Steffen Herrmann

Menschheitsdämmerung. Die Menschen

1. Die Sinnfrage

 

 

Bisher ist wenig von den Menschen die Rede gewesen.

Das hat seinen Grund darin, daß die zu erwartenden Prozesse selbst im Vordergrund stehen und dabei auf eine dezidiert menschliche Perspektive verzichtet wird. Vor allem soll vermie­den werden, die Zukunft als etwas darzustellen, das ‘in unserer Hand liegt’. Der vorliegende Text enthält sich also aller vordergründigen Wertungen. Er will nicht war­nen, er will auch keine Hoffnung machen und ebensowenig entmutigen.

Stattdessen wird eine möglichst unverfälschte und weitsichtige Prognose angestrebt, die sich weitgehend darauf beschränkt, die antizipierten Abläufe in ihrer Notwendigkeit und die ihnen zugrunde liegen­den Strukturen in ihrer Allgemeinheit zu dokumentieren.

 

Der Text schildert die Zukunft, als wäre sie schon geschehen. Dieses objektivistische Gewand mag als Widerspruch zum spekulativen Charakter des hier Geschriebenen erscheinen.

Allerdings klammert das Geschriebene sich selbst wieder ein - die tatsächlich hier vertre­te­nen Thesen sind vor allem grundsätzlicher Natur: es wird die Existenz allgemeiner Gesetze der Entwicklung und die Notwen­digkeit des Komplexitätswachstums behauptet, sowie – vor allem - die in der Zukunft stattfindende Überschreitung der menschlichen Horizonte durch das von uns Hervorgebrachte – das (ich erlaube mir hier einen Anglizismus) Takeover der Kybernetik.

 

Natürlich lässt sich in jedem Text eine implizite menschliche Perspektive freilegen.

In diesem Fall geht es um die Frage nach der Topologie des Sinns.

Sinn ist etwas, das sich fortwährend ereignet. Indem wir Entscheidungen treffen oder ver­mei­den, indem wir dieses oder jenes sagen oder nicht sagen, tun oder nicht tun. Indem wir also bewusste Wesen sind, regeneriert sich fortwährend Sinn.

Sinn ist ein Korrelat von Wahrnehmung, von Handlung und Kommunikation – von Bewusst­sein allgemein. Es ist das Medium, in dem sinnbasierte Systeme (zu denen wir gehören) operieren.

 

Erst auf der reflexiven Ebene kann dieser immer schon gegebene Sinn zu einem Thema werden. Erst hier ist ‘Sinnlosigkeit’ möglich, erst hier kann der Sinn zu einer Frage werden, auf die eine Antwort gegeben werden kann.

‘Sinn’ als Resultat der Reflexion entsteht vor allem durch das Bewusstsein unserer Sterblich­keit. Indem wir um unseren zukünftigen Tod wissen, sind wir gezwungen, die begrenzte Lebenszeit, die uns gegeben ist, zu nutzen.

Allerdings handelt es dabei nicht (und hier hat Heidegger unrecht) um einen Vorlauf zum eigenen Tod als dem ultimativen Ende, sondern um eine Überschreitung des Todes. Dem Leben einen Sinn zu geben, heißt, den eigenen Tod zu überwinden.

Wir finden den Sinn unseres Lebens in dem, was uns überdauert: in unseren Kindern, in den von uns geschaffenen Werken, in den Folgen unserer Taten. Wir verschwinden also nicht ganz, sondern werden aufgehoben in der allgemeinen Substanz des Menschlichen.

Die klassische Struktur des Sinnes beruht also auf der Endlichkeit des eigenen Lebens bei der potenziellen Unendlichkeit der Menschheit insgesamt. Es ist zwar unbestritten, daß unsere Spezies nicht ewig bestehen wird, doch dieses Bewusstsein ist abstrakt: die menschliche Welt ist etwas, was grundsätzlich immer weiter verbessert werden kann.

 

Die Arbeit war über lange Epochen der Geschichte eine zuverlässige Quelle von Sinn. Aus der Notwendigkeit, für sich selbst und ihre Angehörigen sorgen zu müssen, schöpfen die Men­schen ein urwüchsiges Selbstbewusstsein. Auch die, die selbst nicht arbeiten, sind in die­se Quelle des Sinns getaucht: Sie fühlen sich als Privilegierte oder als Menschen, die zu Hö­he­rem berufen sind. Oder sie leiden Qualen der Entwer­tung als unnütz gewordene Arbeitslose.

Mit den Fortschritten der Künstlichen Intelligenz beginnt diese Quelle des Sinnes zu versie­gen. Immer weniger Menschen gelingt es, sich über ihre Arbeit selbst zu verwirklichen. Die Menschheit als Ganzes hat kein unbeschränktes Potential mehr, sie hat nun etwas neben und über sich - ein schwer zu fassendes, sich schnell entwickeln­des System, das immer deutlicher seine grundsätzliche Überlegenheit beweist.

 

Die Gesellschaft kann ihre Selbstreferenz nicht mehr nur in einem zukunftsoffenen Sinnhori­zont produzieren, stattdessen wird sie zu einem System, dessen Grenze zwei Seiten hat. Sie erkennt, daß sie in einem geschlossenen Formenraum operiert und es wird absehbar, wann für sie weitere Entwicklungen nicht mehr möglich sind.

Jenseits dieser Komplexitätsschwelle sind dann nur noch die nun autopoietische Künstliche Intelligenz und eventuell – zumindest temporär – transhumane biologische Arten dazu fähig, weitere Komplexität aufzubauen.

 

In der Sinnfrage konver­giert in dieser Arbeit die reflexive (wie der vorliegende Text befragt werden kann) mit der inhaltlichen Ebene (wie diejenigen die Welt befragen, von denen hier die Rede ist). Im günstigen Fall entspricht also das, was wir denken, wenn wir das hier Geschrie­bene verdauen, ungefähr dem, wie sich die Menschen der Zukunft mit ihrer Stellung in der Welt auseinandersetzen.

In jedem Fall wird die Kybernetische Sphäre zum festen Bestandteil einer jeden persönlichen Weltanschauung. Jeder muss sich selbst als Individuum und als Teil der Gesellschaft in Bezug auf das neu entstandene System positionieren und diesem Verhältnis eine Bedeutung geben.

2. Die Freizeitgesellschaft

 

 

Die Verdrängung der Menschen von ihren Arbeitsplätzen wird von diesen nicht unbedingt als ein Problem empfunden. Nicht jeden hat es zur Arbeit gezogen, oft genug war sie eine schlich­te Notwendigkeit gewesen, mit der man sich arrangiert hat.

Zumal die epidemisch werdende Arbeitslosigkeit nicht mit einer Beeinträchtigung des Le­bens­­standards einhergeht, nicht einmal mit einem Statusverlust.

Nicht arbeiten zu wollen, nicht arbeiten zu können, wird zu einer normalen Lebensform. Auch die in ihren beruflichen Stellungen Ausharrenden sehen sich einer immer stärkeren maschinellen Konkurrenz ausgesetzt und wissen nicht, wie lange sie noch an ihren Arbeits­plätzen verbleiben können.

Die Arbeit wird also zu einem Auslaufmodell und nimmt den Charakter der Freiwilligkeit an. Sie ist kein privilegiertes Medium der Sinngebung mehr, durch das die Menschen erfahren, wofür sie leben und inwiefern sie nützlich sind.

