten und wich seiner Frage murmelnd aus. Sie widmete sich schnell dem Frühstück. Sie hatte keine große Lust dazu, über den nächtlichen Vorfall mit ihm zu reden.

 

Als ihr Dienstmädchen später reinkam, um das benutzte Geschirr abzuräumen, sah Miss Flint, dass auch sie in der Nacht offenbar schlecht geschlafen und die Geräusche auch wieder gehört hatte. Miss Flint wusste, dass sie irgend etwas unternehmen musste, doch war ihr nicht klar, was.

 

Mr. Hoetter hatte sich mehrere Bücher aus der Bibliothek geholt und mit auf sein Zimmer genommen. Er schien bereits an seinem Manuskript zu schreiben. Jedenfalls gab er das vor. Miss Flint konnte ihn einmal sogar dabei beobachten, wie er heimlich, als er sich unbeobachtet fühlte, ein kleines Notizbuch aus seiner Hosentasche hervor holte und darin etwas hineinschrieb.

 

So ging das die ganze Zeit. Miss Flint blieben nur ein paar Stunden am Abend, wo sie mit dem jungen Mr. Hoetter bei einem Drink zusammensitzen und plaudern konnte. Aber diese Zusammenkünfte hatten genügt, um sich über ihre Gefühle zu ihm klar zu werden. Noch niemals zuvor in ihrem ganzen Leben hatte ein Mann auf sie einen solch starken Eindruck gemacht. Er schien ihre Gefühle ebenfalls zu erwidern, obwohl er es tunlichst vermied, sich ihr zu nähern.

 

Die beiden Weedmans standen der neuen Hausherrin nach wie vor feindselig gegenüber. Auch Mr. Hoetter gegenüber hatte die alte Wirtschafterin ihre Redseligkeit eingestellt und behandelte ihn mürrisch und voller Misstrauen.

 

Überhaupt schien etwas in der Luft zu liegen. Die Weedmans wirkten seltsam nervös und beobachteten die anderen Bewohner des Hauses mit lauernden Blicken.

 

Plötzlich fasste Miss Flint einen Entschluss, als sie sah, das Mr. Hoetter in der Bibliothek Platz genommen hatte und sich über ein paar alte Dokumente beugte, die er offenbar gründlich studieren wollte.

 

Die Gelegenheit war also günstig.

 

Sie ging nach oben in den Flur, sah sich nach allen Seiten vorsichtig um und öffnete dann leise die Tür ihres Gastes. Miss Flint hatte zwar ein unbehagliches Gefühl dabei, aber die Neugierde war einfach größer als ihre moralischen Bedenken. Sie wollte endlich einen Blick auf seine Arbeit werfen. Vielleicht fand sie auch etwas, das ihr mehr Aufschluss über Mr. Hoetter brachte.

 

Der wuchtige Schreibtisch war für einen Schriftsteller viel zu ordentlich aufgeräumt. Keine Bücher, kein lose herum liegendes Papier war zu sehen. Nur ein Laptop befand sich darauf, der aber geschlossen war. Auf dem polierten Deckel hatte sich eine kleine Staubschicht gebildet, was darauf hinwies, dass er wahrscheinlich nur selten benutzt wurde.

 

Miss Flint fragte sich, was Mr. Hoetter den ganzen Tag auf ihrem Gelände so trieb. Sie konnte es sich nicht erklären. Dann verließ sie den Raum wieder, schloss leise die Tür und ging wieder nach unten.

 

Als sie in die Bibliothek sah, war der junge Schriftsteller nicht mehr da. Sie erschrak etwas. Hatte er bemerkt, dass sie ihm nachspionierte?

 

Wo mochte er nur stecken?

 

Sie ging auf den Hof hinaus, wo sein Auto stand. Also konnte er nur irgendwo auf dem Gelände sein. Erleichtert atmete die junge Frau auf. Peinlich, wenn sie ihn in seinem Zimmer erwischt hätte.

 

Sie dachte darüber nach, was sie jetzt machen sollte und entschloss sich dazu, wieder einen kleinen Spaziergang zu machen, diesmal ohne ihren männlichen Gast.

 

Wie schon so oft ging Miss Flint immer die gleiche Strecke hügelan.

Von hier oben aus hatte sie einen fantastischen Blick über die gesamte Landschaft. Die abgelegene Stelle auf dem Hügel war ihr Lieblingsplatz geworden. Sie blieb noch lange hier oben. Langsam wurde es dunkel.

 

Als sie sich endlich wieder auf dem Heimweg machte, nahm sie die Abkürzung durch den kleinen Mauerdurchbruch und stand bald wieder an der rückwärtigen Front des alten Brauereigebäudes. Plötzlich entdeckte sie eine Holzleiter unter einem der vergitterten Fenster. Es sah fast so aus, als hätte sie jemand dorthin gestellt, um besser durch das Fenster sehen zu können.

 

Der Zauber der Abendstunde war verflogen. Miss Flint wurde von einer inneren Unruhe und drängelnden Neugierde gepackt. Mit einem Satz sprang sie auf die Leiter, kletterte Sprosse für Sprosse hoch, streckte ihre Hände nach den Gitterstäben, um sich daran festzuhalten zu können. Die Holzleiter wackelte bedenklich, als sie noch weiter hinaufstieg. Plötzlich rutschte die Leiter mit einem Ruck zur Seite und die junge Frau verlor den Halt. Instinktiv hielt sie sich an den Gitterstäben fest und konnte so einen gefährlichen Sturz in die Tiefe vermeiden. Die Holzleiter kippte jetzt ganz um und Miss Flint hang hilflos an den Gitterstäben des steinernen Fensters hoch über dem Boden. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, doch niemand hörte ihre ängstlichen Rufe. Nach einer Weile erschlafften ihre gefühllos gewordenen Hände und sie ließ sich kraftlos aus über drei Meter Höhe in die Tiefe fallen. Sie schlug hart auf den trockenen Erdboden auf und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Benommen wollte sie sich noch aufrichten, sank aber im nächsten Augenblick in eine bodenlose Finsternis.

 

***

 

Als die junge Frau wieder zu sich kam, lag sie auf einer schmutzigen Pritsche in einem provisorisch eingerichteten Kellerraum. Sie schaute sich um und erblickte durch ein Eisengitter drei Männer und eine Frau, die an einem alten Holztisch saßen und offensichtlich Whiskey tranken.

 

Eure neugierige Herrin habe ich sicher eingesperrt“, erklärte Fred White, der Mann mit den schwarzen Haaren und stieß ein hässliches Lachen aus.

 

Eigentlich schade um das schöne Kind“, meinte Mark Weedman und nahm einen tiefen Schluck aus dem Whiskeyglas.

 

Habt jetzt bloß keine Mitleid mit ihr!“ giftete die alte Mrs. Weedman. „Wir können sie hier nicht gebrauchen. Um ein Haar hätte sie uns alles verdorben mit ihrer verfluchten Schnüffelei.“

 

Etwas wie Irrsinn flackerte in ihren Augen.

 

Und dieser Mr. Hoetter ist genauso neugierig. Er steht als nächster auf unserer Abschussliste, bemerkte der dritte Mann, der ihr bisher unbekannt geblieben war.

 

Richtig Chad. Du warst schon immer für klare Verhältnisse. Das schätze ich so an dir“, sagte Fred White grinsend zu ihm. Mr. Weedman nickte bestätigend mit dem Kopf.

 

Wenn wir ihn haben, wird er ausgeschrieben haben. Beide werden den Keller nicht mehr lebend verlassen, sobald der Unheimliche kommt und sich ihrer genüsslich annimmt“, fügte Mark Weedman noch hinzu. Er löste damit ein schallendes Gelächter aus. Zwischendurch klirrten immer wieder die Whiskeygläser. Dann verließen sie den Kellerraum und schalteten das Licht aus. Eine schwere Holztür wurde zugeschlagen. Dann trat eine fürchterliche Stille ein.

 

***

 

Miss Elli Flint schrie und tobte wie von Sinnen. Sie hämmerte gegen das Eisengitter, bis ihre Hände blutig waren. Immer wieder schrie sie um Hilfe, obwohl sie wusste, dass sie hier unten im Keller der alten Brauerei niemand hören konnte. Jedenfalls niemand, der ihr wieder hier raus helfen würde. Als aus ihrer Kehle nur noch ein heiseres Krächzen kam, brach sie ab und sank erschöpft zu Boden. Sie saß völlig im Dunkeln. Offensichtlich gab es hier kein Fenster, denn nicht einmal der kleinste Lichtschein drang zu ihr.

 

Jetzt bemerkte sie auch, wie schlecht die Luft hier unten war. Sie vermochte kaum zu atmen. Es roch nach Moder und verwestem Fleisch. Der penetrante Geruch ließ panische Angst in ihr hochkommen. Vielleicht wurden in diesem weitläufigen Kellerräumen Menschen getötet und ihre Leichen irgendwo verscharrt?

Elli Flint schluchzte leise vor sich hin. War sie nun verloren oder gab es doch noch Rettung für sie? Sie fragte sich außerdem, was man mit ihr vorhatte und wen Mark Weedman meinte, als er von dem „Unheimlichen“ sprach, der sich ihrer genüsslich annehmen würde.

Verzweifelt klammerte sie sich an die Hoffnung, dass ihr Hausmädchen Betty vielleicht die Polizei verständigte, wenn sie nicht mehr auftauchen würde. Doch Stunde um Stunde verging. Die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit. Elli Flint hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren.

 

Irgendwann hörte sie ein Geräusch. Schritte mehrerer Personen näherten sich. Sie konnte die jammernde Stimme eines Mannes hören, der offenbar in den Keller geschleppt wurde. Doch die Schritte gingen an ihrem Kellerverlies vorbei. War das Mr. Hoetter, den man hier nach unten brachte? Sie wusste es nicht.

 

Plötzlich schrie eine Männerstimme von schlimmen Schmerzen gepeinigt laut auf. Dumpfe Schläge waren zu hören, wie Schläge mit einem harten Stock auf einen nassen Sack. Das schreckliche Geräusch brechender Knochen drang zu Miss Flint vor, das sie in panische Angst versetzte. Dann fing sie wie von Sinnen an zu schreien.

 

Jemand öffnete die Tür.

 

Mit einem höhnischen Auflachen, das gespenstisch durch das Kellergewölbe hallte, trat der schwarzhaarige Mann in den Raum und kam auf das Verlies zu, in dem Elli Flint zitternd auf dem Boden kauerte. Er war über und über mit Blut und menschlichen Fleischresten besudelt.

 

Ruhe sanft, meine Süße. Ich bin gekommen, um dich zu fressen. Und wenn ich mit dir fertig bin, werde ich mir deinen verfluchten Schriftsteller vorknöpfen. Leider ist er bis jetzt noch nicht aufgetaucht, aber ich werde ihn schon finden. Vielleicht brauche ich auch nur auf ihn zu warten, bis er nach dir zu suchen anfängt. Dann ist es aus mit ihm“, sagte der Mann und fing boshaft zu grinsen an.

 

Von Grauen geschüttelt wich Miss Flint bis in den hintersten Winkel des Kellerverlieses zurück. Mit maßlosem Entsetzen musste sie miterleben, wie sich Fred White langsam Schritt für Schritt in eine Echsen artige Kreatur mit riesigen Reißzähnen verwandelte und die eisernen Gitterstäbe mit seinen gewaltigen Pranken wegriss, als wären sie aus dünnem Sperrholz.

 

Die junge Frau hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick den Verstand zu verlieren. Keuchend lehnte sie sich vor die feuchte Wand und musste sich übergeben. Nebel tanzte vor ihren Augen und dann glitt sie mit einem erstickten Schrei halb bewusstlos zu Boden. Das Grauen löschte ihr Bewusstsein aus, als das schreckliche Ungeheuer durch die verbogene Gitterkonstruktion stieg und langsam schleichend mit weit aufgerissenem Maul auf sie zukam. Dann schoss plötzlich eine schwarze Flüssigkeit auf sie zu, die ihre blass gewordene Haut zum Brodeln brachte. Doch die Schmerzen der ätzenden Säure spürte sie nicht mehr. Miss Elli Flint war schon tot, als sich die grausame Bestie brüllend vor Gier auf Menschenfleisch über sie warf und genüsslich grunzend verspeiste.

 

Als die blutige Fressorgie des unheimlichen Monsters endlich vorbei war, nahm es plötzlich einen silberfarbenen, Bumerang ähnlichen Gegenstand zwischen seine Klauen und drückte sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberfläche, die sofort rot aufleuchteten. Im nächsten Moment löste sich der Körper der schrecklichen Kreatur wie eine geisterhafte Erscheinung langsam im Nichts auf, als hätte es sie nie gegeben. Dann wurde es ruhig im Kellerverlies der alten Brauerei. Nur ein paar blutverschmierte Knochen, die zusammen mit einigen Fleischresten verstreut auf dem kalten Steinfußboden lagen, hatte es zurückgelassen.

 

Später, es war schon weit nach Mitternacht.

 

Ein dichter Nebel lag wie ein trüb weißes Leichentuch über der stillen Landschaft, als sich eine kleine, oval förmige Flugmaschine aus einer der halbverfallenen Brauereigebäude erhob, sich einmal schwungvoll um die eigene Achse drehte und schließlich mit aufheulenden Triebwerken rasend schnell in den nächtlichen Himmel jagte.

Mrs. Weedman und ihr Sohn Mark standen draußen auf dem dunklen Hof und blickten dem seltsamen Flugobjekt mit böse grinsenden Gesichtern hinterher. Sie hatten dem Ungeheuer aus dem All wieder einmal Menschennahrung im Überfluss beschaffen können. Es würde lange dauern, bis es zu ihnen erneut käme, und wenn, dann aber bestimmt nicht wieder in der Gestalt von Fred White.

 

 

***

 

Mr. Heinz-Walter Hoetter, der junge Schriftsteller, fuhr seinen Wagen an den Rand des Feldweges. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und versuchte Herr über seine Gedanken zu werden. Was immer auf dem Anwesen der alten Flint’schen Brauerei vorgegangen sein mochte, er konnte sich des seltsamen Gefühls nicht entziehen, dass er für den schrecklichen Tod der jungen Frau irgendwie mitverantwortlich gewesen war.

