Jens Richter

"Blauer Korsar"

"Land in Sicht!", rief Capitano Fernandes.
Die Mannschaft lief kreuz und quer auf dem Deck umher.
Trotz des mutmaßlichen Chaos, dass gerade herrschte, saß jeder Handgriff der Seeleute.
Alle bereiteten sich auf die Anlandung vor.
Nach einem Vierteljahr auf offener See, freuten sich die Besatzung, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Der Capitano gab dem Steuermann laute Anweisungen, damit das Schiff sicher in die Bucht einer kleinen Insel südöstlich von Caicos Islands einlief.
Kurz nachdem die ersten Männer mit der Schaluppe an Land gegangen waren, wurde die Piratenflagge in den Sand gerammt.
Die Insel wurde von Diego Fernandes Männern in Besitz genommen.
So glaubten sie es zumindest.
Die Insel war ein grünes Paradies mit blauem Wasser, weißem Strand und zwischen dem Urwald leuchtete eine bunte Blütenpracht.
Dem Capitano gefiel das Eiland.
Sein Bauchgefühl sagte ihm jedoch, dass sie hier eine ganz besondere Überraschung erwartete.
Ansonsten unterschied sich die Insel kaum von den anderen karibischen Inseln.
Mit einem kleinen Beiboot kam ihnen Alfonso, der Schiffszimmermann hinterher.
Er besprach mit dem Capitano, dass er ein Leck im Schiffsrumpf entdeckt hatte.
Das war passiert, als sie beim Einfahren in die Bucht einen Felsen gestriffen haben.
Der Zimmermann hatte das Leck vorerst provisorisch verschlossen.
Bei ruhiger See bestand im Moment keine Gefahr für das Schiff, aber sobald sich die Wellen höher auftürmen, könnten die Frachträume voll Wasser laufen.
Der Capitano dankte ihm für diese Meldung.
Er befahl einigen Leuten für den Zimmermann einen geeigneten Baum zu schlagen, aus dem dieser Bretter herstellen konnte.
Das frisch geschlagene Holz war noch feucht und würde die schadhafte Stelle nicht nur überdecken, sondern schmiegte sich gut auf den alten Brettern an.
Mit gewonnenem Baumharz würden sie die reparierte Stelle zusätzlich versiegeln.
Zwar dauerte diese Reparatur, aber sie hatten alle Zeit der Welt.
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Alfonso holte sich seine Werkzeuge von Bord und zog mit einer Handvoll Männer in den Urwald.
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Bevor die abendliche Dämmerung begann, wollte der Capitano mit den restlichen Männern die Insel erkunden.
Sie brauchten unbedingt Früchte und frisches Wasser.
So durchstreiften sie die Insel in verschiedene Richtungen.
Ihr Marsch wurde vom Kreischen der Papageien begleitet.
Ein Totenkopfaffe machte sich einen Jux, in dem er immer auf die Männer zusteuerte und versuchte, ihnen den Dreispitz, ihre Kopfbedeckung zu stehlen.
"Er ist nicht anders als wir Piraten", grinste Fernandes, "er betrachtet uns als seine Beute."
"Er hat ja auch ein Totenkopfgesicht!"
Trotz der Attacken waren die Männer dem kleinen Affen in keiner Weise böse.
Belustigt zogen sie weiter ins Innere der Insel.
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Das gesamte Treiben der Ankömmlinge wurde von zwei Männern, die sich im Verborgenen hielten, genauestens beobachtet.
Nachdem sie genügend Informationen gesammelt hatten, zogen sie sich genauso unauffällig wie sie gekommen waren wieder in ihre "Festung" zurück.
Ein blonder Hüne von ca. zwei Meter Größe erwartete ungeduldig die Kundschafter.
"Commander, es ist ein jämmerlicher Haufen Piraten, die in der Bucht angelandet sind. Ihr Capitano ist Diego Fernandes.", trat einer der Männer auf ihn zu.
"Kann mich nicht erinnern, dass ich jemals in meinem Leben irgendwelchen Seemannsgarn über einen Capitano Fernandes gehört hätte. Die großen Namen sind alle nicht mehr am Leben."