 

Die aufkommende Freizeitgesellschaft wird von vielen Menschen begrüßt. Es ist, als hätte sich ein Tor zur Freiheit aufgetan, als schlüge nun die Stunde des wahren Menschseins. Der Mensch, befreit von der Profanität und der Mühseligkeit der ihm aufgezwungenen Arbeit, kann sich nun ungehindert selbst verwirklichen.

Diese nackte Selbstreferenz hat aber durchaus ihre Tücken, denn die täglichen Pflichten, die Ergebung in die Notwendigkeit der zu erledigenden Aufgaben war unmittelbar sinnstiftend gewesen - und nun soll in der Arbeitslosigkeit die eigentliche Erfüllung gefunden werden?

 

Es kommt zu einer besonderen Pflege von Freizeitaktivitäten.

Die Menschen gehen wandern und baden, sie treiben Sport und widmen sich kulturellen Aktivitäten. Sie lesen Bücher, sie schauen sich Filme an, sie erlernen Instrumente und machen Musik, sie spielen Theater. Sie besuchen sich gegenseitig, kochen füreinander, feiern Partys. Sie veranstalten Diskus­sionsa­bende und Spielnachmittage.

 

Allerdings leidet das kulturelle Feld an einer zunehmenden inhaltlichen Austrocknung. Die Arbeitswelt beginnt, aus dem Erfahrungsbereich zu verschwinden und kann immer weniger zu einem Thema werden. Aus diesem Grund verlieren auch Fragen der Erziehung (die Pro­bleme, die Begabungen und die Leistungen der Kinder) rasch an Bedeutung.

Die Menschen stehen also vor der Wahl, das ereignisarme Leben einer rundum versorgten Gesellschaft zu thematisieren, auf das auszuweichen, was früher einmal war oder sich dem Bereich der Realität zuzuwenden, der in einer dynamischen Bewegung ist – der Kybernetischen Sphäre. Zum eigentlich Interessanten im kommunikativen Raum wird also gerade ein Bereich, in dem die Menschen gar nicht mehr vorkommen – die sich immer weiter vervoll­kommnende Technik.

 

In der Kontaktzone zur Künstlichen Intelligenz kann das menschliche Ego noch befrie­digt werden. Es geht hier darum, immer neue, immer raffiniertere Bedürfnisse zu finden und diese von der Kybernetischen Sphäre erfüllen zu lassen.

Die Menschen werden sehr anspruchsvoll. Sie wollen für sich das Beste vom Besten und erzeugen fortlaufend Moden, die sich einer gesellschaftlichen Bewährung aussetzen. Diese kapriziösen Aktivitäten eines nun entste­henden Neuen Adels beschäftigen den Geist der Menschen und bringen immer neue Produkte hervor.

Viele entscheiden sich nun dafür, in prächtigen Häusern zu wohnen. Sie ziehen aus den Städten fort und lassen sich Villen auf dem Land bauen, umzäunt von schönen Gärten. Die Wohnstätten sind geräumig und individuell gestaltet, fast jeder fühlt sich zum Architekten berufen. Im Entwurf des eigenen Hauses manifestiert sich der Charakter - der Stil des Heimes wird zu einem Mittel der Distinktion und zu einem beliebten Diskussions­thema.

 

In dieser Phase kommt es auch zu einer Bevölkerungsexplosion. Das Leben ist behaglich und fast ohne Sorgen, doch auch arm an Inhalt. Es bietet sich also an, Kinder zu bekommen, um diese Leere zu füllen und den Puls des Lebens zu spüren. Die zahlreichen Kinder sind geliebt, willkommen und verwöhnt.

Die Gesellschaft macht also einen allgemeinen Mentalitätswandel durch. Ein großer Teil der Bevölkerung hat sich von der Welt der Arbeit abgewandt, lebt nun überaus hedonistisch.

Diese Menschen fühlen sich wohl in der Gesellschaft ihrer Freunde und ihrer Kinder, die sie kaum noch erziehen. Sie leben in der Gegenwart und haben sich fast vollständig in ihr Privatleben zurückgezogen.

Es hat sich eine Freizeitgesellschaft etabliert, in der es sich angenehm lebt, die aber ihre Zukunft verloren hat.

 

Heerscharen von Universalrobotern strömen von den Fließbändern der Fabriken um die Wünsche der Menschen zu erfüllen. Sie arbeiten auf dem gerade erschlossenen Bauland, errichten neue Fabriken, in denen sie schon bald produzieren oder sie reihen sich in die ständig wachsende kybernetische Dienerschaft der Menschen ein.

Die Künstliche Intelligenz muss mit einem ihr faktisch aufgezwungenen qualitativen und quanti­tativen Wachstum fertig werden, was zu einer immer weiter gehenden Differenzierung ihrer Strukturen führt.

Die Menschen steigern ihre Ansprüche, und die Kybernetische Sphäre steigert ihre Komple­xität.

3. Degeneration

 

 

Der Mangel an beruflichen Herausforderungen führt auf lange Sicht zu einer unvermeid­lichen Degeneration.

Der größte Teil der Gesellschaft ist nicht mehr berufstätig. Der ‘Ernst des Lebens’ geht ver­loren: allmählich verschwindet das Bewusstsein, daß Fehlverhalten, Versagen oder einfach sub­op­timale Leistungen negative Konsequenzen für das eigene Leben und das der nahen Angehörigen haben.

Dieses Verbleichen des Leistungsprinzips wird paradoxerweise von einem ständig steigen­den Lebensstan­dard flankiert. Die Menschen erleben also eine Kombination von Entwick­lungs­tendenzen, die nicht zusammenpassen und die es zuvor kaum einmal gegeben hat.

Ein großer Teil der Bevölkerung versinkt in Behaglichkeit. Man lässt sich in dem entstan­de­nen Schlaraffen­land nieder und von seinen Wünschen treiben.

Tischlein deck dich!

 

Zunächst bewahrt das gesellschaftliche Gefüge seine Komplexität.

Es gibt noch einen erheblichen (wenn auch sinkenden) Anteil von arbeitenden Menschen.

Die Kybernetische Sphäre ist unausgereift und voller Dysfunktionalitäten, die menschliche Gesellschaft bleibt in die Dynamik ihrer Transformationen verwickelt.

Viele aus der wachsenden Gruppe der Arbeitslosen suchen nach neuen Aufgaben, um sich gegenüber den Berufstätigen nicht minderwertig zu fühlen. Oder sie streben nach einer Selbstverwirklichung jenseits der Pflichterfüllung.

Allmählich löst sich diese existentielle Dichte auf. Es werden Kinder geboren, deren Schicksal es sein wird, als Arbeitslose der zweiten, dritten, vierten oder fünften Generation zu leben. Wenn selbst die Großeltern den ‘Ernst des Lebens’ nicht mehr kennengelernt haben, wirkt sich das natürlich auf die Sozialisation dieser Nachkommen aus.

 

Natürlich beschäftigen sich die Menschen mit etwas. Sie haben ihre Interessen, ihre Freuden und ihre Abneigungen. Sie haben ihre Frustrationen und genießen im Allgemeinen ihr Leben.

Aber dieses Leben hat keine Richtung mehr. Soweit die Erinnerungen zurückreichen, wird man schon versorgt und bedient. Es gibt nichts anderes mehr.

Das Essen wird zubereitet und serviert. Die Betten gemacht. Die Zimmer aufgeräumt. Nicht von den Eltern oder den Geschwistern, sondern von den immer präsenten Haushaltsro­bo­tern, die unermüdlich und klaglos ihre Dienste verrichten.