 

Nachdenklich stieg er aus und marschierte in der Dunkelheit jenen Hügel hinauf, den auch Miss Flint so oft auf ihren Spaziergängen besucht hatte. Von der Anhöhe aus hatte man eine fantastische Aussicht nach allen Seiten über die weite Landschaft.

 

Als er oben angekommen war, blickte er hinunter auf das von wallenden Nebelschwaden durchzogene Anwesen der Familie Flint. Nur der Mond warf sein bleiches Licht in den leeren Innenhof und erhellte ihn auf gespenstische Weise.

 

Er bekam gerade noch mit, wie zwei schemenhafte Gestalten im trüben Hoflicht die Treppe hinaufgingen und im Haus verschwanden. In den Räumen, wo Miss Flint die ganze Zeit über gewohnt hatte, ging plötzlich das Licht an.

 

Mr. Hoetter ahnte schon, was sie vorhatten.

 

Irgendwo schrie im nah gelegenen Wald ein Käuzchen. Für den jungen Schriftsteller wurde es langsam Zeit zu gehen.

 

Er holte noch schnell sein Notizbuch hervor und schrieb etwas hinein, das nur für ihn bestimmt war.

 

Hier ist die Geschichte zu Ende. Leider konnte ich Miss Elli Flint vor dem schrecklichen Monster nicht retten.

 

Danach ging er zu seinem parkenden Fahrzeug zurück, stieg ein, startete den Motor und brauste im dichten Nebel davon.

 

Seitdem ward er in dieser Gegend nie wieder gesehen.

 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter


 


 

 

***

 

7. Das Monster ist wieder da


 

Ja, ja, die Arbeit. Niemand kann sich ihr entziehen, oder? Vom einfachen Arbeiter, Angestellten, Beamten und Unternehmer bis hin zu den mächtigsten Herrschern dieser Welt. Sie alle müssen jeden Tag ihre Arbeit machen. Habe ich nicht recht, Stella?“

 

Der lange Gang zu den riesigen Fracht- und Lagerhallen, die gleich hinter dem Raumhafen INSPIRION I. lagen, schien einfach kein Ende zu nehmen.

 

Stella Hill ging genervt neben ihrem Kollegen her, dem Gruppenleiter Marc Cliffort und musste sich den unaufhaltsamen Redeschwall von ihm anhören.

 

Ich hätte doch lieber die Personenbeförderungskabine nehmen sollen“, dachte Stella halblaut vor sich hin und tat so, als ob sie das Gespräch mit Marc Cliffort interessieren würde.

 

Was hast du gerade gesagt? Ich habe dich nicht verstanden, Stella“, mokierte sich der Gruppenleiter und blieb einfach stehen.

 

Auch Stella hielt abrupt inne.

 

Ach was, ich habe nur laut gedacht. War nicht so wichtig. Gehen wir lieber weiter, sonst schlagen wir hier noch Wurzeln.“

 

Die Miene Clifforts verzog sich unwillig, er schwieg aber. Dann hustete er ein paar Mal gekünstelt und setzte seinen Weg wieder fort. Die junge Frau zog nach, hielt sich auch weiterhin auf seiner Höhe und hoffte, dass ihr Kollege bald Ruhe geben würde.

 

Ihr war auf einmal warm. Der Geruch irgendeines ätzenden Reinigungsmittels drang in ihre Nase. Die Reinigungs- und Dekontaminationsroboter waren offenbar wieder unterwegs. Außerdem verspürte sie eine leichte Müdigkeit, weil sie in der letzten Nacht schlecht geschlafen hatte und früher zum Dienst angetreten war, als üblich. Dafür gab es einen wichtigen Grund, wie sie wusste.

 

Gerade wollte ihr Gruppenleiter seine Rede fortsetzen, als Stella ihm sofort dazwischenfuhr.

 

Lieber Marc! Deine philosophischen Allgemeinbetrachtungen in allen Ehren, aber kannst du nicht mal deinen Mund halten?

 

Cliffort blieb abermals stehen und sah Stella jetzt direkt ins Gesicht. Er fragte sich bisweilen, wer hier wohl wessen unmittelbarer Vorgesetzte war. Er oder seine Kollegin hier? Doch Stella war eine bildhübsche junge Frau, noch sehr klug und eigenwillig dazu, die sich nicht so schnell aus der Fassung bringen ließ. Sie verfügte darüber hinaus über eine ziemlich große Portion Selbstbewusstsein, was natürlich bei Männern in der Regel eine gewisse Zurückhaltung auslöste.

 

Trotzdem wollte Marc Cliffort diesmal nicht nachgeben, obwohl er wusste, dass er auch jetzt wieder den Kürzeren ziehen würde.

 

Was soll das denn schon wieder?“ kam es vorwurfsvoll aus seinem Mund. „Ist irgendwas mit dir, Stella? Mache ich was falsch? Bitte entschuldige, wenn ich dich gelangweilt habe.“

 

Ich wäre froh, wenn du dich endlich mal auf deine Arbeit konzentrieren würdest..., mehr verlange ich nicht von dir. Wer ist hier eigentlich der Gruppenleiter – du oder ich?“

 

Cliffort blickte etwas pikiert zur Seite und ging ohne ein Wort zu sagen weiter. Stella folgte ihm und sagte ebenfalls nichts mehr.

 

Nach einer Weile betraten sie durch eine kleine Nebenschleuse die riesenhafte Fracht- und Lagerhalle, die heute das Ziel ihrer Inspektionsarbeit war.

 

Die beiden kamen an einer geräumigen Nische vorbei, in der einer dieser robusten Multifunktionsroboter stand. Dieser Robottyp konnte auch als Lade-, Desinfektions- oder Reinigungsroboter in den weitläufigen Lagerhallen eingesetzt werden. Ein Wartungstechniker hantierte in Höhe seines rechten Oberschenkels hinter einer geöffneten Klappe an einer kompliziert aussehenden Elektronik herum. Als er den Gruppenleiter bemerkte drehte er sich schwerfällig herum und musterte Clifforts Uniform der staatlichen Raumfahrtbehörde. Marc und Stella hielten kurz an.

 

Auf Kontrollgang?“ fragte der Techniker unfreundlich.

 

Ich suche Morrison. Haben sie ihn gesehen?“ fragte der Gruppenleiter den Mann im eng anliegenden blauen Arbeitsanzug.

 

Morrison ist wohl nach Hause gegangen. Heute Morgen war er noch da. Er hatte es plötzlich sehr eilig. Seit zwei Wochen redete er nur noch von seiner „neuen Errungenschaft“, wie er sich auszudrücken pflegte. Was er damit meinte, ist mir schleierhaft. Vielleicht hat er ein neues Mädchen kennen gelernt. Wer weiß das schon. Dann würde mich sein seltsames Verhalten nicht mehr wundern.“

 

Der Techniker lachte jetzt schmutzig, drehte sich wieder herum und konzentrierte sich auf seine Arbeit am Roboter.

 

Bevor Marc Cliffort mit seiner Kollegin Stella Hill weiterging, ermahnte er den Techniker, die Lagerhalle rechtzeitig zu verlassen. Wenn erst mal alle Container drin sind, würde die Energiebehörde wenige Sekunden später die Lichter ausschalten, um Strom zu sparen.

 

Ich weiß Bescheid. Das geht doch hier jeden Tag so. Ich bin sowieso gleich mit dem Auswechseln der Platine fertig. Wenn ihr beide auf mich warten würdet, begleite ich euch bis zur Schleusentür“, sagte der Mann etwas mürrisch, auf dessen Namensschild „J. Smith“ zu lesen war.

 

Ein paar Minuten später gingen sie zu dritt Richtung Ausgang und gelangten an eine große Stahltür, deren Umrisse den Maßen der Laderoboter entsprachen.

 

Wir sind da“, sagte der Techniker und nahm seine Codekarte aus der Brusttasche. Ein leises Knacken ließ erkennen, dass der Mechanismus der Ausgangsschleuse nun entriegelt war.

 

Cliffort streckte seine Hand aus, um die Tür zu öffnen. Nebenbei bemerkte er, dass der Mann ihm anscheinend noch was sagen wollte.

 

Was ist?“ fragte der Gruppenleiter den Techniker. „Die Zeit wird knapp. Sie müssen hier raus.“

 

Keine Panik! Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob wirklich soviel verschwindet. Na, Sie wissen schon, was ich meine...“

 

Cliffort sah zu seiner Kollegin hinüber, die aber nur mit den Schultern zuckte, sich ganz bewusst zurückhielt und die Ahnungslose spielte.

 

Dann sah er Smith direkt in die Augen.

 

Wer sagt das?“

 

Jeder sagt das hier. Ich meine die Sache mit dem geheimnisvollen Energiekristallen. Die Förderung läuft auf Hochtouren, und trotzdem scheint es immer weniger davon zu geben...“

 

Ich habe ebenfalls davon gehört. Große Mengen des geförderten Energiekristalls verschwinden, aber niemand weiß, wohin. Die beste Gelegenheiten für den Diebstahl der Kristalle wären die Förderstationen auf den Monden selbst oder, was wohl eher unwahrscheinlich ist, nehme ich jetzt mal an, die vielen Fracht- und Lagerterminals hier, für die unsere Teams verantwortlich sind, zu denen Sie ja auch gehören, Mr. Smith.“

 

Der Techniker zuckte plötzlich unwillkürlich zusammen. Cliffort beruhigte ihn gleich.

 

Es gibt allerdings nicht die kleinsten Anhaltspunkte dafür, dass hier was fehlt. Vielleicht verschwinden die Frachtcontainer von den Transportschiffen während ihres langen Fluges durchs All.“

 

Der Mann nickte heftig mit dem Kopf.

 

Wir haben hier nichts damit zu tun. Aus diesen Lagerhallen verschwindet nicht ein Gramm von den hier gelagerten Energiekristallen.“

 

"Das glaube ich Ihnen gerne, mein Guter. Dazu wären die Leute aus meiner Abteilung wohl auch nicht fähig. Ich habe großes Vertrauen in meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch wenn manche erst seit wenigen Wochen hier arbeiten.“

 

Dabei sah er Stella an, die ihm daraufhin einen bösen Blick entgegen schleuderte.

 

Das Gesicht des Technikers bot nach Clifforts Worten ein Anblick der Erleichterung.

 

Danke“, erwiderte er, „auf mich können Sie sich immer verlassen. Ich erstatte Ihnen sofort Meldung, sollte ich etwas Auffälliges in dieser Fracht- und Lagerhalle bemerken. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, Mr. Cliffort.“

 

Der Mann hatte kaum seinen Satz zu Ende gesprochen, da öffnete sich auch schon das schwere Schleusentor. Er huschte durch den sich öffnenden Spalt und verschwand kurz darauf irgendwo auf der anderen Seite im Schatten der hohen Gebäude des Raumflughafens.

 

Marc Cliffort und Stella Hill schauten ihm noch hinterher, bevor sie das Tor wieder mit Unterstützung des hydraulischen Motors schlossen und dann verriegelten. Sie waren jetzt allein in der weiten Fracht- und Lagerhalle.

 

Hast du genug Energie für die Lampen?“ fragte Stella Hill ihren Kollegen Marc Cliffort.

 

Keine Sorge“, antwortete der Gruppenleiter knapp, „die Batterien sind randvoll“, sagte er noch und ging zurück in die Halle.

 

Das fahle Licht der weit oben hängenden Beleuchtungsketten, die sich jetzt im Dämmerlichtmodus befanden, tauchte die riesigen Frachtcontainer vor ihnen in einen unwirklichen Schein. Die Laderoboter waren mit ihrer Arbeit fertig und standen wie erstarrte Statuen auf den dafür vorgesehenen Warteplätzen. Nur ihre Augen leuchteten in einem schwachen Rot. Ein Zeichen dafür, dass man sie über Funk abgeschaltet und in den Energiesparmodus versetzt hatte.

 

Zu dieser Zeit herrschte in der kühlen Frachthalle hinter dem gewaltigen Raumflughafen totale Einsamkeit. Unendlich weit schienen die Schritte von Marc und Stella zu hallen.

 

Die explosionssicheren Frachtcontainer waren in zwölf Reihen zu je acht Stück gestaffelt. Obwohl die Halle nur etwa zur Hälfte gefüllt war, versprach es ein gutes Stück Arbeit zu werden, sie alle zu überprüfen.

 

Stella griff seufzend zum Verschluss des Prüfgerätes, das an ihrem breiten Kettengürtel in einer Metallbox hing und das in der Lage war, sehr genau den Inhalt der Container zu analysieren und deren Menge bis auf wenige Gramm Differenz genau zu schätzen.

 

Angesichts des Zeitdrucks überwand sie ihre Unlust und machte sich an die Arbeit. Zusammen mit ihrem Gruppenleiter trat sie an den ersten Großbehälter und richtete das Gerät auf die metallene Außenhaut des Frachtcontainers, dessen Länge an die fünfzig Meter betrug. Seine Breite war mit fünf, seine Höhe mit acht Metern angegeben.

 

Sobald das Prüfgerät damit fertig war, den Inhalt richtig erfasst zu haben, gab es ein akustisches Signal von sich und zeigte auf einem kleinen Monitor die gewonnen Daten an. Gleichzeitig verglich ihr Kollege Cliffort den beim Start von den Monden und bei der Landung eingegebenen Werten mit dem gewonnen Messergebnis vor Ort.

 

Hier beim ersten Container stimmten die Werte, weshalb Marc und Stella gleich weiter zum zweiten gingen. Die gleiche Prozedur wiederholte sich mit nahezu identischen Werten. Wegen der winzigen Gewichtsunterschiede, die durch den Einfluss der unterschiedlich starken Gravitationsfelder der Fördermonde herrührten, von dem Prüfgerät aber zuverlässig umgerechnet bzw. mit einkalkuliert wurden, hatte der Gruppenleiter den Auftrag, nur bei offensichtlich groben Missverhältnissen eine Öffnung des jeweiligen Frachtcontainers durchzuführen.

 

Marc und Stella wollten gerade auf den dritten Container zugehen, als sie plötzlich ein Geräusch hörten. Sie hielten beide inne und lauschten.

 

Wieder hörten sie das Geräusch. Sie konnten sich nicht erklären, woher es kam. Stella schaltete das Prüfgerät ab, als es damit anfing, ununterbrochen nervige Pieptöne von sich zu geben.

