Klaus Mattes

Media Blog 2.1 Reich-Ranicki, ein Mann von gestern

 

Marcel Reich-Ranicki hat wiederholt (seine Stärke: starrsinniges Wieder- und Wiederholen) gesagt, dass Verrisse den Leuten mehr Spaß machen als Loben. Dass er viel mehr gelesen würde, wenn er mehr verrisse, was tatsächlich nur die Minderheit seiner Artikel täten. (Ich glaube ihm.)

Er ist der große Schulmeister unter den Kritikern. Er liebte (einige) gute Bücher wirklich und wollte sie uns ständig ans Herz legen. Die „Buddenbrooks“ und natürlich den schreibfaulen Kameraden Wolfgang Koeppen, der ohne ihn vielleicht vergessen worden wäre. Wir alle lieben begrenzte Wahrnehmungs- und Verständnisspektren. Ich entnahm einst einer aus dem Rasch gezogenen dtv-Monografie über den großen Literaturkritiker, Marcel Reich-Ranicki gefalle vor allem: bürgerliches Milieu, gediegene, nicht übermäßig experimentelle Erzählweise, Bildungs- bzw. Erziehungsromane, schuldhafte erotische Verstrickung, das charakterliche Erstarken an Krankheit und körperlicher Schwäche. Kurz: eine bitterernste, mutig „existenzielle Fragen“ ins Auge fassende, hochwertige Literatur.

Warum wir ihn immer lasen: Wenn man sich eine Küche kauft, will man eine hochwertige Küche. Wenn man sich einen Roman kauft, vielleicht um ihn zu verschenken, möchte man einen hochwertigen Roman.

Marcel Reich-Ranicki war schon in den siebziger Jahren dafür bekannt, dass er im Frühjahr ankündigte: „Ach, dieser Bücherherbst wird den großen zeitgeschichtlichen Roman wieder nicht bringen.“

In seinen späteren Jahren änderte er das dahingehend ab, der große zeitgeschichtliche Roman sei eigentlich gar nicht mehr zu machen. Jetzt hieß es: „Jeder Roman von mehr als 500 Seiten ist ein schlechter Roman.“

Meistens empfahl Marcel Reich-Ranicki die richtigen Bücher. Das Problem lag eher bei der Selbstgefälligkeit seines Auftretens. Und dass er mit der ihm eignenden päpstlichen Emphase den Meistern Goethe und Mann bisweilen ein x-beliebiges Werkchen von Peter Härtling, Thomas Hettche, Luise Rinser, Hermann Burger, Ulla Hahn oder Xavier Marías zur Seite stellte, das zehn Jahre später aber so was von unterm Rasen ruhte.

Wo unser Fernsehen schon immer eher Unterhaltung als „gute Romane“ brauchte, war Marcel Reich-Ranicki Gold für dieses damals noch fast neue Medium. Seiner überragenden Show-Qualitäten war er sich während vieler Jahre selbst noch nicht vollumfänglich bewusst gewesen. Für die Schnittmenge von Literatur und Fernsehen kann das in Deutschland in den kommenden Jahrzehnte nicht noch einmal wiederkehren.

Marcel Reich-Ranickis Brillanz beruhte darauf, dass er vor sehr, sehr vielen Jahren sehr viel von Goethe, Fontane, Lessing, Thomas Mann gelesen hatte und sich das, aber auch, was er über sie gelesen hatte, außergewöhnlich gut eingeprägt hatte. Ein Volk, das Johann von Goethe, Thomas Mann, Hermann Broch, Robert Musil und Alfred Döblin studiert hatte, brauchte sich für Neues nicht mehr zu interessieren. Allenfalls vielleicht noch für Hermann Burger, Ulla Hahn pder Arnold Stadler! „Das Leben in der Provinz, Messkirch und so weiter, das interessiert mich gar nicht. Gut, das Leben im alten Lübeck hat mich auch nie interessiert, doch dann hat es Thomas Mann so bezwingend nacherzählt, dass ich mich dafür doch interessieren musste!“ (Alle Marcel-Reich-Ranicki-Zitate dieser Abhandlung sind frei erfunden. Für den exakten Wortlaut habe ich mich nie interessiert.)

Das prägte Reich-Ranickis Leben: Zwar ein Jude, der in einem Lager der Nazis in Polen seine beiden Eltern hatte in den Tod gehen sehen, war er gänzlich zweifelsfrei und unkritisch seiner Selbstliebe und seinem ewigen Streben nach Macht und Einfluss ausgeliefert. Er wurde dann auch noch Kommunist in der DDR, Opfer des dortigen Systems und Helfer der amerikanischen Besatzer im Westen, stieg als liberaler Geist bei der eher linken West-Presse ein, bevor er sich am Ende zum kulturellen Präzeptor des deutschen Börsenblatts fürs vereinigte Großkapital, die Metall- und die Elektroindustrie behauptete. So ein Mensch kommt allzeit und überall durch und zu guter Letzt nach oben im gesellschaftlichen Spiel.