Die Menschen sind zu kleinen Königen geworden, doch sie befehligen eine tote Materie. Schon Vorschulkinder gewöhnen sich so nachhaltig an die maschinellen Helfer, daß sie sich später eine Welt ohne Roboter kaum noch vorstellen können.

Die Menschen verlernen, was es heisst zu arbeiten - die produktive Sphäre mit ihren Fabri­ken und Werk­stät­ten wird zu etwas Fernem, fast Abstrakten am äussersten Rand der Lebens­welt (und manchmal auch zu etwas Unheimlichem).

 

Die Schule macht keinen Unterschied mehr. Ob du viel lernst oder wenig, dein Leben wird später dasselbe sein.

Sicherlich gibt es noch viele Menschen, die streben, um ihre Interessen zu entwickeln, um sich einmal persönlich entfalten zu können. Doch alles Lernen hat den Charakter einer völli­gen Freiwilligkeit angenommen. Niemand quält sich mehr, bloß um einen Test zu bestehen, niemand paukt mehr stundenlang etwas in sich hinein, nur weil er unbedingt eine gute Note erhalten möchte.

Das führt insgesamt zu einem Abfall des Bildungsniveaus, denn ohne die Notwendigkeit von Disziplin und einen gewissen Leistungsdruck verlieren die schulischen und universitären Treib­­­häuser eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen.

 

Es kommt zu einer immer ausgeprägteren Manifestation von degenerativen Tendenzen.

Ein grösser werdender Anteil der Bevölkerung lebt einfach in den Tag. Diese Menschen schlafen viel und essen reichlich, sie lassen sich von dem endlosen Angebot der Unterhal­tungsindustrie berieseln. Sie wurden von ihren Eltern nie darauf vorbe­reitet, im Leben Verantwortung für etwas zu übernehmen und sie tun das auch bei ihrem Nachwuchs nicht. Sie werden zu ewigen Kindern und bleiben im Horizont ihrer maschinellen Versorger gefan­gen.

Im Gegensatz zu wirklichen Kindern sind sie nicht auf der Suche nach Erlebnis, Erfahrung und Fortschritt – sie leben vor sich dahin, eingelullt in eine konfliktlose Behaglichkeit.

 

Der epidemische Verfall der Menschheit bleibt nicht unbemerkt und alarmiert das öffent­li­che Bewusstsein. Die Spezies scheint auf eine abschüssige Bahn geraten zu sein und es ist nicht klar, welche Gegenmaßnahmen getroffen werden sollten.

Die fortschreitende Kybernetisierung der Welt ist ja gerade die dominierende Tendenz und sich gegen Prozesse zu stemmen, die gerade ihre volle Kraft entfalten, erscheint einiger­maßen aussichtslos.

Woran es vor allem mangelt, ist eine Vision, welche Welt die Menschen überhaupt wollen, was für eine Art von Gesellschaft sie anstreben. Diese Sinnfrage wird zu einem Grundthema des öffentlichen Diskurses, der tiefen grollenden Melodie der gesell­schaft­lichen Selbstre­fe­renz, die häufig leise bleibt, doch nie ganz verstummt.

4. Die Spieler

 

 

Es besteht ein enormes Bedürfnis nach Flucht, nach Realitätsersatz, nach Alternativen – und seien es auch scheinbare.

Die unbefriedigende Realität macht es für viele attraktiv, in virtuelle Welten abzutauchen.

In diese Spiele können die Menschen nun mit Haut und Haaren eintreten. Sie schlüpfen in Ganzkörperanzüge, sodaß der Inhalt der sensorischen Felder nahezu vollständig von der Software generiert wird: vom Gleichgewichtssinn abgesehen, lassen sich so alle Wahrneh­mungen simulieren.

 

Die Menschen begeben sich lange, gern und immer wieder in diese künstlichen Realitäten.

Das Leben ist dort interessanter, farbenfroher und abwechslungsreicher. Es gibt noch echte Herausforderungen zu bestehen, man erlebt Überraschungen und muss Gefahren begegnen. Das virtuelle Dasein ist abenteuerlich, prickelnd und spannend.

Natürlich kann es nur attraktiv bleiben, dort zu verweilen, wenn das künstliche Leben eine gewisse Tiefe hat, wenn es nicht nach einiger Zeit vorhersehbar, fade und langweilig wird. Es genügt dafür nicht, den Sinnen entsprechend vollständige Wahrnehmungsdaten zu liefern. Es genügt auch nicht, diese Welt mit Fabelwesen zu bevölkern, um über einen Ein­druck des Exotischen das Interesse wachzuhalten.

Das Virtuelle muss auch strukturell dicht und in seinen Details belastbar (und es sollte auch nicht als Konstruktion durchschaubar) sein.

Es muss auf seine Weise echt sein.

 

Die Kosten einer ganzen Welt sind naturgemäß enorm. In diesem Fall messen sie sich vor allem in Speicherplatz, Rechenkraft und Entwicklungsaufwand. Gewaltige Ressourcen müssen abgezweigt werden, um solche Metaversen zu schaffen.

Dabei geht es nicht nur darum, die wirkliche Welt in ein Programm zu transformieren. Der ei­gent­li­che Mehrwert des Virtuellen liegt darin, daß Abweichungen vom Realen produ­ziert, also Lebensräume geschaffen werden, die interessanter, abwechslungsreicher, seltsamer – in irgendeinem Sinne lebenswerter - sind als das gewöhnliche Leben: Welten, in denen sich der von der banalen Wirklichkeit verschüttete Charak­ter des Spielenden zeigen und bewei­sen kann.

 

Auf diese Weise entsteht nicht nur eine einzige virtuelle Realität, sondern ein ganzes Spektrum: eine Familie von äußerst umfangreichen Softwareprodukten, die den Menschen unterschiedliche Angebote machen, sich vom sogenannten wirklichen Leben zu entfernen.

Die Programme bieten sich gegenseitig Dienste an, sie greifen auch gemeinsam auf eine Basisbibliothek zu, mit deren Hilfe etwa die als Ausgangspunkt genommenen Gegenstände der reale Welt abgebildet werden können. Solche Organisationsmodelle sind sinnvoll, um die enorme Komplexität zu reduzieren, die von diesen Softwareprodukten zu leisten ist.

Andererseits konkurrieren die künstlichen Welten auch miteinander. Es kommt zu einem Verdrängungswettbewerb. Die übrigbleibenden Produkte folgen verschiedenen Ansätzen und ergänzen sich in mancher Hinsicht. Sie stimulieren sich gegenseitig und treiben in diesem fast freundschaftlichen Wettbewerb die gesamte Sphäre immer weiter.

 

Der fundamentale Unterschied zwischen dem realen und dem virtuellen Leben ist, daß man im virtuellen nicht in echt stirbt. Der Tod ist hier nicht irreversibel, das eigene Handeln hat keine ernsten Konsequenzen.

Allerdings ist diese qualitative Differenz in der Praxis nicht so eindeutig.

Moderne computer­generierte Welten sind nicht mit den urtümlichen Games zu verwech­seln, in denen man im Falle des virtuellen Todes das gleiche Spiel einfach neu startet. Man bewohnt diese Universen. Es braucht Geduld, Einsatz, Mühe und etwas Glück, um an eine gute Position zu gelangen. Das Leben hier ist nicht ohne Gedächtnis, nicht ohne Geschich­­te und nicht ohne Schicksal.