 

In der Halle war es auf einmal wieder so still, dass man sogar das leise Brummen der elektrischen Dimmer an der Beleuchtung unter dem hohen Bogendach hören konnte.

 

Was kann das für ein Geräusch gewesen sein, Stella?“ fragte Cliffort seine Kollegin.

 

Kann ich nicht sagen. Es ist eigentlich unmöglich, dass sich in der Halle jetzt noch jemand außer uns hier aufhält.“

 

Der Gruppenleiter wurde sich bewusst, dass die Zeit ablief. Er hatte seine Vorgaben und er durfte den Zeitplan nur minimal überschreiten. Cliffort musste sich nun entscheiden, ob er dem vermeintlichen Geräusch nachging oder so schnell wie möglich seine Arbeit zusammen mit seiner Kollegin Stella Hill erledigte.

 

In diesem Augenblick wiederholte sich das Geräusch. Da war also wirklich etwas. Stella befestigte das Prüfgerät wieder an ihrem Gürtel, sah dann mit einem skeptischen Blick auf den Chronometer an ihrem linken Handgelenk und wies Marc darauf hin, dass sie es kaum noch schaffen würden, mit der Inspektion fertig zu werden, wenn sie jetzt nachsehen, was hier los war.

 

Wir können morgen früh vor Öffnung der Fracht- und Laderäume die restliche Arbeit erledigen“, gab der Gruppenleiter zur Antwort. Seine Kollegin Stella war damit einverstanden.

 

Cliffort lauschte noch einmal nach dem Geräusch, das jetzt wieder in seine Ohren drang. Es kam ihm auf einmal so vor, dass es mehr nach einem schwachen Stöhnen klang. Auch seine Kollegin Hill rührte sich nicht vom Fleck. Vorsichtig machte Cliffort ein paar Schritte mal nach vorne, dann zur Seite und wieder zurück nach hinten, bis er einen weiteren akustischen Anhaltspunkt für die mögliche Richtung bekam, aus der das seltsame Geräusch am deutlichsten zu hören war.

 

Dann gab er seiner Kollegin Stella ein klar sichtbares Handzeichen, dass er jetzt weitergehen wolle.

 

Zusammen bewegten sie sich im Schutz der Frachtcontainer behutsam und lautlos auf das hintere Ende der riesigen Halle zu, das im diffusen Halbdunkel lag. Nur ein paar gelbrote Positionslichter an den hohen Wänden leuchteten die Umgebung schwach aus. Clifforts rechte Hand streifte über die kühle Metallhaut der Container neben ihm, die mit einem Dekontaminationsmittel überspritzt worden waren, was einen weiteren Kühlungseffekt auf der Metalloberfläche zur Folge hatte.

 

Gerade als Marc und Stella vorsichtig die vierte Containerreihe passierten und eine offene Fläche überqueren wollten, vernahmen sie wieder ein stöhnendes Geräusch, das diesmal nur lauter und schmerzvoller klang.

 

Rasch griff der Gruppenleiter nach seiner handlichen Stabtaschenlampe, die an seinem ledernen Schultergurt herunterhing. Er hatte sie gerade von der Halterung gelöst, als sie ihm aus der Hand glitt und mit einem lauten Klappern zu Boden fiel.

 

Mit einer schnellen Bewegung bückte sich Cliffort und tastete den kalten Betonboden nach der Stablampe ab. In diesem Augenblick war das Stöhnen wieder zu hören, aber diesmal schien es näher gekommen zu sein.

 

Clifforts Fingerspitzen jagten jetzt in hitziger Panik über den Boden. Er fing an zu schwitzen und der üble Gestank der Ausdünstungen des Dekontaminierungsmittels machte ihm zu schaffen, das sich wie ein feiner Dunstschleier mehrere Zentimeter hoch über den Hallenboden gelegt hatte. Nur seiner Kollegin Stella Hill schien der Gestank offenbar nichts auszumachen. Er wunderte sich darüber, dachte aber nicht weiter darüber nach. Sie stand noch immer am vierten Container und wartete darauf, dass er die Stablampe endlich finden würde.

 

Da. Seine linke Hand stieß gegen etwas Hartes, das daraufhin noch etwas weiter von ihm weg rollte. Mit hastigen Bewegungen griff Cliffort hinterher und plötzlich schmiegte sich der kalte Stahl der Lampe in seine Hand.

 

Stella verhielt sich weiterhin ruhig. Sie wollte sich anscheinend nicht ehr vom Fleck rühren, bevor Marc den Strahler einschaltete, weil sie sich nur so sicher sein konnte, das sich ihnen nicht irgend etwas genähert hatte. Vielleicht trieb sich doch noch jemand in der Halle herum, der hier nach einer Möglichkeit suchte, an die Energiekristalle zu kommen um sie zu stehlen.

 

Seltsamerweise war jetzt nichts mehr zu hören. Marc ging hinüber zu Stella, die sich eng an seinen Körper schmiegte. Nur mühsam konnte sie ihre Gefühle unter Kontrolle halten.

 

Verflucht noch mal!“ flüstere ihr Marc leise zu. „In dieser Halle ist irgendwas, und ich hab’ keine Ahnung, was es sein könnte. Es wird wohl besser sein, wir verschwinden von hier und holen Verstärkung.“

 

Stella nickte bestätigend mit dem Kopf und deutete in Richtung des Ausganges, wo sich die schwere Schleusentor befand.

 

Als sich beide gerade umdrehen wollten, begann wieder das schmerzvolle Stöhnen, das sich nach und nach immer mehr in eine schreckliches Gewimmer verwandelte. Nur war es komischerweise weiter entfernt wie vorher. Jedenfalls klang es so.

 

Wir gehen jetzt, Stella. Bleib’ dicht bei mir und wenn wir an dem Tor sind, deckst du mir den Rücken mit deiner Waffe. Wieder nickte Stella mit dem Kopf. Vorsorglich tastete sie nach ihrer Strahlenwaffe und als sie den schlanken Griff des Handimpulslasers spürte, vermittelte er ihr das wohltuende Gefühl von Sicherheit, obwohl die Anspannung in ihr damit keineswegs abflaute. Jedenfalls würden sie sich notfalls verteidigen können, sollte irgendjemand versuchen, sie anzugreifen.

 

Während Cliffort Stella fest an sich drückte, versuchte er logisch zu denken. Aber in dieser schummrigen Finsternis schienen die chaotischen Gefühle die Kontrolle über seinen Verstand übernommen zu haben. Trotzdem tastete er sich mit seiner Kollegin vorwärts. Er hatte vor, bis zum Ende der belegten Containerstellplätze ohne Licht auszukommen oder es erst dann einzuschalten, bis er genau wusste aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Soviel wie er jetzt wusste, wurden sie offenbar von vorne an ihn herangetragen. Also ging er mit Stella zusammen auf die vermeintliche Quelle des Stöhnens zu, die sich irgendwo zwischen ihnen und dem Ausgang befinden musste.

 

Weiterhin vorwärts tastend überwanden sie die leeren Räume zwischen den riesigen Frachtcontainern. Nun standen sie, falls sie sich nicht verzählt hatten, vor dem letzten Container, hinter dem sich der Schleusenausgang befinden musste.

 

Cliffort schob seine Kollegin hinter sich und schaute um die Ecke. In diesem Augenblick waren kurze, schnell aufeinanderfolgende Schreie zu hören, die nur von panischen Versuchen, Luft zu holen, unterbrochen wurden. Dann trat von einer Sekunde auf die andere Stille ein, wie sie unheimlicher nicht sein kann.

 

Marc Cliffort hielt es nicht mehr aus und wollte das Risiko eingehen, den Strahler einzuschalten. Er drückte den Aktivierungsknopf und sofort schoss ein gebündelter Lichtstrahl aus dem breiten Kopfende der Stablampe. Vorsichtig leuchtete er um die Ecke des Containers. Er wusste nicht, was ihn dort erwartete. Er folgte jetzt mit seinen Blicken dem hellen Lichtkegel seiner Lampe, der gerade über einen Schrotthaufen aus irgendwelchen Metallresten wanderte. Von dort aus mussten die Schreie gekommen sein. Marc leuchtete in den Schrottstapel hinein, in dem sich einige abgeschnittene Stahlträger befanden, die kreuz und quer übereinander lagen und kleine Hohlräume bildeten.

 

Plötzlich sah er etwas. Der Lichtkegel seiner Stablampe huschte zurück auf eine Stelle, wo sich scheinbar noch etwas bewegte. Widerwillig lenkte Marc den Strahl seiner Lampe auf einen unnatürlich daliegenden Körper, dessen blutiger Kopf aus dem Metallgewirr heraushing.

 

Ich habe etwas in dem Schrotthaufen liegen sehen. Vielleicht ist jemand verletzt, Stella. Nimm deine Strahlenwaffe in die Hand und bleib ein paar Schritte hinter mir. Sollte dir oder mir irgendwelche Gefahren drohen, dann zögere nicht abzudrücken. Ich gehe jetzt auf den Schrotthaufen zu und vergewissere mich, ob jemand dort vielleicht dringend Hilfe braucht oder nicht.“

 

Sei vorsichtig, Marc. Wer weiß, was da zwischen den Metallresten liegt. Wir sollten lieber jetzt gleich Hilfe holen, bevor noch Schlimmeres passiert.“

 

Trotzdem Stella, vorher möchte ich mich selbst davon überzeugen, was da los ist. Hilfe kann ich dann immer noch holen. Also..., ich gehe jetzt. Bleib’ mit deiner Waffe dicht hinter mir.“

 

Als Cliffort keine fünf Meter vor einem Gewirr aus allen möglichen Metallteilen stand, sah er einen Mann auf einem der wuchtigen Stahlträger liegen. Sein Körper war unnatürlich verkrümmt und an einigen Stellen hatte er tiefe Fleischwunden, sodass man teilweise die nackten Knochen erkennen konnte. Scheinbar hatte sich der Unglückliche noch bis dorthin geschleppt und sich bemerkbar machen wollen.

 

Von Ekel ergriffen lenkte Cliffort den Lichtstrahl von den Stiefeln aufwärts, der gerade auf dem blutigen Brustkorb ein Namensschild passierte auf dem „Morrison“ stand, und dann war ihm plötzlich so, als führe ein heftiger Schlag durch seine Glieder, als er in das Gesicht des Mannes leuchtete.

 

Das gesamte Gesicht war hässlich aufgequollen. Der Hals war mit Blut verschmiert und an einigen stellen waren offensichtlich Adern geplatzt, so dass sich große Hämatome unter der Haut gebildet hatten. Seine Augen waren blutrot unterlaufen und aus den Augenhöhlen getreten. Es sah fast so aus, als hätte man Morrison brutal gewürgt. Erschüttert wandte sich Cliffort von dem Mann ab, der bis vor wenigen Sekunden noch gelebt haben muss, da immer noch frisches Blut aus seinen schrecklichen Wunden floss.

 

Als Cliffort sich umdrehte, stand plötzlich Stella hinter ihm und hielt ihm die Laserpistole direkt ins Gesicht. Er erschrak so heftig, dass sein Hals trocken wurde, und er nach Luft schnappen musste.

 

Was soll das denn, Stella? Lass’ diesen Unsinn! Willst du mich damit umbringen?“ stotterte der Gruppenleiter fassungslos vor Angst.

 

Cliffort trat instinktiv einen Schritt zurück. Stella folgte ihm wortlos mit erhobener Waffe. Ihr Gesicht sah aschfahl aus und machte einen verzerrten Eindruck auf ihn.

 

Er schluckte und spürte, wie sich seine Speiseröhre zusammenzog, als bekäme er einen Krampf. Die Furcht wuchs bei ihm ins Bodenlose. Die ganze Situation hatte etwas Unwirkliches an sich; etwas, das nicht hierher passte, weil dies die Realität war und kein Platz für Anormales zuließ.

 

Doch der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten. Marc Cliffort erschrak bis in seine Eingeweide. Er wollte weglaufen, doch seine Beine schienen seinem Wollen nicht zu folgen.

 

Stella, seine bildhübsche Kollegin, verwandelte sich schrittweise, fast wie in Zeitlupe, in eine schrecklich aussehende Echsen artige Kreatur mit riesigen Reißzähnen und grüner Schuppenhaut. Im nächsten Augenblick spie das Ungeheuer eine schwarze Flüssigkeit aus, die Cliffort mitten ins erschreckte totenblasse Gesicht traf. Er wollte noch schreien, brachte aber kein Ton mehr über die Lippen. Dann fiel er wie vom Blitz getroffen zu Boden, wo er zuckend nach wenigen Sekunden starb.

 

Das Monster grunzte zufrieden, als es die Leiche des Gruppenleiters gierig in Stücke riss und genüsslich bis auf die Knochen verspeiste. Dann war Morrisons Kadaver an der Reihe, den die Bestie in Gestalt von Stella Hill im Schrotthaufen versteckt hatte, als ein Wartungstechniker überraschend die Halle betrat und sie bei dem Versuch störte, Morrison zu töten um ihn zu fressen.

 

Eine neue Chance erhielt die schreckliche Kreatur, als sie in Gestalt von Stella Hill zusammen mit Marc Cliffort in die Fracht- und Ladehalle dienstlich zurückkehren konnte. Während die Roboter in der Fracht- und Lagerhalle arbeiteten, war jeder Zutritt für menschliches Personal strengstens verboten. Es bestand Lebensgefahr. Nur nach Arbeitsende und bei Wartungsarbeiten, wenn sie sich im Ruhemodus befanden, konnte man die Halle gefahrlos betreten. Und so kam es, dass schließlich das Ungeheuer alleine mit seinen beiden Opfern war, die in dieser Situation dem Monster hilflos ausgeliefert waren.

 

Als die Echsen artige Kreatur ihre Fressorgie endlich beendet hatte, materialisierte plötzlich zwischen den blutverschmierten Klauen ein silbrig glänzender Gegenstand, der aussah wie ein Bumerang. Wenig später drückte sie einige rot leuchtende, kryptische Zeichen auf der metallenen Oberfläche und im gleichen Moment war die blutrünstige Gestalt im Nichts verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Zurück blieb ein Ort des Grauens.

 

 

***

 

Unter den wenigen Passagieren eines gewaltigen interstellaren Großraumfrachters befand sich auch ein hager aussehender Mann in einer schwarzen Raumfahreruniform. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang. Der weite Flug durchs All ging zur Erde.