Der Kundschafter lachte, was den Hünen entzürnte.
"Was nützt uns unsere Beute hier auf der Insel, wenn wir kein Schiff mehr haben, es ans Festland zu bringen."
"Dann entern wir den Kahn, eine günstigere Gelegenheit wird es nicht gleich wieder geben.", erwiderte einer der Kundschafter.
"Jeremy, wir sind gerade mal sechs Männer. Ich schätze mal grob, dass auf diesem Seelenverkäufer in der Bucht mindestens 15 Mann ihren Beitrag leisten. Ich denke, das ist für uns keine rosige Ausgangslage."
"Es gibt immer welche, die schnell die Seite wechseln, wenn es brenzlig wird oder falls der Kapitän ein Unmensch ist."
"Wie damals unser Kapitän? Der hängt noch immer in dem Baumwipfel und hütet die alte Schatzkarte. Der Teufel allein weiß wie er dort hochgekommen ist, bevor ihn eine Kugel das Licht ausgeblasen hat. Keiner ist von uns ist bisher diesen Baum hochgekommen. Verdammt noch einmal."
"Und in seiner Jackentasche befindet sich noch immer der Plan, wo er dieses goldene Geschmeide der Azteken versteckt hat.", knurrte ein Dritter.
Darauf der Hüne, "Pit, auch ich kenne das Versteck. Ihr hättet euch doch aus reiner Gier schon alle gegenseitig umgebracht, wenn ich euch die Stelle verraten hätte. Euer Unwissen ist meine Lebensversicherung und so bleibt es vorerst."
Das Gespräch war beendet.
Die kleine Truppe, die auf der Insel ihr einsames Dasein fristete, gehörte einst zur Besatzung des Freibeuterschiffes "Blauer Korsar", welches seine Prise (Beute) an die englischen Krone ablieferte.
"Blauer Korsar" war zu seiner Zeit auf Jagd nach einer spanischen Caravelle, die Aztekengold nach Europa brachte.
Das spanische Schiff wurde geentert und anschließend mit Mann und Maus versenkt.
Jedoch hatte "Blauer Korsar" im Gefecht ebenfalls erheblichen Schaden erlitten, war schwer getroffen und die Mannschaft stark dezimiert wurden.
Um dem Untergang zu entgehen, ließ es der Kapitän in der Bucht dieser Insel ankern.
Da die Reparatur des Seglers längere Zeit beanspruchen sollte, der Proviant an Rum, Dörrfleisch, Gemüse und Zwieback gefährlich zur Neige ging, meuterte ein Großteil der Mannschaft.
Die Getreuen flohen mit dem Kapitän in einer Nacht- und Nebelaktion samt des Aztekenschatzes ins Innere der Insel.
Der Kapitän und der blonde Hüne versteckten diesen Schatz pö a pö in einer Felsgrotte.
Von dem Versteck fertigte der Kapitän eine Karte an, die er auf sein Taschentuch zeichnete, dass er stets bei sich trug.
Da der Kapitän ebenfalls einsah, dass die Lage für sich und die ihm treu ergebenen Männer gefährlich war, beschloss er sein Schiff, "Blauer Korsar" samt der Meuterer in der Bucht zu versenken.
In dunkler, mondloser Nacht ruderte er zum Schiff und zündete das Schießpulver an.
Das gab ein ordentliches Feuerwerk, als sein Schiff lichterloh niederbrannte.
Seine treu ergebenen Männer sahen fassungslos mit an wie "Blauer Korsar" in der Bucht versank.
Sie waren von jeder Chance auf eine baldige Heimkehr abgeschnitten.
Es konnte Monate, wenn nicht Jahre dauern, ehe überhaupt ein Schiff diese Insel ansteuerte.
Es kam wie es kommen musste, die ehemals treuen Männer opportunierten ebenfalls gegen den Kapitän.
Die Gefahr ahnend floh er ins Innere der Insel.
Bei seiner Verfolgung kletterte er dank einer herabhängenden Liane auf den Gipfel eines mächtigen Baumes.
Doch das half ihm nichts.
Ein wohl gezielter Schuss aus einer Muskete bereitete dem Kapitän ein jähes Ende.