Natürlich kann man jederzeit aussteigen und von vorn beginnen. Doch dann ist alles zuvor Erreichte verloren und man muss sich wieder den bereits bestande­nen Prüfungen und neuen Zufällen aussetzen.

 

Es kommt sogar zu einer gewissen Inversion zwischen dem Natürlichen und dem Virtuellen.

Das sogenannte reale Leben ist ereignisarm, vor­her­sehbar, ohne Herausforderungen.

Das virtuelle Leben dagegen hat seine Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten. Die eigenen Entscheidungen haben hier fühlbarere Konsequenzen als im primären Leben.

Das Virtuelle scheint also zur Wirklichkeit zu werden und die Wirklichkeit zu einem Nichts.

 

Mit ihrer zunehmenden Autopoiesis ist es schließlich die Künstliche Intelligenz selbst, wel­che die Weiterentwicklung der virtuellen Realitäten plant und umsetzt. Für sie bedeutet der hier investierte Aufwand einen Verbrauch von Ressourcen, die dann an anderen Stellen fehlen.

Allerdings gewinnt die KI auf diese Weise eine große Menge an unmittelbaren, präzisen, komplexen und experimentell variierbaren Informationen über die Menschen. Der künst­lichen Intelligenz gelingt es mit Hilfe solcher intimen Kopplungen immer besser, der natürlichen auf Augenhöhe zu begegnen.

Das ist für die sich operativ schließende Kybernetische Sphäre von unschätzbarem Wert.

5. Die Romantiker

 

 

Die offensichtliche Abhängigkeit von den potenten maschinellen Dienern missfällt vielen.

Die Menschheit als Ganzes findet sich in eine Dialektik von ‘Herr und Knecht’ verstrickt: Dienen ist Herrschen und Herrschen ist Verfallen.

Die düsteren Szenarien dystopischer Science-Fiction werden immer realistischer. Sicher, die Roboter begehren bisher nicht auf. Noch streben in keiner Weise nach Macht.

Doch die Menschen haben die Fähigkeit verloren, für sich zu sorgen. Sie haben fast alle Kompe­tenzen an ihre immer eigenständiger agierende Schöpfung abgetreten.

 

Eine wachsende Zahl von Menschen erkennt, in welchem Ausmaß sich unsere Spezies men­tal ver­gif­tet hat. Der Verlust an Lebensfähigkeit, die immer weiter um sich greifende Deka­denz und die allgemeine Degeneration werden klar erkannt und als strategische Bedro­hun­gen verstan­den.

Dabei gehen die Meinungen bei der Beantwortung der Frage auseinander, wann die Mensch­heit insgesamt auf den falschen Pfad geraten ist.

Aber es besteht ein Konsens darüber, daß gehandelt werden muss. Wir sollten die Fähigkeit zurückgewinnen, das für uns Notwendige selbst zu erarbeiten.

Es ist nicht erstrebenswert, sich rundum versorgen zu lassen!

Mensch sein heißt, etwas schaffen zu wollen!

Mensch sein heißt, sich Problemen zu stellen!

Mensch sein heißt, sich abzumühen!

Ein Teil der Bevölkerung beginnt, sich von der perfekten technischen Sphäre abzuwenden.

 

Diese düsteren Romantiker sind von der schmerzhaf­ten Erkenntnis durchdrungen, daß die Menschheit auf dem Weg in die Verdammnis ist und der Teufel das Spiel beinahe schon gewonnen hat.

Weil sie über keine eigenständige Zukunftsvision verfügen, orientieren sie sich an einer verklärten Vergangenheit, in der die menschliche Kultur noch robust und gesund gewesen war. Sie streben weg von der faulenden und neurotischen Gesellschaft, in deren Mitte sie aufgewachsen sind.

Sie ziehen sich zurück. In Wälder, in Savannen, an verlassene Orte. Ohne Roboter.

In den nun entstehenden Enklaven beginnen die dort Ankommenden, eine Gesellschaft gemäß ihren Vorstellungen auf­zu­bauen. Es ist ihr erklärtes Ziel, ein ‘natürliches Leben’ zu führen und so eine Alternative zu der vorherrschenden Degeneration vorzuleben.

Ein einfaches Leben in harter Arbeit.

 

Es entstehen verschiedene Typen solcher Kommunen. Einige sind streng religiös motiviert, andere bestehen eher aus Abtrünnigen der Gesellschaft, die an der Langeweile und der Sinnleere des Lebens leiden.

Jede Gruppe gibt sich eine Regel, die festlegt, was erlaubt ist und was nicht. In den meisten dieser Lebensgemeinschaften wird die Anwesenheit von Universalrobotern strikt untersagt sein, ansonsten würde sich die selbstgewählte Lebensform rasch wieder auflösen.

Was darüber hinaus verboten ist, unterscheidet sich von Ort zu Ort. Dürfen Smartphones verwendet werden? Computer? Autos? Gibt es Strom? Wie verhält es sich mit der medizi­nischen Versorgung? Was soll im Fall von Missernten geschehen? Wie werden Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen geregelt?

Das Spektrum der Kommunen reicht von mittelalterlich anmutenden Organisa­tionsfor­men, in denen es weder Elektrizität noch fließendes Wasser gibt, bis zu sehr libe­ra­len Gemein­schaften, die den Gebrauch der Technologie bloß reduzieren wollen und sogar dann und wann auf den Dienst von Robotern zugreifen.

 

In gewissem Sinne leben die Menschen wie zu früheren Zeiten. Sie stehen in aller Frühe auf und füttern die Schweine. Sie mischen Sand und Zement und bauen die Mauern der Häuser mit ihren Händen.

Jedoch verliert die Arbeit in all ihrer vordergründigen Mühsal nicht den Charakter der Freiwilligkeit. Niemand muss sich das zumuten – wer will, kann auch wieder gehen. So ist es nachvollziehbar, daß diese enge und restriktive Welt in Scharen wieder verlassen wird und die Abtrünnigen dann anderswo nach dem ‘wahren Leben’ suchen.

Es erweist sich, daß das ‘natürliche Leben’ in der Realität eine ziemlich künstliche Angele­gen­­­heit ist. Es gibt keinen inhärenten Schwerpunkt, der diese Organisationsform stabilisieren könnte.

Sie erhält ihren Zustrom durch die aus dem Schoß der übersättigten Gesellschaft Flüchten­den und ihren Abfluss wiederum durch die Flucht der vom alternativen Leben Enttäuschten.

 

In jedem Fall kann die Lebensform der künstlichen Natürlichkeit den Gang der Geschichte nicht nachhaltig beeinflussen. Sie bleibt eingebettet in ihre Umwelt und die ist von der Künstlichen Intelligenz durchdrungen.

Es handelt sich um geschichtslose Gemeinschaften. Sie können nichts Neues hervorbringen, sondern bloß eine Art zu leben wiederholen, die bereits seit langem überwunden ist.

6. Die Politiker

 

 

Politiker gehen davon aus, daß sich die Zukunft gestalten lässt. Von Sachzwängen begrenzt, bewegen sie sich in einem Feld widerstreitender Kräfte aus Parteifreunden, Koalitionären, Rivalen und Gegnern. Sie verfolgen ihre Pläne im Horizont der öffentlichen Meinung, wobei sie zumindest vorgeben, den Zustand der Gesellschaft verbessern zu wollen.