 

Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundliche Stewardess der intergalaktischen Transportgesellschaft auf den Bumerang ähnlichen Gegenstand aufgeklebt hatte.

 

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines bequemen Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen.

 

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlich aussehender Körper, wenngleich auch unmerklich für wenige Sekundenbruchteile nur, in die hässliche Gestalt eines Echsen artigen Monsters verwandeln.

 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter

 

 

***


 

8. Das perfekte Verbrechen


 

Als die junge Sekretärin Laura Schmid aus dem Bus stieg, war es draußen bereits schon dunkel geworden. Sie war auf dem Weg nach Hause und hatte heute ein paar Stunden länger arbeiten müssen, weil sie für ihren Chef noch einige wichtige Unterlagen fertig stellen musste. Es war ziemlich spät geworden, als sie die Firma endlich verlassen konnte.

Der Bus setzte sich mittlerweile wieder mit laut aufheulendem Motor in Bewegung. Die junge Sekretärin stand nun allein an der Bushaltestelle und blickte hinüber zu dem kleinen Friedhof, der sich direkt gegenüber der Bushaltestelle befand.

Gleich hinter dem Friedhof lag eine neue Stadtrandsiedlung, wo sich Laura und ihr Freund Jochen letztes Jahr zusammen eine geräumige Eigentumswohnung gekauft hatten. Seit dem sie mit ihrem Freund hier in die neue Wohnung eingezogen war, versuchte sie immer rechtzeitig noch vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, was allerdings oft nicht gelang.

Um zu ihrer Wohnung zu gelangen musste sie entweder den vor ihr liegenden Friedhof umrunden oder ihn direkt durchqueren. Laura grübelte einen Moment darüber nach, was sie diesmal machen sollte.

Der vor ihr liegende Gottesacker kam ihr stets unheimlich vor, obwohl sie eigentlich genau wusste, dass die Toten den Lebenden nichts mehr anhaben konnten. Es sind eben stets die gruseligen Gedanken über die Geister verstorbener Personen, die sich viele Menschen über die Orte derartiger Begräbnisstätten machten, die bei ihnen immer wieder tief sitzende Ängste auslösten.

Die junge Frau stand also nun vor der Entscheidung schnell nach Hause zu kommen und über den Friedhof zu gehen oder den längeren Weg um ihn herum zu wählen.

Laura entschied sich diesmal dafür, den Friedhof zu durchqueren, auch deshalb, weil sie endlich einmal ihre unterschwellige Angst vor diesem unliebsamen Ort besiegen wollte.

Als sie vor dem schmalen Eingang des Friedhofes, direkt unter dem schummrigen Licht der mit Efeu bewachsenen Laterne stand, konnte sie sogar von hier aus den düster wirkenden Ausgang auf der anderen Seite sehen. Der gerade Weg maß vielleicht nicht mal an die einhundert Meter. Was sollte also auf dieser kurzen Strecke schon passieren?

Also lief die junge Frau los. Doch schon nach ein paar Metern schien es ihr, als hörte sie plötzlich ein Geräusch hinter sich, das ausgerechnet von jenem Eingang kam, den sie gerade hinter sich gelassen hatte.

Laura blieb stehen und drehte sich um. Hatte sich da nicht gerade ein Busch bewegt? Oder war es vielleicht nur der Wind gewesen, der mit dem verzweigten Ästen des weit ausladenden Busches spielte?

Da, schon wieder.

Ein Schatten verließ den Busch und huschte an der Friedhofsmauer entlang. Dann war er auch schon wieder verschwunden. Das war mit Sicherheit nicht der Wind gewesen, dachte Laura.

"Da versucht man einmal, seine eigene Angst zu überwinden und dann passiert einem das", sagte die junge Frau ängstlich mit halblauter Stimme zu sich selbst, griff im gleichen Moment in ihre Tasche und holte ihr Handy raus. Schnell war die Nummer ihres Freundes gewählt.

Es knackte ein paar mal im Lautsprecher des Handys, dann sagte eine männliche Stimme: "Hier ist Jochen. Bist du es, Laura?"

"Ja, ich bin es. Ich musste heute länger arbeiten und habe die Abkürzung über den kleinen Friedhof genommen. Aber irgend etwas stimmt hier nicht. Ich habe den komischen Eindruck, dass ich verfolgt werde. Ich kriege echte Angst. Kannst du schnell kommen und mich abholen, Jochen?"

"Ja natürlich. Ich bin schon unterwegs, Laura. Mach', dass du von dem Friedhof runterkommst. Ich bin gleich bei dir", antwortete ihr Freund aufgeregt. Dann beendete er das Gespräch.

Die junge Frau rannte los, so schnell sie nur konnte. Kurz vor dem Ausgang hielt sie plötzlich inne. Eine schattenhafte Gestalt in der Dunkelheit versperrte ihr den Weg, der zum Friedhof hinaus führte.

Wahnsinnig vor Angst rief die junge Frau mit schriller Stimme: "Wer ist da? Was wollen sie von mir? Mein Freund kommt gleich und holt mich hier ab. Er muss jeden Moment hier sein."

Wortlos kam die ominöse Gestalt auf einmal direkt auf sie zu. Wie gelähmt vor Schreck stand Laura da, als zwei kräftige Hände wie eiserne Schraubstöcke nach ihrem Hals griffen und ihr die Luftröhre brutal zudrückten.

Wie aus weiter Ferne vernahm sie halb wahnsinnig vor Entsetzen die Stimme ihres Freundes.

"Ich bin es Liebling. Dein Freund Jochen. Endlich kann ich dich loswerden, ohne dass es einer merkt. Nach deinem Tod fange ich ein neues Leben mit einer anderen Frau an. Ja, auf diese günstige Gelegenheit habe ich schon lange warten müssen. Endlich ist es soweit. Alles läuft perfekt. Morgen findet hier auf dem Friedhof eine Beerdigung statt. Das Grab ist fast drei Meter tief und niemand wird bemerken, dass du da unten mit drin liegst. Ich werde dich da rein werfen und gut mit Erde zudecken. Es wird danach aussehen, wie eine ganz normale Grabsohle. Dann kommt später der Sarg oben drauf, was die ganze Sache dann noch perfekt abrundet. Niemand wird je vermuten, dass du da unten im Grab unter einer fremden Holzkiste liegst. Nicht einmal der Totengräber."

Der Mann lachte auf einmal leise vor sich hin wie ein Irrer.

Die junge Frau verlor nun gänzlich das Bewusstsein und bekam nichts mehr davon mit, als sie drei Meter tiefer auf dem harten Boden des offenen Grabes brutal der Länge nach aufschlug. Kurz darauf wurde ihr lebloser Körper mit schwerer, lehmiger Erde bedeckt.

Einige Zeit später.

Lauras Freund Jochen verließ mit einer Dreck verschmierten Schaufel in der Hand heimlich den kleinen Friedhof und verschwand wie ein Schatten in der Dunkelheit der Nacht.
 

ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

***


 

9. Der Besuch bei Lisa


 

Es war Sonntagnacht. Draußen regnete es in Strömen.

Die 16-jährige Lisa lag mit einer leichten Grippe auf dem Sofa und schaute fern. Ihre Eltern waren ausgegangen und würden erst gegen Mitternacht wieder zurück sein. Im Fernseher lief gerade ein Nightmare-Film mit Freddy Krueger, dem abscheulichen Serienmörder mit den rasiermesserscharfen Klingen an der rechten Hand, der in den Albträumen der Kinder und Jugendlichen zum Leben erwacht.

Plötzlich klingelte das Telefon.

Lisa schlug die warme Wolldecke zurück, stand auf und schlurfte missmutig in den Gang, wo das Telefon stand. Dann nahm sie den Hörer ab.

Gerade wollte sie fragen, wer da ist, da sagte eine sonore Männerstimme auch schon: „Freddy Krueger kommt gleich zu dir. Ich stehe noch fünfzehn Meter von deinem Haus entfernt!“

 

Erschrocken legte Lisa den Hörer sofort wieder auf.

Irgend so ein Volltrottel will mir Angst einjagen und erlaubt sich mit mir einen bösen Scherz, dachte sie verärgert, ging zurück ins Wohnzimmer und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem.

Nach einer Weile klingelte das Telefon abermals. Ein leichtes Angstgefühl stieg jetzt in Lisa hoch, denn ein gruseliger Horrorfilm mit Freddy Krueger lief gerade im Fernsehen, den sie sich soeben anschaute.

Was für ein komischer Zufall, dachte sie. Der unbekannte Anrufer nannte sich genauso wie der Hauptdarsteller im Film.

Wieder erhob sie sich vom Sofa und ging rüber in den Gang zum Telefon. Kaum hatte sie den Hörer abgenommen, sprach auch schon die gleiche, sonore Männerstimme zu ihr: „Freddy Krueger kommt gleich zu dir. Ich stehe nur noch wenige Meter von deinem Haus entfernt!“

Diesmal zuckte Lisa unwillkürlich zusammen. Mit zitternden Händen legte sie den Hörer auf und rannte zurück ins Wohnzimmer. Nachdem sie das Licht ausgeknipst hatte, ging sie sofort ans Fenster, schob vorsichtig den schweren Vorhang etwas zur Seite und starrte angestrengt hinaus in die dunkle Regennacht. Ihr ängstlicher Blick wanderte runter zur Straße, wo der Gehweg und das schmiedeeiserne Eingangstor des Reihenhauses ihrer Eltern vom Licht einer Bogenlaterne nur trübe beleuchtet wurde. In ihrem schwachen Lichtkegel stand allerdings ein Mann, der mit einem langen Mantel und einem Schlapphut auf dem Kopf bekleidet war. Er schien das Haus zu beobachten.

Lisa prallte entsetzt vom Fenster zurück. Ihr Herz rutschte vor lauter Angst in die Hose. Sie musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht in Panik zu geraten. Sie rührte sich außerdem nicht von der Stelle.

Da!

Plötzlich klingelte es unten an der Haustür. Kurz danach ein zweites und drittes Mal.

Lisas Knie wurden weich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Trotz aller Furcht tastete sie sich in der Dunkelheit des Zimmers langsam zum Telefon vor, um die Polizei anzurufen.

Schon wollte sie den Hörer abnehmen, als jemand offenbar mit geballter Faust heftig gegen die hölzerne Haustür schlug. Gleichzeitig rief eine laute Stimme: „Verdammt noch mal Lisa. Mach’ endlich die Tür auf! Ich bin es, dein Bruder Tom. Oder willst du mich hier draußen im Regen noch länger stehen lassen?“

„Gott sei Dank! Es ist ja nur mein Bruder. Das ist typisch für ihn. Immer muss er diese verdammten Scherze mit mir machen. Dem werde ich’s aber gleich geben. Der kann was von mir hören...“, murmelte Lisa mit zischender Stimme vor sich hin.

Gleich darauf rannte das 16-jährige Mädchen ziemlich erleichtert runter zur Haustür und öffnete sie hastig. Als die Tür weit offen stand, erstarrte Lisa vor Schreck. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton raus.

Vor ihr stand ein Mann mit einem brandnarbigen Gesicht. An der rechten Hand trug er lange scharfe Klingen an den Enden der Finger. Sein bis zu den Knöcheln hängender schwarzer Mantel war nicht zugeknöpft und den Schlapphut hatte er tief in seine Stirn gezogen. Der schmale Mund verzog sich plötzlich zu einem bösartigen Grinsen.

Dann sagte er mit sonorer Stimme:
„Ich heiße nicht Tom. Ich habe nur seine Stimme nachgeahmt. Mein Name ist Freddy Krueger.“

ENDE


(c) Heinz-Walter Hoetter

 

 

***

 

10. Der Dieb Drag Baron

 

Gehetzt und atemlos lief der junge Dieb Drag Baron auf der Suche nach einem Versteck über den feuchtnassen Sand. Er wandte seinen Kopf nach allen Seiten – fast schon ohne Hoffnung, denn weit und breit sah er keinen sicheren Unterschlupf.

Nach dem fürchterlichen Sturm, der fast den ganzen Tag über gewütet hatte, war das Laufen über den matschig gewordenen Strand ungefähr so, als ob man sich in einem Bottich mit dickem Brei bewegen würde. Drag rannte trotz allem weiter, denn ein Unbekannter verfolgte ihn verbissen – und der Bursche wusste auch warum.

Drag hatte den großen, hager aussehenden Mann in der schwarzen Raumfahreruniform erst vor wenigen Minuten abschütteln können, als er geistesgegenwärtig zwischen zwei eng zusammenstehenden Gebäuden hindurch zum nah gelegenen Meer gestürmt war. Für ihn war das der einzig sichere Fluchtweg gewesen, der ihm noch geblieben war.

Natürlich war ihm klar, dass sein hartnäckiger Verfolger diese Finte bald durchschauen und schnell merken würde, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Drag Baron blieb jetzt ein paar Sekunden stehen und schaute sich hastig um. Dann sah er ganz plötzlich seine Rettung: direkt vor ihm lagen mehr als zwanzig Fischerboote fein säuberlich in einer langen Reihe nebeneinander gereiht am Strand.

Drag, der Dieb, hielt immer noch den gestohlenen Gegenstand fest in seiner rechten Hand und sah schnell nach hinten über die Schulter. Sein Verfolger hatte anscheinend den Strand noch nicht erreicht. Ohne länger nachzudenken ergriff Drag seine Chance und stürzte sich kopfüber in das erstbeste Boot, kroch schnell unter ein schweres Fischernetz, deckte sich damit zu und verhielt sich mucksmäuschenstill.

Die Zeit kroch dahin wie ein träger Fluss. Wenn jemand auf der Flucht ist, vor lauter Anstrengung fast nicht mehr Atmen kann, noch dazu bis zum Hals in einer salzigen Pfütze liegt und ein großes Fischernetz wie Blei auf seinem Körper lastet, dann bewegt sich nichts langsamer als die Zeit. Aber Drag blieb im Augenblick nichts anderes übrig, als zu warten. Er beruhigte sich etwas.

Doch plötzlich begann sein Herz wieder schneller zu schlagen, als er draußen vor dem Boot eilige Schritte hörte, die schnell näher kamen. Der Dieb verkroch sich noch weiter unter das Netz und verhielt sich so still wie irgend möglich. Das salzige Meerwasser auf dem Holzboden bedeckte seinen Mund, sodass er durch die Nase atmen musste.