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Unter den kräftigen Schlägen, die die Vögel im Dschungel verstummen ließ, fiel der mächtige Baum krachend zu Boden.
"Ich brauche einige gute Bretter.", sprach der Zimmermann.
Beim inspizieren des Baumwipfels, schrie er vor Schreck auf.
Ein menschliches Skelett, zwischen Ästen und Blätter verfangen, lag vor ihm.
Er trat vorsichtig heran und entnahm ihm eine Gürteltasche, die ein Feuerzeug, Pistolenkugeln und ein Stofftaschentuch enthielt, auf dass mit Farbe die Oberfläche der Insel aufgezeichnet war.
An einer Stelle war ein großes rotes Kreuz.
"Seht mal alle her, was ich hier habe. Eine Karte!"
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Nachdem Fernandes Männer wieder am Strand eintrafen, um ihre Mitbringsel; Früchte, Holzbretter und Wasservorräte auf die Schaluppe zu laden, übergab der Zimmermann Capitano Fernandes die Tasche, die er dem Skelett abgenommen hatte.
Die sterblichen Überreste des Toten hatten die Männer vor Ort würdig begraben.
"Alfonso, du bist ein Pfundskerl", lobte ihn der Capitano. "Ich habe noch keinen Tag bereut, dass ich dich an Bord aufgenommen habe. Du hast zwar von der Seefahrt keinen blassen Schimmer, aber du hälst den alten Kasten in Schuss und daher teile ich meine Beute gern mit dir."
Wie ein Diener verneigte sich der so Gelobte.
Fernandes sollte mit seinem ersten Eindruck von der Insel Recht behalten, sie barg etwas ganz besonderes.
"Es könnte sich um eine Schatzkarte handeln. Immerhin liegt die Insel auf der Hauptroute zwischen Mexiko und der iberischen Halbinsel. Morgen wollen wir der Sache nachgehen. Für heute ist es bereits zu spät. Lasst uns heute noch die Vorräte an Bord bringen. Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl lüften wir das Geheimnis der Karte."
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"Commander, die Piraten haben die Schatzkarte", stürmte Pit in die Blockhütte ihrer "Festung", in der sie es sich eingerichtet hatten.
"Ich konnte sie aus meinem Versteck heraus belauschen und hatte gehört, dass sie morgen nach dem Schatz suchen wollen."
"Das ist kein Beinbruch! Ich hatte mir auch ein paar Gedanken zurecht gesponnen", erwiderte der Hüne. "Lasst sie ruhig den Schatz auffinden und für uns bergen. Sie werden so aus dem Häuschen sein, dass sie alle Sicherheitsmaßnahmen außer acht lassen. Keinen von ihnen wird es auf dem Schiff halten und dann entern wir es."
Commander, du bist einfach genial!"
"Was denkst du, warum ich unter dem Alten der 1. Offizier war?"
"Was machen wir aber mit Fernandes Männern?"
"Ich bin mir sicher, dass sie lieber unter unserer Flagge segeln werden, als auf dem Eiland zu versauern."
Die Männer jubelten.
Man besprach in Folge grob den Plan.
Wenn der größte Teil der Piraten morgen an Land kommt, würden sie mit ihrem Floß zum Schiff rudern, um es zu übernehmen.
Nennenswerten Widerstand erwartete der Commander nicht.
Später dann, wenn die Männer mit dem Aztekenschatz zu Schiff zurückgekehrten, sollten sie eine Überraschung erleben.
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Der nächste Tag lief genauso ab wie der Commander es vorher gesehen hatte.
Fernandes Mannschaft ruderte zur Insel und die von der Insel kommenden schickten sich an, dass Piratenschiff zu kassieren.
Die Mannschaft des blonden Hünen hatte die "Santa Anna" mit ihrem Floß innerhalb kürzester Zeit erreicht.
Fast lautlos kamen sie an Bord.
Capitano Fernandes hatte nur eine Mann als Wachposten zurückgelassen, der sich ohne Gegenwehr festsetzen ließ.
So konnten die sechs Männer in aller Ruhe abwarten, bis die Piraten zurückgekehrten.