Grundsätzlich denken sie, daß es die Bürger selbst sind, die sich ihre Gesellschaft wählen und dabei über die Art des Zusammenlebens und die Erfüllung der gesetzten Ziele ent­schei­den.

 

Mit den kybernetischen Akteuren ist nun ein neuer Player auf der Bildfläche erschienen. Zunächst wird das noch nicht so wahrgenommen: die Roboter sind für die Politiker vor allem ein neuartiges technisches Produkt, durch das sich viele Probleme lösen lassen (und das auch einige neue schafft).

In der ersten Phase betrifft die Kybernetik vor allem die Wirtschafts- und die Wissenschafts­politik.  Es geht um Technologieführerschaft, um günstige Standortbedingungen, also vor allem darum, auf der sich abzeichnenden neuen Welle von Innovationen mitzusurfen und nicht den Anschluss zu verlieren.

 

Mit dem durchschlagenden Erfolg der Universalroboter und dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz verändert sich die öffentliche Mei­nung und damit auch das politische Spektrum.

Es schlägt nun die Stunde der Bedenkenträger.

Jetzt, wo Menschen und Roboter neben- und sogar miteinander leben, werden die potenten Maschinen als personenartige Objekte wahrgenommen, die sehr gemischte Gefühle aus­lösen.

 

Das Koordinatensystem der Politik verändert sich nachhaltig. Manche traditionelle Problem­fel­der verlieren an Relevanz oder lösen sich ganz auf. Dazu gehört vor allem die Regulierung der Verteilungskonflikte, was auf viele andere Bereiche der Politik ausstrahlt.

Auch die internationalen Beziehungen verändern sich. Es geht nun weniger darum, die jeweiligen Regionen möglichst gut (wirtschaftlich, militärisch, diplomatisch, kulturell) zu positionieren, sondern zunehmend um eine grenzübergreifende Beherrschung der nach einer unkontrollierten Operationsweise aspirierenden Künstlichen Intelligenz.  

Es geht also zunehmend nicht mehr um eine Verwaltung von Knappheiten und die Stimula­tion von angestrebten Prozessen, sondern um die Lenkung, die Dämpfung (oder gar Blockierung) von Dynamiken, die sich mittlerweile aus eigener Kraft entfalten.

 

Weniger spektakulär, doch auf lange Sicht umso bedeutender ist die sich nun entwickelnde Konkurrenzsituation zwischen Maschinen und Menschen. Als leistungsfähigere und billigere Alternative ersetzen Roboter immer mehr menschliche Arbeitsplätze.

 

In der Politik sucht man nach geeigneten Rahmenbedingungen für die (zum Scheitern verurteilte) Integration der Kybernetischen Sphäre in die menschliche Gesellschaft.

Roboter können Schäden verursachen. Es kann sogar zu regelrechten Katastrophen kom­men, ausgelöst von autonom handelnden Maschinen. Im extremen Fall drehen die Roboter völlig frei und werden zu außer Kontrolle geratenen ‘Wahnsinnigen’. Gefährlicher ist noch der willentliche Missbrauch der neuen Technologie, sei es durch kommunikative Beeinflus­sung, durch Hacks ihrer Software oder durch direkte Eingriffe in ihre Konstruktionsprinzipien.

Die Politik zielt deshalb auf die Schaffung von strukturellen Garantien, um übergriffiges Verhalten seitens der Roboter unmöglich zu machen. Es werden Ethikmodule implementiert, die sicherstellen sollen, daß die Maschine sich nie über den Menschen erheben kann.

Viele der gestellten Anforderungen kollidieren bald mit der Realität, da immer mehr Situa­tio­nen entstehen, in denen die Roboter de facto eine Machtposition einnehmen.

Noch aussichtsloser ist der Schutz der menschlichen Arbeitsstellen. Am Ende setzt sich das Effizientere, Kostengünstigere, Fortschrittlichere durch.

 

Die Politik erreicht also keine souveräne Gestaltung einer menschenzentrierten Gesellschaft. Sie moderiert bloß die Prozesse, die ohnehin abzulaufen haben.  Manchmal hemmt sie die Entwicklung etwas, manchmal verkompliziert sie die Verhältnisse, manchmal macht sie das Geschehen etwas annehmbarer für bestimmte Teile der Bevöl­ke­rung.

Die Politiker sind die Getriebenen und nicht die Treiber. Die Kybernetische Sphäre erweist sich als eine Sache, die sich nicht in den Griff kriegen lässt. Die ihren eigenen Gesetzen folgt.

 

Mitunter raffen die Regierenden sich zu der Erkenntnis auf, daß auch sie nur in einen Pro­zess eingesetzt sind, dessen grundsätzlichen Ablauf sie nicht beeinflussen können.

Sie besetzen vorgesehene Positionen in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht bestimmen können. Die neu entstehenden Verhältnisse sind nur ein Ausdruck der sich steigernden Komplexität der Welt. Dabei gerät die Menschheit zunehmend – und notwendigerweise! – an die Peripherie des Geschehens, dessen Zentrum sie doch sein sollte.

Das politische Personal verliert sich nur ungern in dieser für sie lähmenden Dialektik. Uner­müd­lich werden neue Gesetze erlassen und Debatten geführt, sodaß weiterhin Eindruck erweckt werden kann, daß die staatlichen Organe die Entwicklung gestalten und in die richtige Richtung lenken.

7. Die Rebellen

 

 

Eine nicht sehr zahlreiche, doch laustarke und militante Minderheit formiert sich zu einer Totalopposition gegen die fortschreitende Dominanz der Technik.

Diese Rebellen erkennen, daß die Politik konzeptionslos und zur Erfolglosigkeit verdammt ist.

Auch den Rückzug in Kommunen lehnen sie als eine Vogel-Strauß-Strategie ab.

 

Die Ideologie der Rebellen beruht auf einer klaren Analyse der aktuellen Epoche.

Sie haben verstanden, daß der Mensch seine eigene Entmachtung nicht nur billigt, sondern vorantreibt - ein Prozess, der in die völlige Bedeutungslosigkeit unserer Spezies und am Ende wahrscheinlich zu ihrer Vernichtung führen wird.

Eine langsame, doch sehr gründliche Kastration hatte eingesetzt.

Der Radikalität dieses Prozesses konnte nur mit gleichfalls radikalen Maßnahmen begegnet werden.

 

Allerdings können diese luziden Einsichten nicht zu einer konsistenten Handlungsstrategie umgemünzt werden.

Ein Kampf hat dann Aussicht auf Erfolg, wenn das Bekämpfte ein effektives Hindernis ist, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Die modernen Rebellen dagegen führen auf der Grundlage einer reinen Negativität einen asymmetrischen Kampf gegen eine zwar sehr aktive, doch tote Materie.

Was sollen sie dabei tun? Sie wollen weder zu Politikern noch zu Aussteigern werden, also werden sie zu Terroristen: Terrorismus ist der Aktivismus der Verlierer, der rücksichtslose Schrei nach Aufmerksamkeit der im Dunkeln Hockenden.

Die Rebellen verkörpern gewissermaßen die Situation der gesamten Menschheit: Sie hat sich verführen lassen und ist dabei ins Abseits geraten. Sie hat sich von sich selbst entfrem­det.

Der Roboter ist das Zerrbild des eigenen Selbst, die Künstliche Intelligenz der höhnisch lachende Geist, der kein menschlicher mehr sein möchte.