Die Schritte kamen während dessen näher und näher.

Es schien sinnlos zu sein. Der Unbekannte in der schwarzen Uniform hatte ihn bestimmt dabei beobachtet, wie er in das Fischerboot gekrochen war und sich dort versteckt hatte. Außerdem lief ihm gerade das brackige Meerwasser der Bootspfütze in die Nase. Er hob deshalb ein wenig den Kopf, um besser atmen zu können. Nebenbei schaute er auf den metallenen Gegenstand in seiner rechten Hand, den er immer noch fest umklammert hielt. Was hatte er dem Fremden da bloß gestohlen? Das Ding sah aus wie ein silberner Bumerang, auf dem sich einige nicht identifizierbare Zeichen befanden, die hin und wieder schwach zu leuchten begannen.

Da!

Die Schritte stockten direkt neben dem Boot. Drag Baron hielt den Atem an und schloss die Augen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und eine unterschwellige Angst machte sich in ihm breit, wie er sie zuvor noch nie empfunden hatte.

Im nächsten Moment bewegte sich das schwere Fischernetz über ihn ruckartig hin und her, bis es schließlich Stück für Stück weggerissen wurde. Während der junge Dieb Drag noch um Luft rang und sein Gesicht krampfhaft hinter beiden Armen verbarg, wartete er auf die Unvermeidlichkeit seiner Entdeckung durch seinen Verfolger, den er bestohlen hatte.

Aber es tat sich nichts.

Ein Weile später lugte Drag vorsichtig zwischen den Armen hervor und sah zuerst überhaupt nichts. Wo war der Fremde? Plötzlich ließ ihn eine sonore Stimme erschrocken zusammenfahren.

Hey Bursche, was machst du da in meinem Boot?“ fragte ihn ein alter Mann, der verblüfft auf Drag herabstarrte. „Und was ist das da für ein Ding in deiner Hand. Wo hast du das her, mein Junge? Ist das eine Waffe?“ fragte er vorsichtig mit hintergründiger Neugier und gespieltem Respekt.

Drag Baron antwortete nicht, sondern bekam auf einmal einen heftigen Hustenanfall. Dann spuckte er mehrmals hintereinander Meerwasser auf den Schiffsboden.

Der alte Mann schüttelte bedächtig den Kopf und klopfte ihm dabei ein paar Mal kräftig auf den Rücken.

Als Drag schließlich wieder normal atmen konnte, schaute er an dem alten Fischer vorbei und stellte zufrieden fest, dass der Strand leer war. Er konnte seinen Verfolger nirgendwo entdecken. Trotzdem blieb der Dieb vorsichtig.

Bist du in Schwierigkeiten?“ fragte ihn der Alte argwöhnisch.

Drag nickte und deutete in eine bestimmte Richtung.

Ich werde nur von jemandem verfolgt. Aber so wie es aussieht, habe ich ihn abschütteln können.

Der alte Fischer bohrte weiter.

Wie heißt du?“ fragte er.

Drag Baron. Mein Zuhause liegt eigentlich in Slateport City. In den großen Ferien wohne ich aber immer bei meinen Großeltern in Oldale.“

Das ist alles, mein Junge?“

Ist das nicht genug?“ fragte Drag spontan zurück.

Der Alte lachte etwas barsch. Dann deutete er auf den Gegenstand in Drags rechter Hand.

Und das Ding da? Wo hast du das her?“

Gefunden!“ antwortete Drag wie aus der Pistole geschossen.

Ehrlich? Ich kenne mich in Oldale aus. Das ist überwiegend eine Hotelstadt mit vielen Reisenden aus Slateport City, die einen großen Raumflughafen hat. In Oldale treiben sich eine Menge Burschen deiner Sorte herum, die den ganzen Tag nichts besseres zu tun haben als herumzulungern und auf eine günstige Gelegenheit warten, arglose Hotelgäste zu bestehlen.“

Ich hab’s wirklich gefunden, ehrlich!“ log Drag ein zweites Mal und blickte verlegen um sich.

Na gut, mein Junge. Aber wenn du schon einmal hier bist und dich in meinem Boot versteckt hast, aus welchem Grund auch immer, dann lass dir wenigstens eine kleine Geschichte von mir erzählen.“

Nur zu, alter Mann! Ich bin ganz Ohr. Aber wenn du mit damit fertig bist, dann verschwinde ich und lass mich hier nie wieder sehen.“

Der Alte schaute den frechen Burschen mit einem seltsamen Grinsen an. Dann blickte er hinauf aufs offene Meer und begann mit seiner kleinen Erzählung. Doch vorher stellte er Drag noch eine seltsam anmutende Frage.

Hast du schon mal von einem Monster gehört, das sich hier am Strand oder da draußen auf dem Meer herumtreiben soll?“

Nein“, fiel ihm Drag ins Wort. „Wie soll denn dieses Monster aussehen?“

Ich weiß es auch nicht genau“, sprach der alte Mann weiter. „Niemand hat dieses Ungeheuer je gesehen. Und jene, die es gesehen haben, haben es nicht überlebt.“

Woher wissen Sie dann, dass es überhaupt existiert?“ lächelte Drag Baron affektiert. Irgendwie kam ihm plötzlich der Alte nicht ganz geheuer vor.

Doch, doch..., es existiert“, sagte der alte Fischer ganz entschieden. „Ich bin mir dessen sogar ganz sicher. Obwohl niemand das Monster je direkt gesehen hat, gibt es doch Geschichten darüber. Ich glaube sogar Hunderte von Geschichten, die von dieser schrecklichen Kreatur erzählen.“

Der Alte wandte seinen Blick abrupt vom Meer ab und starrte plötzlich Drag an.

Manche behaupten sogar, diese Bestie könne die Gestalt eines Menschen annehmen. Es verwandelt sich von einer Sekunde auf die andere und lockt seine Opfer entweder ans oder sogar aufs offene Meer hinaus. Andere wiederum sagen, es sei eine außerirdische Kreatur, die mit langen Zähnen und Klauen ausgestattet ist und auf Menschenjagd ginge. Aber niemand weiß es genau. Ich kannte jedoch mal einen Kerl, der behauptete stock und steif, er hätte dieses Monster zufällig in einem Spiegel gesehen. Er meinte, es sähe aus wie eine aufrecht gehende Echse und hätte ein schuppiges, blutunterlaufendes Gesicht. Es spuckt schwarzen Eiter aus, der so giftig sein soll, dass jedes Lebewesen daran augenblicklich stirbt. Wenn es sein Opfer gefressen hat, verschwindet es wieder und taucht lange Zeit nicht mehr auf.“

Eine nette Geschichte, die Sie mir da erzählt haben. Aber jetzt werde ich besser verschwinden“, sagte Drag hastig mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend und machte Anstalten schleunigst zu gehen.

Der alte Fischer faste ihn jedoch am Arm und hielt ihn zurück.

Seine Stimme klang auf einmal viel tiefer als vorher.

Die Bestie, von der ich erzählt habe, lauert ganz in deiner Nähe. Genauer gesagt: sie steht direkt vor dir, mein Junge. Und jetzt gib mir meinen Besitz wieder, den du mir in Oldale gestohlen hast. Dieser Gegenstand ist ein uraltes Familienartefakt. In deinen Händen ist es nutzlos.“

Ich verstehe nicht ganz“, sagte Drag verstört und wurde leichenblass im Gesicht.

Das wirst du auch nicht müssen, denn ich werde dich jetzt töten“, entgegnete ihm der Alte, der sich langsam Schritt für Schritt in eine echsenartige Kreatur verwandelte und wenige Sekunden später den vor Schreck wie gelähmt da stehenden Dieb eine schwarze Säure mitten ins Gesicht spuckte.

Mit einem schauerlichen Schrei des Entsetzens kippte Drag schlagartig nach hinten weg und schlug mit dem Kopf gegen den harten Bootskörper. Noch bevor er in den nassen Sand fiel, war er schon tot.

Die Bestie grunzte zufrieden, als sie die Leiche des jungen Burschen in Stücke riss und genüsslich verspeiste. Dann nahm die Kreatur den silbrig glänzenden Bumerang an sich, drückte sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberflächen und löste sich im nächsten Moment wie ein verblassendes Bild langsam auf. Dann war sie im Nichts verschwunden.


 

***


 

Das tropfenförmige Shuttle „Fire“ des interstellaren Großraumschiffes White On Galaktika war auf der Steuerbordseite angedockt. Es kam direkt vom Raumflughafen Slateport City.

Unter den zahlreichen Passagieren befand sich auch ein großer hager aussehender Mann in einer schwarzen Raumfahreruniform. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.

Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der intergalaktischen Fluggesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen.

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch unmerklich für wenige Sekundenbruchteile nur, in die Gestalt eines Monsters verwandeln.


 

ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

***

 


 

11. Der Horror ist immer und überall

 


Die Angst ging um in dem kleinen Ort Stonington.

 

Für einen Augenblick stand Lester Morrison wie benommen da, als er den komfortablen Überlandbus verlassen hatte. Die meiste Zeit war er während der langen Fahrt einem tiefen Schlaf verfallen. Jetzt schaute er sich in dem ruhigen Ort nach allen Seiten um, versuchte sich zu orientieren und ging kurz darauf direkt auf das Haus des ortsansässigen Doktors zu, das genau gegenüber der Bushaltestelle lag.

 

Die Nachricht hatte ihn geschockt. Er hatte es bisher nicht verinnerlichen können, dass sein Bruder tot sein soll. John war noch so jung gewesen, gerade mal siebzehn, und knapp fünf Jahre jünger als er. Für ihn, den älteren Bruder, war Johns tot schlichtweg unfassbar. Er konnte und wollte es einfach nicht begreifen.

 

***

 

Aus dem Raum direkt vor ihm gellten laute Schmerzensschreie. Es war der Raum aus dem Mary Ann Singer gerade gekommen war. Die Tür stand einen Spaltbreit offen und Lester konnte sehen, wie der Doktor offenbar die schmerzhafte Wunde eines Patienten behandelte. Wieder folgte ein heftiger Schrei, der sich kurz darauf in ein langgestrecktes Stöhnen verwandelte, bis schließlich nur noch ein klägliches Jammern übrig blieb.

 

Lester drehte sich angeekelt um, als der Patient auf dem Behandlungstisch plötzlich seine jämmerlichen Klagelaute unterbrach und sich mehrmals hintereinander heftig übergeben musste.

 

Morrison riss sich zusammen und ging dann auf Mary Ann Singer zu, die eine ausgebildete Krankenschwester war und dem Doktor nebenbei als Assistentin zur Seite stand. Er kannte sie von früher her, bevor er Stonington verlassen musste, um beim Militär als Soldat zu dienen.

 

Als er direkt vor ihr stand sagte er mit leiser, fast erstickter Stimme: „John ist tot. Ich kann es noch immer nicht fassen, Mary Ann.“

 

Die etwas rundliche Frau in dem weißen Kittel nickte ein paar Mal mit dem Kopf. Dann schaute sie Lester mit traurigen Augen an und legte ihre Hand behutsam auf seine rechte Schulter.

 

Ja, Lester. Dein Bruder John starb vor zwei Tagen in den frühen Morgenstunden.“

 

Er durchdrang sie mit starrem Blick.

 

Er war noch so jung. Warum gerade er?“

 

Lester machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. Sein Atem ging schwer.

 

Was ist mit meinem Bruder genau passiert, Mary Ann?“

 

Die Krankenschwester wendete sich von Lester kurz ab, öffnete einen weißen Schrank und holte eine Packung Verbandsmaterial daraus hervor. Während sie das tat, fing sie an zu reden.

 

John war zu Fuß auf dem Weg zu Doktor Kerry, der ihn wegen einer leichten Unterarmverletzung zu sich bestellt hatte. Das war ein Tag vor dem Verbrechen. Dein Bruder wollte scheinbar den frühen Termin am nächsten Tag pünktlich einhalten. Jemand muss ihn aber dann auf dem Weg in die Praxis ganz in der Nähe des etwas abseits gelegenen Friedhofes überfallen haben. Trotzdem konnten wir sogar noch seine fürchterlichen Schreie hören und liefen so schnell wie wir konnten zu ihm. Der Mörder war aber schon verschwunden, als wir John in Agonie vorfanden. Selbst die Polizei fand keine Spur mehr von dem Unhold. Auch die Suchhunde schlugen seltsamerweise nicht an. Es ist alles sehr mysteriös. Als die Leute in Stonington von diesem grausamen Mord an deinem Bruder erfuhren, ging der pure Schrecken um. Viele haben nach der Bluttat aus Angst ihre Häuser nicht mehr verlassen. Im Nachbarort gab es übrigens vor etwa zehn Jahren einen ähnlichen Fall. Deshalb ist hier alles in Aufruhr.“

 

Wie ist John gestorben? Hat er leiden müssen?“ fragte Lester die Frau im weißen Behandlungskittel.

 

Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur sagen, dass er trotz seiner schlimmen Verletzungen wohl ohne Schmerzen diese Welt verlassen hat. Er lag in einer tiefen Bewusstlosigkeit, als man ihn fand.“

 

Wer war beim ihm, als er starb?“

 

Der Doktor, einige Personen aus der unmittelbaren Nachbarschaft und ich. Wir haben für deinen Bruder getan, was wir konnten.“

 

Lester Morrison schluckte bedrückt. Er senkte seinen Kopf ein wenig und sagte dann: „Danke für alles, Mary. Danke auch an den Doktor und allen, die John in seinen letzten Minuten beigestanden haben.“

 

Ach Lester, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann lass’ es mich wissen. Und wenn du deinen Bruder noch einmal sehen möchtest, bevor sich der Totengräber um ihn kümmert...“

 

Der junge Mann schaute die Krankenschwester mit Tränen in den Augen an, bevor er mit halb erstickter Stimme sagte: „Ja, wenn es möglich ist. Ich würde gerne...“

 

Während er noch redete, wandte er sich mechanisch dem Zimmer zu, in dem er Johns Leiche vermutete. Seine Verwirrung war nicht zu übersehen.

 

Mary Ann fasste Lester am rechten Arm und hielt ihn fest.