Der Commander inspizierte derweil das übernommene Schiff und befahl die Reparatur sämtlicher Schadstellen.
Von der Sache war das Schiff einsatzbereit, nur dass er es mit den wenigen Leuten, die er befehligte unmöglich manövrieren konnte.
Er brauchte unbedingt Fernandes Mannschaft.
Ihm war klar, dass er Überzeugungsarbeit leisten musste, damit sie die Seite wechselten.
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Die Szenerie glich einem Freudentaumel, als Fernandes Mannschaft in die Grotte einstiegen, die den Aztekenschatz beherbergte.
"Gold, Geschmeide und prunkvolles Geschirr in Hülle und Fülle", jubelte die Menge. "Wir sind reich!"
Die Männer warfen Edelsteine in die Höhe und ließen diese auf sich niederregnen.
Die Freude kannte keine Grenzen.
Diego Fernandes war zufrieden.
Besser hätte es für ihn nicht laufen können.
Mit dieser überraschenden Wendung der eigentlich verkorksten Kaperfahrt konnte er kaum rechnen.
Dennoch mahnte er seine Männer zur Vernunft, ehe es erst Streitereien um die Aufteilung des Schatzes gab.
Er befahl den Schatz zügig an Bord zu bringen.
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Die Schaluppe erreichte das Piratenschiff.
"Paolo, lass die Leitern herunter!", dröhnte die laute Stimme des Capitanos.
"Ich denke euer Kommando endet hier", erwiderte der Commander, der über die Reling blickte und seine Pistole auf Diegos Brust richtete.
Die Männer auf der Schaluppe ergriffen die Waffen.
"Und ich denke, ihr irrt euch gewaltig.", entgegnete Diego Fernandes.
Der blonde Hüne schüttelte den Kopf und wies auf einen seiner Leute, der mit einem schwenkbare Bordgeschütz auf den Rumpf der Schaluppe zielte.
Diego hob die Hand, sodass seine Männer die Waffen sinken ließen.
Er sah wohl ein, dass er die schlechteren Karten in der Hand hielt.
Für Diego bestätigte sich an diesem Tag zum zweiten Mal, dass diese Insel für Überraschungen gut war.
"Mit wem habe ich die Ehre?", fragte er den Hünen trotzig.
"Oh, bitte entschuldigt mir den Fauxpas. Ich bin Commander Murdock, der erste Offizier von "Blauer Korsar". Ich habe mir erlaubt euer Schiff zu entern. Doch jetzt kommt doch bitte an Bord Capitano."
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Hintereinander kletterten Fernandes Männer an Bord.
Oben angelangt übergaben sie die Waffen.
Die mit dem Aztekenschatz gefüllten Leinen wurden ebenfalls abgeliefert.
Murdock postierte sich vor den Gefangenen.
"Meine Herren, ich überlasse euch die Wahl unter meinem Kommando zu segeln oder auf der Insel zu bleiben. Wir sind Freibeuter mit einem Kaperbrief, ausgestellt von der englischen Krone. Wir liefern jede Prise ab. Dafür erhalten wir ein Viertel des Anteils."
"Unter meinem Kommando behalten wir alles.", knurrte Fernandes.
"Dafür seid ihr Geächtete und werdet als solche gehängt, falls ihr aufgebracht werdet. Der Kaperbrief ist also eine Art Lebensversicherung. Außerdem erhalten Seemänner im Alter ein Ruhesalär aus einem Fond."
Diegos Männer nickten sich zu und wechselten die Seite.
Als der Capitano bemerkte, dass er auf verlorenem Posten stand, reichte er Murdock die Hand.
"Kapitän, ich bin einverstanden!"
"Commander Fernandes, willkommen an Bord", strahlte der Hüne. "Ich hatte von euch keine andere Entscheidung erwartet."
Der neue Commander wandte sich an die Mannschaft.
"Alles auf die Plätze, die Hauptsegel setzen! Unser neuer Kurs ist England. Gott schütze den König."
Beide Männer sahen vom Achterdeck aus zu wie die "Santa Anna" sanft aus der Bucht auf die offene See glitt.

© Jens Richter im Februar 2024

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Jens Richter).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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