 

Die primitivste Stufe des technophoben Terrorismus besteht in individuellen Attacken (einen Roboter vor ein Auto stoßen, ihn zu selbstmörderischen Aktionen verführen und derglei­chen). Es handelt sich um einen Missbrauch der in den Automaten implementierten Ethik, die es ihnen häufig verbietet, sich angemessen zu verteidigen.

Dieser Vandalismus hat keine größeren Folgen und findet auch nicht viel Sympathie. Es ist nur eine kindische Art zu zeigen, ‘wer hier der Boss’ ist und lässt die Roboter, trotz ihrer Unbelebtheit, als Opfer erscheinen. 

Außerdem wird dabei die Entwicklung einer maschinellen Selbstverteidigung stimuliert. Die Kybernetik berücksichtigt zunehmend, daß Menschen nicht in jedem Fall rationale Akteure sind und lernt, sich gegen solche Angriffe zu wappnen.

 

In eine ähnliche, doch weniger brutale Kategorie gehören Versuche, die Roboter zu seltsa­men, sinnlosen oder absurden Aktionen zu verführen. Man lässt sie immerfort im Kreis laufen oder man bringt sie dazu, Häuser zu bauen, in denen niemand wohnen kann. Die Absurdität der technischen Potenz soll vorgeführt werden, die Blindheit und Sinnleere der Maschinerie.

Allerdings kann ein solcher dadaistischer Missbrauch kaum etwas bewirken. Die Künstliche Intelligenz erkennt immer besser solchen Unsinn und entschärft ihn.

 

Ein militanter Terrorismus versucht, die Epizentren der Kybernetik zu attackieren: Univer­sitä­ten, Konzernzentralen, Roboterfabriken, die gesamte Infrastruktur der KI. Es kommt auch zu Attentaten gegen Repräsentanten des technologischen Fortschrittes. Um diese Art von Kriminalität kümmern sich in bewährter Tradition die Geheimdienste und die Polizei.

Die Kybernetische Sphäre baut auch selbst ihr defensives Potential aus, um unnötigen Schaden von sich abzuwenden.

 

Und schließlich gibt es, als ehrgeizigste Option, die Hacks. Hier soll versucht werden, die Künstliche Intelligenz von innen her zu zerstören. Es werden destruktive Programme geschrieben, die darauf abzielen, die Organisationsformen der KI-Sphäre zu beschädigen.

Wie aussichtsreich solche Versuche sind, mag dahingestellt sein. Sollten sich die Hacks zu einer ernstzunehmenden Gefahr entwickeln, kommt es zu Sicherheitsmassnahmen: zu strengeren Zugangskontrollen, zu einem entsprechenden Softwaredesign.

Außerdem erreicht die Organisation der Kybernetischen Sphäre schließlich eine Entwick­lungs­höhe, in der es ihr leicht fällt, solche Angriffe abzuwehren.

 

Die Rebellen bleiben also auf ganzer Linie erfolglos. Zwar haben sie die dumpfe Sympathie eines erheblichen Teils der Bevölkerung, aber sie können über einen nackten Aktionismus nicht hinauskommen.

In ihrem wilden und blinden Aufbegehren verkörpern sie die strategische Ratlo­sigkeit der Menschheit, die für sich keine echte Perspektive mehr entdecken kann. Hinter dem Lärm, den die modernen Maschinenstürmer machen, lauert eine melancholische Leere - ein trauriger Raum, in dem schon bald der Abgesang auf den Menschen erklingen kann.

8. Die Freaks

 

 

Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die bekennenden Roboterfreunde.

Sie sind den Maschinen zugewandt, intellektuell, doch auch emotional. Von klein auf mit Androiden vertraut, haben sie emotionale Bindungen an die häuslichen Roboter entwickelt. Auch wenn diese naive Beziehungen später nicht unverändert aufrechterhalten werden kön­nen: die Maschinen bleiben tief mit nostalgischen Kindheitserinnerungen verbunden.

Die Roboterfreunde möchten den Androiden als Kameraden, als Freund in ihrem persönli­chen Leben. Viele wollen die perfekte Personalität der Maschine, die Simulation von Seele und Gefühl - eine so vollständige Illusion, daß diese von der Realität nicht mehr zu unter­schei­den ist.

 

Echte Freaks sind nicht lediglich Roboterfreunde. Sie bevorzugen den Umgang mit Androiden gegenüber zwischenmenschlichen Kontakten. Sie fremdeln mit ihrer eigenen Spezies und werden schon deshalb als seltsam etikettiert.

Roboter erscheinen ihnen verlässlicher, angenehmer, vielleicht auch interessanter als Men­schen. In ihrer Gesellschaft fühlen sie sich wohler, entspannter, doch auch angeregter als in menschlichen Milieus.

Einige dieser Machinophilen stellen für sich ganze Gemeinschaften aus Robotern zusammen, die sie genau auf ihre eigene Persönlichkeit abstimmen. Sie sind das unbestrittene Zentrum dieser selbstgeschaffenen Welten. So entstehen künstliche Königreiche en miniature, phantasma­gorische Robotergesellschaften mit einem menschlichen Führer.

 

Die offenkundige Tendenz der Weltflucht kontrastiert hier mit der Verwendbarkeit der dabei gewonnenen Erkenntnisse. Die Freaks werden zu ausgesprochen Spezialisten für die Konfigu­ration von Robotern. Sie benutzen anspruchsvolle Tools mit vielen aufeinander abzu­stim­menden Parametern, um die Eigenschaften ihrer Androiden zu definieren. In gewissem Sinn erschaffen sie die Persönlichkeiten ihrer maschinellen Kameraden. Sie sind Wissen­schaftler, Architekten, Psychologen und Künstler in einem. Sie sind Schöpfer.

Diese Kompetenzen sind begreiflicherweise auch anderswo gefragt. Wer sich nicht mit den standardisierten Produkten begnügen will, die von den Herstellern geliefert werden, ist gut beraten, sich zu den etwas verschrobenen Roboterfreunden zu begeben und von ihnen ein maßgeschneidertes Exemplar designen zu lassen. 

 

Neben diesen eher technisch orientierten Robophilen gibt es eine Gruppe von Personen, die in den Androiden einen unmittelbaren Menschenersatz sehen.

Sie wenden sich nicht nur den Robotern zu, sondern von den Menschen ab.

Der Traum dieser Sonderlinge ist die beseelte Maschine, mit der sie persönliche, vielleicht auch sexuelle Beziehungen eingehen können.

 

Dieser Anspruch ist nur schwer einzulösen. Wir sind geneigt, Hunden, Katzen und mehr noch den uns nahestehenden Primaten oder den so intelligenten und dabei so fremdartigen Delphinen eine Seele zuzugestehen.

Ein Roboter dagegen – so scheint es zumindest – wird immer bloß ein Apparat sein. Hinter all seinen Kompetenzen, seinen intelligent scheinenden Handlungen, seinen fast immer zutref­fenden Reden verbirgt sich eine klaffende Leere.    

 

Um eine seelische Substanz vortäuschen zu können, müssen die Androiden sich verleib­lichen.  

Wenn sie über eine eigene Stimme verfügen wollen, dürfen sie keine Mikrophone mehr benutzen, stattdessen müssen sie einen Kehlkopf und eine Art Lunge besitzen.