 

Dein Bruder liegt hier nicht mehr“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Der Doktor hat ihn in die Leichenhalle gleich hinter dem kleinen Friedhof bringen lassen. Sobald jemand gestorben ist, kommt er dorthin. Wer hat schon gerne einen Toten im Haus.“

 

Natürlich, ich verstehe Mary Ann. Bitte entschuldige. Ich bin wohl etwas durcheinander.“

 

Lester musste wieder schlucken und glaubte, einen Kloß im Hals zu haben. Wortlos verabschiedete er sich von der Krankenschwester, verließ das Haus und machte sich auf den Weg zum Friedhof, der ganz in der Nähe lag.

 

***

 

Der Himmel wölbte sich strahlend blau über die weite Landschaft. Hier und da zogen ein paar weiße Wölkchen wie kleine Segelschiffe vorbei und überall konnte man das Zwitschern vieler Vogelstimmen vernehmen. Die Luft war von einem würzigen Blumenduft erfüllt. Der Hochsommer zog ins Land.

 

Lester Morrison folgte einem schmalen Kiesweg, der auf beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt wurde. Plötzlich stand er vor dem Portal des Totenhauses, das offen stand und zum Gelände des Friedhofs gehörte.

 

Neben dem hohen, mit grünem Efeu berankten Backsteingebäude stand ein alter, aber noch ziemlich rüstiger Mann. Es war der ortsansässige Totengräber. Er ging gleich auf Lester zu.

 

Hallo, ich bin Samuel Doyle. Vermutlich sind Sie der junge Morrison, wie ich denke. Ich wohne erst seit einem Jahr hier und bin von Oldale nach Stonington gezogen, als man mich dort nicht mehr brauchte. Ein jüngerer hat meinen Posten übernommen. So ist das eben, da kann man nichts machen. Ich gehöre eben schon zum alten Eisen. Aber die meisten Leute aus dem Ort hier kenne ich mittlerweile schon. Sie sind sehr nett zu mir.“

 

Bevor er mit krächzender Stimme fortfuhr, wischte er sich mit einem Taschentuch über die schweißnasse Stirn.

 

Sie wollen sicherlich von Ihrem jüngeren Bruder in aller Ruhe Abschied nehmen. Nun, dann kommen Sie mit! – Haben Sie keine Angst vor den Toten?“, fragte er neugierig und führte Lester ohne lange zu zögern in das tranige Dunkel des schummrigen Leichenhauses. Nirgendwo brannte ein Licht. Links und rechts vom breiten Mittelgang, der mit quadratischen glatt polierten Steinplatten ausgelegt war, standen in regelmäßigen Abständen niedrige, höhenverstellbare Sargwägen vor den Kühlfächern. Die meisten davon waren allerdings leer. Rechts des Ganges, auf der letzten Liege befand sich eine menschliche Gestalt, die unter einem weißen Laken verborgen lag. Ein süßlicher Leichengeruch hing in der Luft.

 

Der alte Totengräber schritt mit schlurfenden Schritten darauf zu, nahm dem Toten behutsam das Tuch vom Kopf und warf einen prüfenden Blick in das Gesicht des Leichnams. Dann nickte er kurz bestätigend und schaute hinüber zum wartenden Lester Morrison.

 

Ich werde Sie jetzt allein lassen. Sollte irgendwas sein, dann rufen Sie nach mir. Ich bin auf dem Friedhof. Die Arbeit ruft..., Sie wissen schon..., das Grab für Ihren Bruder.“

 

Danke Mr. Doyle. Lester lächelte etwas dünn. „Ich verstehe...“ fügte er hinzu.

 

Der Alte entfernte sich. Am Portal angekommen drehte er sich noch einmal um und zog beim Hinausgehen einen der beiden Türflügel kräftig zu, sodass dieser krachend ins Schloss fiel. Nur wenig Tageslicht drang jetzt noch durch die offene Seite des Einganges in den Leichenraum.

 

Der junge Mann sah ihm noch eine Weile mit leerem Blick nach. Dann drehte er sich zu seinem toten Bruder um und betrachtete ihn still. Es kam Lester so vor, als sähe er in einen Spiegel. Obwohl zwischen John und ihm fünf Jahre Altersunterschied lagen, sahen sie sich dennoch sehr ähnlich, fast wie Zwillinge, für die man sie nicht selten auch gehalten hatte.

 

Lester berührte vorsichtig die blutleeren Wangen seines Bruders. Das Gesicht des Toten war wachsbleich. Die Außenränder der Nasenlöcher waren mit einer Menge geronnenem Blut verschmiert.

 

Hallo John“, flüsterte er leise, „ich bin es, dein Bruder Lester.“

 

Der junge Mann kniete auf einmal nieder und fasste den Toten an der Hand. Fast wäre er dabei zurückgeschreckt, als er die unheimliche Kälte des Todes an den Fingern spürte.

 

Ohne es zu wollen versank der Kniende unvermittelt ins Reich der Fantasie. Bunte, lebhafte Bilder aus der Vergangenheit tauchten vor seinem geistigen Auge auf, die wie ein Filmstreifen langsam an ihm vorbeizogen. Lester hatte den Eindruck, als blicke er durch ein Fenster in eine andere, längst vergangene Zeit.

 

Er sah seinen Bruder John und sich übermütig auf einer großen grünen Wiese vor dem Elternhaus herumtollen. Die hohen Bäume rauschten im Wind und wogten majestätisch hin und her. Sein Vater kam, nahm beide Buben mit ins Haus, wo sie in der großen Küche für den Kohleherd Holz ablegten. Die traute Szene verschwand und wurde von einer anderen mit einem kleinen See abgelöst, der glitzernd in der heißen Nachmittagssonne lag. Die ganze Familie war zum Picknick hinausgefahren. Mutter saß auf der Decke und schnitt gerade das Brot. John und Lester saßen am Ufer neben Vater und angelten. Ein Fisch hing auf einmal zappelnd am Haken und John versuchte ihn zu greifen, was ihm aber nicht richtig gelang. Lester eilte ihm zu Hilfe und beide hielten wenig später den gefangenen Karpfen schließlich wie eine Trophäe gemeinsam in die Luft. Dann landete das glitschige Tier in einem Eimer mit Wasser. Vater und Mutter lachten im Hintergrund aus vollem Herzen.

 

Lester Morrison wurde von einer tiefen Rührung ergriffen. Erinnerungen können weh tun. Von der einstmals so schönen Familie waren die meisten schon gestorben. Vater war vor wenigen Jahren durch einen schweren Unfall im Wald bei Baumfällarbeiten ums Leben gekommen. Mutter hatte den Tod ihres geliebten Mannes nicht verkraften können und verfiel in eine tiefe Depression. Eines Tages fand man sie erhängt auf dem Dachboden. Nun war auch John tot.

 

Auf einmal war ihm hundeelend zumute. Lester fühlte sich einsam und verlassen und wie der letzte Mensch auf der Welt. Er begann hemmungslos zu weinen. Schnaufend fuhr er sich zwischendurch mit dem Ellenbogen immer wieder über das tränennasse Gesicht. Dann atmete er mit kräftigen Zügen ein paar Mal tief durch, sodass sich sein Brustkorb hoch aufwölbte. Die Luft hatte dabei einen seltsam pelzigen Beigeschmack.

 

Nach einer Weile des stillen Schweigens setzte er sich auf den harten Rand der Metallpritsche, die neben der Liege stand. Das Leichentuch rutschte dabei ein Stück zur Seite und entblößte den nackten Oberkörper seines toten Bruders, der mit tiefen, hässlich aussehenden Fleischwunden übersät war. Lester betrachtete sie mit glasigen Augen. Dabei dachte er an Johns Mörder, der ihn so schrecklich zugerichtet und sein junges Leben abrupt ein Ende gesetzt hatte. Er konnte nach seiner fürchterlichen Tat unerkannt entkommen und führte sein Dasein fort, während man das unschuldige Opfer bald in einem Sarg in die kalte Erde versenken würde.

 

Lester seufzte schwer. Wahrscheinlich, so dachte er, wird man Johns Mörder nie finden. Wie sollte man auch einen Verbrecher dingfest machen können, dessen Gesicht man nicht gesehen hatte? Es gab weder Augenzeugen noch brauchbare Aussagen, die auf den Täter hingedeutet hätten.

 

Es tut mir alles so fürchterlich leid, Bruderherz“, murmelte Lester leise vor sich hin. „Aber ich denke, dass man den Schurken, der dich so schrecklich entstellt hat, wohl erst beim Jüngsten Gericht zur Rechenschaft ziehen kann.“

 

Plötzlich erschrak der junge Mann zutiefst. Hatte er nicht gerade scharrende Schritte vernommen? Irritiert blickte er von der Leiche seines Bruder auf. Die verdächtigen Schritte kamen näher, aber sie kamen nicht vom Eingang des Portals des Leichenhauses, sondern genau aus der gegenüber liegenden Seite, dem rückwärtigen Teil der Totenhalle. Dort herrschte eine tiefe Finsternis, als würde die Dunkelheit jeden Lichtstrahl sofort schlucken. Lester kniff die Augen zu schmalen Sehschlitzen zusammen und verhielt sich so ruhig wie möglich. Sein Körper fing unkontrolliert zu zittern an. Mit der rechten Hand griff er vorsichtshalber und so unauffällig wie möglich nach seinem Revolver, den er immer bei sich trug, entsicherte ihn vorsichtig und hielt ihn mit der rechten Hand am klobigen Griff fest umklammert, was ihm in dieser Situation eine gewisse Sicherheit gab. Falls notwendig, wäre er jetzt jedenfalls dazu in Lage, sich wirkungsvoll zu verteidigen.

 

Wieder hörte er das seltsam scharrende Geräusch. Es war einfach nicht mehr zu überhören.

 

Schlagartig erhob sich Lester jetzt von der Metallpritsche. Der junge Mann konzentrierte sich nun interessiert auf die Mitte der rückwärtigen Leichenhalle, die hier stockfinster war. Dann erkannte er im nächsten Augenblick einen etwas älter aussehenden, hageren Mann, der mit einem langen schwarzen Mantel und einem weiten Schlapphut bekleidet war und langsam aus der Finsternis hervortrat. In seiner rechten Hand hatte er einen silberfarbenen Gegenstand, der wie ein Bumerang aussah. Lester dachte zuerst an eine Waffe, die der Fremde mit sich herumtrug, erkannte aber sofort seinen Irrtum, als auf dem komischen Ding seltsam rot gefärbte Zeichen pulsierend aufleuchteten. Trotzdem richtete er seinen schweren Revolver instinktiv auf die unheimliche Person, die mit behäbigen Schritten näher kam.

 

Am Kopfende von Johns Bahre stoppte der Unbekannte. Mit einer feierlich anmutenden Geste nahm er seinen Hut ab und eine blankpolierte Halbglatze kam zum Vorschein. Der auffallend stechende Blick der unheimlichen Person wanderte zwischen Lester und dem bleichen Antlitz seines toten Bruders mehrere Male hin und her.

 

Mit wem habe ich die Ehre und was machen Sie hier?“ fragte der junge Mann mit halb erstickter Stimme.

 

Mein Name ist Henderson, genauer gesagt Mr. Ron Henderson”, antwortete der hagere Typ und streifte sich die langen grauen Resthaare an den Seiten seines Kopfes bedächtig nach hinten. Den silberfarbenen Gegenstand hatte er mittlerweile irgendwo im Mantel verschwinden lassen.

 

Bitte entschuldigen Sie, Mr. Morrison! Aber ich hatte nicht die Absicht Sie zu erschrecken.“ Er wies mit der rechten Hand ins Dunkel. „Eine ziemlich schlimme Sache..., ich meine die mit ihrem Bruder. Mein aufrichtiges Beileid“, fügte er noch hinzu.

 

Lester nickte. „Danke, Mister Henderson. Da Sie mich offenbar bereits kennen, erübrigt es sich, dass ich mich vorstelle.“

 

Der Mann in dem langen schwarzen Mantel deutete ein Kopfnicken an und reichte Lester die Hand. Als der einschlug, ergriff er noch einmal das Wort.

 

Wie ich sehe, wurde Ihr Bruder ermordet. Sieht ziemlich übel aus. Wer ist bloß zu solchen Grausamkeiten fähig? Irgendwo läuft in dieser Gegend ein Ungeheuer herum und hält die Polizei in Atem. Die Leute in Stonington sind total verängstigt. Ist ja auch verständlich, nicht war Mr. Morrison?“

 

Sie sagen es, Mr. Henderson. Es ist eine furchtbare Geschichte. Ich hoffe nur, dass man den Mörder meines Bruders so schnell wie möglich finden wird.“

 

Das hoffen wir alle, Mr. Morrison. Aber es wird wohl sehr schwierig werden, weil es keine Augenzeugen gibt. Verängstige Seelen behaupten sogar schon, dass es sich gar um ein schreckliches Monster handeln würde, das hier in der Umgebung von Stonington sein Unwesen treibt und ahnungslose Menschen anfällt. Eine unheimliche Bestie sozusagen, die plötzlich wie aus den Nichts auftaucht, ja sogar eine außerirdische Kreatur sein soll, die mit langen Zähnen und Klauen ausgestattet ist und auf Menschenjagd geht. Sie spuckt schwarzen Eiter aus, der so giftig ist, dass jedes Lebewesen daran augenblicklich stirbt. Dann macht sich diese unheimliche Bestie über ihre Opfer her und frisst sie auf. Nur die Knochen bleiben übrig. Danach verschwindet sie wieder spurlos und taucht für eine lange Zeit nicht mehr auf, wie gesagt, nachdem sie ihr grausames Werk vollbracht hat. Glauben Sie auch an diesen Unfug, Mr. Morrison?“

 

Nein. Warum sollte ich? Sie haben mir nur eine von den vielen Geschichten erzählt, die man sich hier in der Gegend rund um Stonington schon seit meiner Kindheit erzählt. Niemand glaubt heute noch an solche Märchen.“

 

Lester bekam auf einmal ein ungutes Gefühl und sah auf seine Armbanduhr. Er wollte, so schnell es ging, die Leichenhalle wieder verlassen.

 

Ich werde jetzt wohl besser gehen und mich um die Sterbepapiere meines toten Bruders kümmern. Die Zeit läuft mir sonst davon. Außerdem muss ich noch nach dem Totengräber sehen, den ich für seine Grabarbeiten bezahlen muss. Leben Sie wohl, Mr. Henderson. Hat mich gefreut, Sie kennen gelernt zu haben.“

 

Der hagere Mann in dem langen schwarzen Mantel und dem stechenden Blick faste Lester auf einmal am Arm und hielt ihn zurück. Seine Stimme klang plötzlich viel tiefer als vorher.