Dazu gehörten für den Außenstehenden schwer durchschaubare Winkelzüge. So unterhielt der Frankfurter Großkritiker, lange bevor er Martin Walser so erzürnte, dass dieser den schwachen Roman „Tod eines Kritikers“ schrieb, was schließlich zu Walsers Abgang vom Ranicki-nahen Frankfurter Suhrkamp Verlag zum Hamburger Rowohlt Verlag hinüber leitete, eine Art gegenseitiger Runtermachen-Kumpanei mit der hilfsbereiten wie streitbaren Adlerhorstbraue am Bodensee. Walser hätte alles andere als seine Romane verfassen sollen, verkündete Marcel Reich-Ranicki. Und hatte mal wieder Recht.

Seine Weisheiten, so er sie dann mal gefunden hatte (und sehr dumm waren sie nicht), pflegte er immer wieder und wieder aufzusagen. Wie wir das sonst nur von Politikern kennen. Aber man musste es ihm irgendwann glauben, damit er damit drei, vier Augenblicke mal aufhörte. Marcel Reich-Ranicki spielte die letzte Instanz über Knechten wie Sigrid Löffler und Hellmuth Karasek. Natürlich war auch für diese nur noch wichtig und interessant, was Marcel Reich-Ranicki interessierte. „Die Literatur des Südkongos interessiert mich nicht!“ „Krimis interessieren mich nicht!“ „Die Lebensweisen von Bi-, Homo- oder irgendwelchen Transsexuellen, gewiss, man kann über alles Bücher schreiben, aber mich interessiert das nun mal nicht!“

Mit allem, das sich später als halbseiden noch herausstellen könnte, befasste Marcel Reich-Ranicki sich nicht. Die seinerzeit noch als Junge gelten könnenden und gar nicht weit entfernt von ihm in Frankfurt lauernden pardon-, später Titanic-Autoren wie Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid fasste Reich-Ranicki mit der Beißzange nicht an. Jahrzehnte lang nicht, bevor für die letzten paar Runden die gleichzeitig zum nationalen Ruhm vordringenden wie definitiv schwächelnden lyrischen Qualitäten Gernhardts doch noch konzediert wurden.

Irgendwie sympathisch wurde einem Marcel Reich-Ranickis galoppierende Altmännergeilheit, die Eckhard Henscheid an den Eklogen auf Ulla Hahn festgemacht hatte. Ich sah es mir nicht an, weil ich keinen Fernseher hatte, aber liest man sich durch den damals parallel zum „Literarischen Quartett“ erschienen Band „mit den besten Stellen aus den besten Gesprächen“, fällt doch auf, wie der Nestor seine Kollegen Löffler und Karasek, gegen deren Widerstand: „Das wollen wir hier nicht vertiefen, das ist für den Wert dieses Buches ja nicht ausschlaggebend“, immer wieder auf die sogenannten „Stellen“ aufflammender Sinnlichkeit und Körperlichkeit aufmerksam machte: „Nein! Nein! Nein! Gerade darum geht es hier! Das ist wichtig.“

Für dem Oberpfälzer Humoristen Henscheid war Marcel Reich-Ranicki der Großkotz, der fest bestallte Anstalts-Clown des bundesdeutschen Literaturrummels. Fünf gute Gedanken und ein Organ, dass fünfhundert Kilometer weit entfernt noch gut zu hören ist. Für die Ranicki-Satire in Henscheids „Erledigte Fälle“ malte der Titanic-Zeichner Hans Traxler ein Bild, auf dem wir Marcel Reich-Ranicki mit übertrieben großen Ohren, mit Clownsschminke und einer großen Trommel samt Becken vor seinem Bauch über den Jahrmarkt walzen sehen. Der Kritiker, wie gesagt, ignorierte diesen eisgrauen Satiriker, schimpfte ihn dann mal einen Dummkopf und Krawallmacher. Man wird in zwanzig, dreißig Jahren sich informieren müssen, an wen die Kulturnation sich überhaupt noch erinnert. Marcel Reich-Ranicki oder Eckhard Henscheid? Wahrscheinlich an keinen.

Kurios, wie Reich-Ranicki, der sein Leben lang kein Buch geschrieben hat, außer dieser Autobiografie, mit der er sich vor allen rechtfertigen wollte, zig Bücher zusammenbrachte, indem er seine Aufsätze aus der FAZ und anderen Presseorganen zu Büchern bündelte. Als er sie für den Erstabdruck in den tagesaktuellen Blättern fertig machte, habe er sie im Geiste genau an ihrer Stelle in den Gesamtdarstellungen, die er der Ewigkeit deutschen Lesens übergeben würde, schon erblickt, heißt es.

Marcel Reich-Ranicki ist eine Koryphäe der vergangenen Zeit. Eine Madeleine, die nur sandig schmeckt. Wer denn unter uns wäre heute noch stolz auf die Pappschuber, die da im Regal stehen, auf denen der „Literaturpapst seiner Zeit“, durch große Porträtfotos beglaubigt, seiner Gemeinde erklärte, was als Kanon deutscher Romane, Dramen, Gedichte und Essays künftig noch gelten darf. Stellen wir in den dunkelsten Monaten des Jahres eine Kerze seligen Angedenkens für diesen Marcel Reich-Ranicki und seinen literarischen Verstand in unsere Fenster! Die folgenden Tage auch noch andere für Paul Flora, Bernhard von Brentano, Albert Paris Gütersloh, Ernst Barlach, Ernst Wilhelm Nay und was diese gut konnten!

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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