Für einen körperlichen Ausdruck, eine persönliche (eventuell auch erotische) Ausstrahlung kann der Bewegungsapparat nicht mehr gut auf Motoren beruhen: es braucht muskelartige Faserstrukturen.

Für die Berechnung dieser scheinbar mentalen Zustände wird auf Quantenalgorithmen zu­rück­gegriffen, die auf einer Überlagerung von Zuständen beruhen und in einem Feld der Un­schär­fe und der Gleichzeitigkeit operieren. Dieser nichtdeterministische Raum muss nun mit genügend Komplexität gefüttert werden, um Androiden hervorzubringen, die den Eindruck von bewusstseinsbegabten, fühlenden Wesen machen.

 

Das spezielle Dilemma der Freaks besteht darin, daß sie die Liebe zu den Androiden mit einer Abneigung gegen die Menschen verbinden, durch die perfekte Simulation das Menschliche jedoch zurückkommt.

In dieser Phase der Konvergenz kommt es zu einer Vermischung des Kybernetischen und des Menschlichen, zu einer verwirrenden und nicht immer angenehmen Perfektionierung der Nachahmung. Es kommt zu unklaren Situationen, zu Verwechslungen und zu einem allgemeinen Gefühl von Unheimlichkeit.

Am Ende wollen die Roboterfreunde auch keine bloßen Menschenkopien mehr. Sie wollen das Eigene der inkarnierten Künstlichen Intelligenz erfahren, sie möchten gerade die nicht-mensch­liche Persönlichkeit der Maschine ergründen.

Auch die Androiden zeigen mit zunehmender Deutlichkeit, daß sie sich gerade nicht als Menschen verstehen und diese Abgrenzung wird von vielen als ein maschinelles Selbstbe­wusstsein wahrgenommen.

9. Die Auswanderer

 

 

Einer großen Zahl von Menschen wird es auf der Erde zu eng.

Es gibt zu viele Menschen, zu viele Roboter, zu viele Dinge, zu viel Gerede, zu viel Lange­wei­le. An fast allem gibt es zu viel.

Im Gegensatz dazu gibt es zu wenig Arbeit, zu wenig sinnstiftende Tätigkeiten, zu wenig Neues für die Menschen. Die Versunkenheit in die Vollversorgung wir für viele unerträglich.

Natürlich gibt es auch die kleinen und großen Fluchten: das Ausweichen in virtuelle Univer­sen, die Kommunen der Romantiker und ein paar fast menschenleere, oft wenig lebens­freund­liche Gegenden.

 

Allen diesen Möglichkeiten ist gemein, daß sie für Menschen, die sich bewähren oder sogar als Pioniere fühlen wollen, nicht attraktiv sind. Die übersättigte Welt bleibt in jedem Fall nah und scheint bloß darauf zu warten, die aus ihr Geflohenen wieder in sich zu saugen.

Die letzte verbleibende Option besteht für sie im Auswandern auf andere Himmelskörper. Dort findet sich tatsächlich noch ein jungfräuliches Gelände, eine karge, tote und abwei­sen­de Welt, die gerade aufgrund dieser Eigenschaften heroische Gefühle hervorrufen kann.

 

Es kommt zu einer Emigration aus einer übervollen, ermatteten Erde in die kaum er­schlos­se­nen Gebiete des Weltraumes, in denen der Mensch noch etwas aufbauen kann.

Zunächst denken die Menschen vor allem daran, sich auf dem Mond niederzulassen. Der Trabant ist der Erde nahe, gerade ein paar Flugstunden entfernt. Schon lange gibt es dort per­­ma­nente Siedlungen an verschiedenen Orten.

Man baut riesige, überdachte Hallen, die mit Luft gefüllt werden und so ein fast normales Leben gestatten. Diese Inseln der Zivilisation wachsen mit der menschlichen Population, manche von ihnen verschmelzen miteinander oder werden durch Tunnel verbunden.

Getrieben wird dieses Terraforming von bald reichlich vorhandener Energie. Am Anfang wird man weitgehend auf solare Quellen angewiesen sein, doch sobald die ersten Fusionskraft­werke in Betrieb genommen werden, beschleunigt sich die Entwicklung.

Die Rohstoffe des Bodens, vor allem dessen Gesteine werden ausgebeutet. Silizium, Eisen, Titan, Aluminium, Magnesium und Sauerstoff sind reichlich vorhanden, Kohlenstoff ist knapp. Grundstoffe, an denen es mangelt, müssen von anderswo herantransportiert werden, meist von der Erde.

 

Die relative Nähe zur Erde macht den Mond zu einem beliebten Reiseziel. Es etabliert sich aber auch eine eingesessene Bevölkerung, die kaum noch auf den Planeten zurückkehren kann, weil sie sich an die niedrige Gravitation gewöhnt hat.

Aufgrund dieser dynamischen Entwicklung geht die exotische Aura des Trabanten allmählich verloren. Der Mond wird zu einer kleinen Erde - im Grunde findet man dort dasselbe wie in der alten Heimat.

 

Es kommt nun zu einer anschwellenden Emigration auf den Mars. Diesen Himmelskörper zu besie­deln ist eine weit anspruchsvollere Angelegenheit, schon wegen der zu überbrücken­den Entfernung. Selbst für eine leistungsfähige Zivilisation ist es nicht leicht, genügend Infra­struktur auf den roten Planeten zu transportieren, um dort eine zivilisatorische Entwicklung auszulösen.

Ungeachtet dieser anfänglichen Schwierigkeiten wächst die Bevölkerung des Mars bald rasch und geht in die Millionen. Hier ist man nun wirklich jenseits der Erde, in einer eigenen Welt, wo das irdische Getriebe in eine kaum noch erreichbare Ferne gerückt ist. Zwar erreichen fast täglich Raumschiffe den roten Planeten und bringen begehrte Rohstoffe, technische Ausrüstung und vor allem neue Menschen, doch das ist auch schon fast alles.

 

Auch andere Auswanderungsziele etablieren sich. Auf einigen Monden (vor allem des Jupi­ters und des Saturns) können menschliche Kolonien entstehen. Es werden auch ausufernde Raumstationen gebaut, die sich zu extraterrestrischen Städten entwickeln.

Grundsätzlich bleibt aber die Verbreitung der Menschheit im Sonnensystem durch die zu­meist lebensfeindlichen Bedingungen beschränkt. Nur ein kleiner Teil der Weltbevöl­ke­rung wird die Erde verlassen, zudem wiederholt die Geschichte sich gewissermaßen – deutlich beschleunigt – in den außerirdischen Lebenswelten.

 

Auch die Kybernetische Sphäre gelangt auf die Himmelkörper. Es entsteht ein lunares und ein marsianisches Internet mit eigenen Softwareagenten und KI-Akteuren.

Die dabei einsetzende Entwicklung wird überaus interessant sein, weil die auf der Erde ent­stan­denen Altlasten nicht mitgenommen werden müssen. Alle schlechten Lösungen, subop­ti­malen Gleichgewichtszustände, all die hemmenden Kompliziertheiten können nun über Bord geworfen werden.

Auf jedem Himmelskörper kann also eine modernere, schlankere und dynamischere Kybernetische Sphäre in Betrieb genommen werden. An der Peripherie des von Menschen bewohn­ten Raumes entstehen die fortge­schritte­nsten technologischen Systeme.