 

Die Bestie, von der ich erzählt habe, lauert ganz in ihrer Nähe, Mr. Morrison. Genauer gesagt steht sie direkt vor ihnen.“

 

Ich verstehe nicht ganz“, sagte Lester verstört und wurde leichenblass im Gesicht. Dann versuchte er seinen Revolver anzuheben, was ihm aber nicht mehr gelang, da sich der Alte mittlerweile in eine Echsen ähnliche Kreatur verwandelt hatte und nur wenige Sekunden später den vor Schreck wie gelähmt da stehenden jungen Mann eine schwarze Säure mitten ins Gesicht spuckte.

 

Mit einem erstickten Schrei des Entsetzens kippte Lester mit zuckendem Körper nach hinten über seinen toten Bruder und schlug mit dem Kopf gegen den Rand der harten Metallpritsche. Dann rutschte er wie eine weiche Gummipuppe auf den kalten Boden der Leichenhalle zurück und starb augenblicklich.

 

Die Bestie grunzte zufrieden, als sie sich wie besessen über die beiden Leichen hermachte und genüsslich verspeiste.

 

Nachdem sie ihre blutige Fressgier endlich befriedigt hatte, nahm sie den silberfarbenen Gegenstand zwischen ihre Klauen und drückte sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberfläche, die rot aufleuchteten. Im nächsten Moment löste sich der Körper der Kreatur wie ein sich stetig verblassendes Bild langsam auf. Dann verschwand sie im Nichts, als hätte es sie nie gegeben.

 

Zurück ließ sie einen Ort des Grauens.

 

***

 

Viel später.

 

Unter den zahlreichen Passagieren eines großen Fährschiffes befand sich auch ein hager aussehender Mann in einem langen schwarzen Mantel und einem weiten Schlapphut auf dem Kopf, der sein bleiches Gesicht mit dem hohen Mantelkragen verbarg. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.


„Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der Fährgesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.

 

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen. Zusätzlich knipste er das Licht einer kleinen Leselampe aus, die vor ihm auf dem Tisch stand. Dann legte er sich zurück.

 

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch unmerklich für wenige Sekundenbruchteile nur, in die Gestalt einer mit grünen Schuppen besetzten Monsterechse verwandeln.

 


ENDE


(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

 

12. Der Kampf um die Hölle

 

Wenn Hölle und Gottferne dasselbe ist, dann ist dies bereits die Hölle. Wir müssen uns keine Sorgen machen, dass wir dahin gelangen könnten, wo wir schon sind.“


 

Heinz-Walter Hoetter


 

***


 

Der grausame Krieg tobte nun schon seit mehreren Jahren.

Abermillionen Menschen überall auf der Welt waren ihm bereits zum Opfer gefallen. Die grässlich verstümmelten Leichen lagen überall auf den düster wirkenden Schlachtfeldern herum, wo sie im blutgetränkten Boden ihres Planeten stinkend verwesten. Die entsetzlichen Massaker schienen einfach kein Ende zu nehmen. Aber der Hass und die Feindschaft der untereinander kämpfenden Völker währten schon seit Anbeginn ihrer Existenz, und deshalb gab es aus dieser Hölle kein Entkommen, man tötete selbst oder man wurde getötet.

Angestachelt von ihren finsteren Religionen, die den Verlauf ihrer dunklen, mörderischen Geschichte diktierten, kannten die Völker dieser Welt nur einen Frieden, nämlich den, der zur Vorbereitung neuer Kriege diente…

***

Mehrere Geistliche in langen Gewändern und seltsam aussehenden Kopfbedeckungen mit religiösen Motiven segneten laut betend die tödlichen Waffen der frisch aufgestellten Kampftruppen, bevor sie an die Front geschickt wurden, die nur wenige Kilometer weit weg vor ihnen lag. Am fernen Horizont waren gewaltige Explosionsblitze zu sehen und es dauerte eine gewisse Zeit, bis das dumpfe Grollen der heftigen Detonationen bis zu den wartenden Soldaten durchgedrungen war.

Ihr nahendes Sterben schien ihnen nichts auszumachen

Für einen Moment lang roch General Abbas Czion den penetranten Gestank des Todes, der über der brennenden Stadt lag, die bis zum fernen Horizont im beißenden Qualm eingehüllt war. Überall lagen rauchende Trümmer herum und die einstmals von Menschen bewohnten Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht worden.

Über Funk wurde der Armee der Angriffsbefehl erteilt. Die Truppen setzten sich mit ihren Fahrzeugen in Bewegung, gefolgt von der Infanterie.

Die Schlacht begann.

Von allen Seiten hörte General Czion das chaotische Brüllen der sich gegenseitig abschlachtenden Soldaten und bemerkte dabei gleichzeitig, wie sich plötzlich direkt vor ihm das uralte Sonnenzeichen im Stein einer mächtigen Gebetsmauer langsam kreiselnd veränderte und sich schließlich wie ein heftig pochendes Herz zu einem hellen mannshohen Durchgang ausweitete.

Der völlig überraschte General trat neugierig näher und wurde kurz darauf von einem unwiderstehlichen Drang erfüllt, das Tor des Lichts zu durchschreiten.

Wie von magischer Hand geführt machte er einen Schritt nach vorn und verschwand kurz danach in dem pulsierenden, hell erleuchteten Kreis. Kälte umgab ihn hinter der flimmernden Wand aus reiner Energie. Dann wurde Abbas Czion von grenzenloser Dunkelheit eingehüllt, die ihn, trotz seines eiskalten Verstandes, erschaudern ließ. Der General verlor sein Bewusstsein, noch während er fallend in eine seltsame Zeitlosigkeit versank…

Als Abbas Czion wieder erwachte, schienen sich Tausend eisige Tentakel ähnliche Hände in seine hilflose Seele zu bohren. Sie kamen aus dem unendlichen Nichts und das Flüstern der Verstorbenen aus dem Totenreich drang in sein Gehirn, das zu zerplatzen drohte.

Planeten, Sonnen, Sterne und Galaxien tauchten vor ihm auf und verschwanden wieder.

Dann materialisierte ein Gang. Seine grau beleuchteten Wände, welche General Abbas Czion an gewebsartige undeutliche Konturen eines Spinnennetzes erinnerten, schienen aus Rissen und Spalten Blut und Wasser zu schwitzen.

Wie in einem Alptraum trugen ihn seine wankenden Schritte weiter. Abbas Czion war ohne eigenen Willen. Der Korridor dehnte sich im diffusen Licht endlos aus. Kein Ende war zu sehen. Der General zwang sich dazu, seinen Kopf nach hinten zu wenden…

Hinter ihm löste sich der Gang ins Leere auf. Ein schwarzer Abgrund zur Unendlichkeit, aus deren Tiefe weit unten die Sterne des Universums leuchteten. Ein Schwindelgefühl kam in Abbas Czion hoch, der erst wieder nachließ, nachdem er seinen Kopf nach vorne drehte.

Plötzlich war da etwas.

Der Angriff kam lautlos.

Das Wesen fiel aus dem Dämmerlicht der Korridordecke, wo es offenbar mit seinen Saugfüßen auf den General gewartet hatte. Im letzten Augenblick sprang Abbas Czion zur Seite und konnte gerade noch dem mörderischen Sprung ausweichen. Etwas, das sich wie geleeartiges Fleisch anfühlte, streifte seine Haut, die an der nackten Stelle jetzt wie Feuer brannte.

Eine stinkende, faulige Brühe verspritzend, zog sich das seltsame Wesen etwas zurück, wobei sich die elastische Form durch den Fall andauernd veränderte. Dann richtete es sich plötzlich auf und nahm die Gestalt eines Menschen an. Stumpfe Arme und ebenso stumpfe Beine endeten in einen wabernden erdbraunen, saugnapfbesetzten Körper, die sich wie übergroße Maden aus seinem schleimigen Unterleib bewegten und abwechselnd darin wieder verschwanden. Auf den mit ekelerregenden Warzen übersäten Schultern stieß der hals- und fleischlose Schädel wie der einer Kobra hervor. Die tiefliegenden, geschlitzten Augen glühten feuerrot und feindliche Intelligenz stach aus ihnen hervor wie zwei flammende Schwerter.

Die satanische Gestalt bewegte sich langsam auf General Abbas Czion zu. Er suchte auf dem glitschigen Gestein unter ihm nach einem sicheren Halt. Im nächsten Moment schoss plötzlich der plumpe Körper des Wesens vor. Mit aller Macht wehrte der General das stinkende Fleisch der widerlichen Kreatur ab, wurde aber durch den heftigen Aufprall zu Boden geschleudert und riss das hässliche Ungeheuer dabei ungewollt mit. Es fiel auf ihn drauf und noch im Sturz bohrten sich die Hände von Abbas Czion wie zwei eiserne Speere durch die Haut hinein bis zu den Eingeweiden dieser abscheulichen Kreatur.

Bei dem Versuch, sich zu befreien, wühlte sich der General nur noch tiefer in den fauligen Leib, aus dem jetzt eine fürchterlich stinkende, Gülle ähnliche Flüssigkeit spritzte, die ihm, ohne es auch nur annähernd verhindern zu können, über das ganze Gesicht lief, sodass er dabei fast erstickte.

Das riesige, gezähnte Maul des Monsters suchte nach seiner Kehle, der kobraartige Kopf stieß herab und kam unaufhaltsam näher…

Abbas Czions Hände glitten aus dem Körper des schrecklichen Wesens, das ihn sofort mit seinen stumpfen Armen festhielt und seine haifischartigen Zähne in die Brust des Generals rammen wollte. Einen Augenblick quoll das Zahnfleisch rot hervor, als es zubiss.

Abbas Czion schrie vor Schmerzen auf.

Tausend scharfe Rasierklingen stießen in sein muskulöses Fleisch. Vor Zorn brüllend stemmte sich General Czion mit seiner ganzen Kraft dagegen. Es versetzte ihn trotz aller Pein in großes Erstaunen, als er bemerkte, wie er plötzlich stärker und stärker wurde, bis er es endlich geschafft hatte, das saugende und beißende Maul von seiner Brust zu reißen.

Dann sprang er hoch und stieß den taumelnden Satan von sich weg, dessen blutiges, weit aufgerissenes Maul einen spitzen Schrei von sich gab. Wie von Sinnen sprang der General die dämonische Kreatur an, welche offenbar in ihrem fauligen Nest von so vielen seiner Opfer dick aufgeschwemmt war.

Mit seinen kräftigen Händen griff der General schnell nach beiden Seiten des teuflischen Schlundes und zerrte ihn weit auseinander, bis dann mit einem Schlag das stinkende Lippenfleisch auseinander fetzte und den zertrümmerten Kiefer darunter frei legte. Schwarzes Blut stürzte wie ein Wasserfall aus einer geplatzten Aorta und bedeckte sowohl seine Arme, als auch seinen Oberkörper. Der schreckliche Dämon starb gurgelnd vor seinen Füßen, dessen massiger Leib noch im Todeskampf wild und unkontrolliert zuckend um sich schlug.

General Abbas Czion hatte den Kampf gewonnen. Doch im gleichen Moment des Sieges veränderte sich sein menschlicher Körper in die Gestalt jener hässlichen Kreatur, die er gerade getötet hatte. Eine flüsternde Stimme drang in sein pochendes Gehirn und rühmte ihn bald darauf laut rufend als neuen Herrscher der Hölle.

General Abbas Czion, oder was davon übrig geblieben war, watete in einem stinkenden Ozean aus Fäulnis und Blut. Er stieß jetzt ebenfalls einen gellend brüllenden Schrei des Sieges aus. Sein wahnsinniges Gelächter hallte wie ein sich vielfach vermehrendes Dauerecho durch die unendlichen Weiten eines Sternen übersäten Universums.

Dann setzte er seine modernde Körpermasse langsam in Bewegung, an der noch einige Fetzen seiner alten Generalsuniform baumelnd herunter hingen und ritt mit weit aufgerissenem Maul auf einem schwarzen Kometen durchs All…, auf der Suche nach der Erde, wo er sich ein neues Nest bauen wollte.

Denn dort, das wusste er, lag seine Heimat – die Hölle.

 

ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 


 

***


 


 

13. Der unsichtbare Killer


 

Das Krankenzimmer lag recht weit hinten, schon fast am Ende des Ganges, wo an der Querwand so etwas wie eine Notbeleuchtung brannte. Alle Zimmertüren waren geschlossen, bis auf eine, die man wohl einfach nur vergessen hatte ordentlich zu schließen.


Hinter dieser spaltbreit offenen Tür lag Amelia Jones, die jetzt ruhig schlief und erst vor wenigen Stunden wegen extremer Angst- und Panikattacken hier in dieses Krankenhaus eingeliefert worden ist. Es ging ihr wirklich sehr schlecht und deshalb hatte man sie vorsorglich in einem komfortablen Einzelbettzimmer untergebracht. Gut möglich, dass sie vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in eine psychiatrische Klinik verlegt werden musste, falls sich ihr ernster Zustand nicht alsbald zum Guten hin bessern würde.


***


Ich schob die Tür behutsam weiter auf und ging wie auf Zehenspitzen leise ins Zimmer. Als Stationsarzt hatte ich meiner jungen Patientin eine starke Beruhigungsspritze gegeben und wollte mich jetzt selbst davon überzeugen, ob es ihr den Umständen entsprechend gut ging. Scheinbar war alles in Ordnung. Von draußen drang allerdings kühle Luft durch das offene Fenster ins Krankenzimmer, was mich dazu bewog, das Fenster zu schließen. Schließlich nahm ich den Stuhl aus der Ecke neben dem Esstisch und stellte ihn direkt ans Krankenbett. Als ich auf dem Stuhl Platz genommen hatte, beobachtete ich die junge Frau ein Weile aufmerksam. Ihr Atem ging ruhig. Sie machte insgesamt einen entspannten Eindruck auf mich.


Sie lag auf dem Rücken. Die diensthabende Stationsschwester hatte die weiße Bettdecke bis zu den Schultern nach oben gezogen. Nur der Kopf lag noch frei. Die Stirn war verbunden, der Verbandsstoff leuchtete hell weiß. Die junge Frau sah friedlich wie ein Engel aus, was allerdings wohl nur ein subjektiver Eindruck meinerseits war.


Plötzlich passierte es.


Die ganze Zeit hatte Amelia Jones ruhig in ihrem Bett gelegen. Wie es aussah, war das jetzt ganz plötzlich vorbei, denn ihre Hände zuckten auf einmal wild hin und her, als wollten sie etwas abwehren, das sie bedrohte. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich zu einer hässlichen Fratze.


Vielleicht wird sie wach, dachte ich und rutschte mit dem Stuhl ein wenig nach hinten vom Bett zurück, denn die Bewegungen ihrer Hände und Arme wurden jetzt immer heftiger.


Doch dann war von einer Sekunde auf die andere alles wieder vorbei. Ihr Körper entspannte sich und die Patientin schlief ruhig weiter.


Ich betrachtete aufmerksam ihr Gesicht und wartete gespannt darauf, dass es sich möglicherweise wieder verändern würde. Aber da war nichts zu sehen, kein Zeichen irgendwelcher neuerlichen Erregung. Ich sah kein Zucken der Lider oder irgendwelchen Schweiß auf der Stirn. Auch ihre Hände waren mittlerweile ganz zur Ruhe gekommen. Die Augen blieben geschlossen. Nur der Schlaf schien nicht mehr so tief zu sein.


Durch die abrupten Bewegungen ihre Arme und Hände war die Bettdecke etwas nach unten gerutscht. Ich zog sie vorsorglich wieder bis zur Schulter nach oben und streifte sie ein wenig glatt. Dann wendete ich mich von Amelia Jones ab und drehte mich zur Tür um. Ich hatte die Absicht, das Krankenzimmer zu verlassen.


Gerade in dem Augenblick, als ich die Türklinke niederdrücken wollte, geriet sie wieder in Unruhe. Ich ging zurück an ihr Bett. Jetzt zuckten auf einmal nicht nur die Hände, sondern der ganze Körper wurde von ekstatisch anmutenden Bewegungen erfasst. Etwas stimmte jetzt ganz und gar nicht mehr mit ihr.


Ich wartete etwas ab, es blieb mir im Augenblick auch nichts anderes übrig. Ich fragte mich, ob ich meiner Patientin möglicherweise eine weitere Beruhigungsspritze verabreichen sollte, sah aber vorläufig davon ab, weil die Zuckungen nicht heftiger wurden.


Plötzlich schlug Amelia Jones die Augen auf und blickte mich trübe an. Sie musste mich sehen können, deshalb war ich gespannt, wie sie reagieren würde.


Zuerst passierte überhaupt nichts. Dann blickte die Frau im Krankenzimmer herum, bis sich unsere Blicke abermals trafen. Sie bewegte schwach ihre Lippen, als wollte sie etwas sagen.


Im nächsten Augenblick deutete sie mit der rechten Hand auf den fahrbaren Nachttisch hin, wo ein leeres Glas neben einer Wasserflasche stand. Zwar wusste ich nicht genau, was sie sagte, aber ich reagierte trotzdem und griff nach der Flasche. Ich schraubte den Verschluss runter, nahm das Glas in die linke Hand und goss etwas Wasser ein.


"Sie haben Durst, nicht wahr?" sagte ich zu ihr und hielt das Glas Wasser an ihre geöffneten Lippen. Es sah wirklich so aus, dass sie großen Durst hatte, denn sie leerte es bis zum aller letzten Tropfen. Ihre Lebensgeister schienen mit jedem Schluck zurück zu kommen.


Ich stellte das Glas behutsam auf den fahrbaren Nachttisch zurück. Dann blickte ich der jungen Frau in die Augen und fragte sie: "Wie geht es denn meiner Patientin so?"


Amelia Jones antwortete nicht sofort. Sie schien nachzudenken und sagte schließlich: "Wie schön, ich lebe noch. Liege ich in einem Krankenhaus?"

"So ist es", antwortete ich ihr.


"Gut. Sie sind wohl der Stationsarzt, wie ich annehme."


"Ja, der bin ich. Ich habe mich die ganze Zeit um sie gekümmert. Sie wurden mit großen Angst- und Panikattacken eingeliefert. Sagen sie mir einfach, was passiert ist. Hatten sie schon öfters solche lebensbedrohlichen Angstzustände?"


"Nein. Jedenfalls nicht so intensiv wie diesmal. Aber ich wurde offenbar von einem verdammten Killer verfolgt. Er wollte mich erschießen."


"Haben sie ihn denn sehen können, ich meine den Killer?"


"Sorry, das weiß ich nicht mehr. Ich konnte eigentlich gar nichts erkennen. Er hat offenbar hinter einer grauen Wand gestanden und von dort auf mich geschossen. Einfach so. Ich bekam fürchterliche Angst, geriet in Panik und schrie mit aller Kraft um Hilfe. Dann spürte ich einen fürchterlichen Schmerz an meiner Stirn und wurde kurz darauf ohnmächtig."


"Ja, der Schütze hat sie erwischt. Aber sie haben verdammtes Glück gehabt. Es war nur ein harmloser Streifschuss."


Die Patientin drehte ihren Kopf zur Seite, schloss die Augen und sagte: "Er wird wiederkommen. Ganz bestimmt. Er wird keine Ruhe geben, bis er mich umgebracht hat."


"Vom wem reden sie eigentlich, Miss Jones?" fragte ich sie neugierig.


Ohne mich anzusehen antwortete sie: "Ich kann seit einiger Zeit offenbar nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Auf jeden Fall war jemand hinter mir her, etwas Fremdes, etwas, das auf mich schon die ganze Zeit lauert. Ich kann es einfach beim besten Willen nicht erklären. Es ist wie ein grauer Schatten, der mich packen und töten will. Seit ich das weiß, bekomme ich Angstzustände und Panikattacken."


"Sie bleiben vorerst in diesem Krankenhaus. Unser Chefarzt, Dr. Murphy, wird sie morgen besuchen kommen und sich mit ihre Geschichte einmal näher befassen, damit wir weitere Maßnahmen beschließen zu können. Sie sollten jetzt aber erst einmal in aller Ruhe weiterschlafen. Ich werde ihnen noch eine Beruhigungsspritze verabreichen, falls sie es wünschen, Miss Jones."


"Ja, das wäre mir recht, Herr Doktor. Ich denke, dass ich von selber nicht einschlafen kann." sagte die junge Frau und legte sich einen Augenblick später flach auf den Rücken.


Ich gab der Patientin eine weitere Beruhigungsspritze. Allerdings nur eine abgeschwächte Dosis. Trotzdem würde sie danach gut schlafen können. Ich hatte zwar kein gutes Gewissen dabei, aber als Stationsarzt blieb mir keine andere Wahl. Ich musste die Frau auf jeden Fall unter Kontrolle halten, wenigstens bis zum nächsten Tag, wenn der Chefarzt die Sache übernehmen würde.


Kurz darauf verließ ich das Krankenzimmer und zog die Tür hinter mir behutsam und leise zu.


***


Amelia Jones blieb allein zurück. Das Licht auf ihrem Zimmer reichte mit seiner Stärke gerade mal aus, um auch die Tür zu sehen, die jetzt geschlossen war.


Die Beruhigungsspritze begann zwar langsam zu wirken, aber trotzdem wurde sie nicht schläfrig. Im Gegenteil.


Plötzlich erlebte die junge Frau wieder das andere, das sich in ihrer Umgebung zusammenzog, von dem sie wusste, dass es ihre Angst- und Panikgefühle erneut anfachen würde, trotz der verabreichten Beruhigungsspritze.


Sie bewegte nur ihre Augen. Sie spürte auf einmal sehr genau, dass etwas in ihrem Zimmer war und auf sie zukam. Aber sie konnte es nicht sehen.


Das war eben das Wahnsinnige, das Unerklärbare und Schreckliche an dieser Situation. Etwas hatte sich von irgendwas gelöst und bewegte sich unablässig auf sie zu. Es gab einfach nichts, das es hätte stoppen können. Seltsamerweise stieg diesmal keine Angst in ihr auf, von der sie sonst immer in solch einer schlimmen Lage heimgesucht worden ist.


Das Unerklärliche erreichte das Bett und nahm sie jetzt gewaltsam in Besitz.


Amelia Jones konnte nichts dagegen tun. Sie konnte die Veränderung nicht beschreiben, die sie dabei erlebte. Sie musste alles über sich ergehen lassen und hatte auf einmal das Gefühl, im Nichts zu liegen. Etwas Fremdes hatte sie gepackt, das über unglaublich magische Kräfte verfügen musste. Die junge Frau lag einfach nur so da in ihrem Bett. Sie wusste instinktiv, dass es nicht gut war, wenn sie sich jetzt bewegen würde. Trotzdem wagte sie es, denn sie wollte sehen und erkennen, was um sie herum vorging.


Sie schaute zuerst nach links vorsichtig über den Rand ihres Krankenbettes hinunter zum Boden. Unwillkürlich riss sie den Mund auf. Dann schnappte sie nach Luft. Sie fasste es einfach nicht, was sie sah. Zuerst glaubte sie an einen Irrtum. Der Boden unter ihrem Bett hatte sich entfernt und war tiefer gesunken, und zwar rundherum auf allen Seiten. Er sank immer weiter, bis er nicht mehr zu sehen war.


Die junge Frau schwebte plötzlich im Nichts!


Amelia Jones hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Sie kroch zurück vom Rand in die Mitte des Bettes und legte ihren Kopf zurück auf das flache Kissen, weil sie zur Decke hoch schauen wollte, um zu erklären, wo sie sich befand. Sie erschrak abermals. Auch hier war nichts. Ihre weit geöffneten Augen blickten in einen unendlichen Himmel hinein oder ins Nichts, das kein Ende zu haben schien.


Anstatt jetzt in Angst und Panik zu verfallen, wie sonst immer, wollte es die junge Frau auf einmal genauer wissen, wo sie war. Sie riss sich zusammen und dachte darüber nach, wo sie sich befand.


Das Bett stand offenbar noch immer am gleichen Platz, nur die Umgebung hatte sich verändert. Da sie keine Fixpunkte hatte, musste sie davon ausgehen, irgendwo in einer anderen Dimension zu sein. Möglicherweise war alles auch nur eine üble Täuschung, eine Fata Morgana sozusagen.


Abermals schaute Amelia Jones über den Rand des Bettes. Diesmal auf der gegenüber liegenden Seite. Auch hier war es nicht anders. Sie versuchte mit einer Hand den Boden zu ertasten, griff aber ins Nichts. In diesem Moment erblickte sie einen grauen Schatten, der von der rechten Seite auf sie zukam und sich ihr schnell näherte.


Er kam näher und näher, bis der graue Schatten direkt vor ihrem Bett stand. Unheimlich und drohend schwebte er da auf und ab.


Im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen der jungen Frau vor lauter Entsetzen. Der graue Schatten teilte sich und ein gespreiztes Händepaar fingerte daraus hervor.


Es waren große, hässliche Klauen, die dazu bereit waren, sie zu erwürgen. Sie kamen näher und näher. Amelia Jones hätte sie greifen können, aber ihr ganzer Körper war wie paralysiert. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen. Langsam schwebten die Hände des unsichtbaren Killers über ihren zitternden Leib hinauf zum Hals. Die junge Frau wollte schreien, brachte aber keinen Ton über ihre erstarrten Lippen. In diesem Moment spürte Amelia Jones auch schon, wie ihr schlanker Hals erbarmungslos zugedrückt wurde. Röchelnd nach Luft versuchte die Frau noch dem Würgegriff zu entkommen und fing heftig mit ihren Beinen an zu strampeln. Aber es half nichts. Die schrecklichen Hände würgten sie solange, bis ihr gesamter Körper schlaff in sich zusammensackte und keinen Mucks mehr von sich gab. Ihr Gesicht war jetzt blau angelaufen und zu einer von Angst und Furcht entstellten, hässlich aussehenden Fratze erstarrt. Dann war wieder alles wie zuvor, als hätte es diesen schrecklichen Spuk nie gegeben.


Draußen im Gang war nur Stille. Niemand war zu sehen. Nur ein grauer Schatten huschte auf einmal durch ein geöffnetes Flurfenster des Krankenhauses nach draußen hinaus in die Dunkelheit, wo er zwischen den trübe erleuchteten Gassen irgendwo in der Nacht wie ein Geist verschwand.


***

Nachdem ich das Krankenzimmer von Amelia Jones verlassen hatte, machte ich mir große Vorwürfe. Sie musste sich wohl in der Nacht irgendwann mit dem Laken an der eisernen Bettkante aufgehängt haben. Ich konnte nur noch ihren Tod feststellen. Es war nicht gut von mir gewesen, dass ich sie allein in ihrem Zimmer zurück gelassen habe. Nun, andererseits war sie ja auch kein kleines Kind mehr, sondern eine erwachsene Person, die ihre Entscheidungen selbst treffen konnte und es in letzter Konsequenz ja auch getan hatte. Niemand kann in einen Menschen hineinschauen, auch ein Arzt nicht.


Eine bekannte Männerstimme riss mich aus meinen grübelnden Gedanken. Es war einer meiner langjährigen Stationsmitarbeiter.

"Herr Doktor, die Leiche von Frau Amelia Jones soll heute noch in die Pathologie. Ist die Todesbescheinigung schon fertig? Die Leute vom Bestattungsinstitut sind bereits unterwegs. Sie werden bald hier sein und warten nicht so gerne."


"Es ist alles fertig bearbeitet. Frau Jones ist eines unnatürlichen Todes gestorben und muss obduziert werden. Sie können die Verstorbene wie besprochen abholen lassen."


Ich wies meinen Stationshelfer kurz ein und machte mich auf den Weg in mein Büro. Ich hatte unterwegs plötzlich das seltsame Gefühl, von jemand oder etwas beobachtet zu werden. Ich drehte mich daher ein paar Mal schnell herum und schaute nach hinten, konnte jedoch nichts ungewöhnliches erkennen. Mir fiel allerdings auf, dass ganz hinten am Ende des Ganges das Fenster weit offen stand und ein eiskalter Wind an mir vorbeizog. Ich wies eine zufällig vorbei kommende Schwester an, das Flurfenster zu schließen und fuhr dann mit dem Aufzug nach oben, wo sich in der letzten Etage das Büro von mir befand.

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter


 

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