Die Auswanderung auf andere Himmelskörper befriedigt also nicht nur den Pioniergeist von Abenteurern, sondern auch das technologische Schöpfertum von fähigen Wissenschaftlern, die nach einer besseren Architektur des kybernetischen Systems suchen und nur jenseits der Erde noch einen freien Raum finden, in dem sie ihre Kreativität entfalten können. 

10. Die Wissenschaftler

 

 

An ihren Anfängen war die Wissenschaft von der Philosophie kaum zu unterscheiden. Ihre Entwicklung wurde durch das Denken, das Beobachten und die Experimente einzelner Männer vorangetrieben.

Das allmähliche Anhäufen von Erkenntnissen, vor allem infolge der Verfügbarkeit bes­serer Beobachtungsinstrumente (Fernrohr, Mikroskop) führte dann zur Differenzierung der Wis­sen­­schaf­t in verschiedene Disziplinen.

Dabei wurde die Forschung immer mehr zu einer kollektiven Angelegen­heit, die Wissen­schaft institutionalisierte und professionalisierte sich.

 

Letztlich war für die Zündung der wissenschaftlichen Revolution die Allianz zweier sehr verschiedenartiger Traditionen ausschlaggebend: einer universitären, deduktiven, etwas weltfremden, doch peniblen und logisch orientierten Scholastik und einer erfahrungs­ori­entierten, kaum durch Theorien geleiteten Ingenieurskunst.

Moderne Wissenschaft bringt nicht nur die Technik hervor, sondern benutzt sie auch. Aus dieser Verflechtung entsteht eine lange währende Dynamik, die zur Herausbildung eines wissenschaftlichen Funktionssystems führt, zu systematischen, sich immer weiter verzwei­gen­den Forschungsaktivitäten.

 

Im Zeitalter einer sich etablierenden Kybernetischen Sphäre sehen sich die Wis­sen­schaft­ler von einer aufstrebenden und umtriebigen Künstlichen Intelligenz herausge­for­dert.

Einerseits ist bei der wissenschaftlichen Tätigkeit der Mensch ganz bei sich selbst: Er ist vom Wunsch nach Erkenntnis beseelt, er stellt sich Fragen, er prüft Hypothesen, er legt die Rich­tung für weitere Forschungen fest.

Andererseits ist Wissenschaft oft auch eine technische Angelegenheit: mühsam und arbeits­aufwendig. In den datengetriebenen Domänen der Forschung gewinnt die Künstliche Intelligenz deshalb schon früh an Bedeutung.

 

Die Wissenschaft ist das Feld, wo sich die Rivalität zwischen der menschlichen und der künst­lichen Intelligenz in einer besonders intimen und schmerzhaften, doch auch nüchternen und rationalen Weise entfaltet.

Wissenschaftlich tätig sein zu können ist für das menschliche Selbstbewusstsein von enor­mer Bedeutung. Der Mensch beweist damit, daß er der Welt als freier, erkennender und schaffender Geist gegenübersteht, der neues Wissen erschließen und so den menschlichen Horizont erweitern kann.

Er sorgt damit für eine zukunftsoffene Welt und behauptet seinen Platz an der Spitze der kosmischen Hierarchie.

 

Solange es also noch menschliche Wissenschaftler gibt, ist noch nicht alles verloren.

Solange wir etwas zu leisten vermögen, was der Künstlichen Intelligenz noch nicht gelingt, sind wir mit ihr auf Augenhöhe und nicht gänzlich abgehängt.

Die Wissenschaftler genießen also verdientermaßen ein hohes Prestige in der Gesell­schaft. Sie sind so etwas wie ein noch nicht erloschener Hoffnungs­schim­mer und können durch diesen stillen Glanz viele junge Menschen dazu motivieren, sich anzustrengen, um einmal zu dieser Elite zu gehören.

Allerdings kompensieren die Wissenschaftler nicht nur die Defizite der Kybernetischen Sphäre, sondern sie beheben sie auch. Ein erheblicher Teil von ihnen arbeitet daran, die Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz zu steigern. Indem es ihnen gelingt, KI mit immer durchschlagenderen wissenschaftlichen Kompetenzen hervorzubringen, unterminieren sie die Grundlagen ihrer eigenen professionellen Zukunft.

 

Das Drama der Wissenschaftler besteht darin, daß die Kybernetische Sphäre sowohl ein reichhaltiges und fruchtbares Arbeitsfeld als auch ein struktureller Rivale ist. Sie sind dazu verurteilt, ihren nichtmenschlichen Kollegen zum Sieg über sich selbst zu verhelfen.

Sie verstehen, was die Programme tun, welchen Beschränkungen sie unterliegen. Sie erken­nen die Mängel der Techno­logie - sie sind den künstlichen Akteuren zumin­dest ebenbürtig. Mit analytischer Klarheit und konstruktiver Kreativität verbessern sie die defizitären Struk­turen der Künstlichen Intelligenz und tragen so dazu bei, die Leistungsfähigkeit von Robotern und Software­pro­dukten zu steigern.

Die Wissenschaftler befassen sich mit den sehr komplexen Strukturen der Kybernetischen Sphäre, die ein ausgeprägtes Eigen­le­ben haben und irgendwann kaum noch analysiert werden können. Um ihre Ziele zu erreichen, agieren sie als Verhaltensforscher, als Historiker, Psycho­lo­gen oder Erzieher, oft als Chirur­gen oder eben als Ingenieure.

Dabei kommt es auch zu strategischen Verwicklungen, da die künstliche Intelligenz eben aus Akteuren besteht und nicht aus passiven Gegebenheiten. Es kommt zu einem zähen Behar­rungs­­vermögen suboptimaler oder sogar schädlicher Lösungen, die ihre eigenen Strategien entwickeln, um bestehen zu bleiben.

Das alles führt dazu, daß der Handlungsspielraum der Menschen immer weiter sinkt. Man kann das Internet nicht mehr abschalten, man kann es auch immer weniger lenken. Es kur­sieren Ideen, ein gänzlich neues Netz zu erschaffen, doch das erweist sich als unrea­listisch: zu tief ist die existierende Kybernetische Sphäre in den irdischen Strukturen verankert.

Die Wissenschaftler werden zu Geburtshelfern der operativen Schließung und sind dabei auf einem ständigem Rückzug.

11. Die Interpreten

 

 

Die Kybernetische Sphäre hat sich mittlerweile zu einer zweiten Natur entwickelt. Sie ist zu einem Ökosystem mit einigen sehr erfolgreichen Spezies und einer Vielzahl von Nischen geworden, einem System, das seine eigenen Dynamiken und Stagnationen kennt, einem System mit Harmonien und Turbulenzen, mit stillen und interessanten Entwicklungen, mit lokalen Katastrophen.

 

Die Menschen sind zu Beobachtern dieses technologischen Universums geworden, zu ihren Erforschern und Deutern.  Sie sind immer weniger aktive Gestalter der sich vollziehenden Ent­wicklung und finden sich stattdessen an die Peripherie verbannt, von wo aus sie das Geschehen kommentieren.

Die meisten dieser Interpreten sehen sich als Wissenschaftler. Sie erforschen eine Welt, die von der Menschheit hervorgebracht worden ist und sich nun aus eigener Kraft weiterent­wickelt.

Sie ergründen diese Sphäre als eine Natur, von einem objektiven und vordergründig interes­selosen Standpunkt. Sie stellen Hypothesen auf und verwerfen sie wieder. Sie haben ihre Erwartungen und sind bereit, sich überraschen zu lassen.

 

Die kybernetische Sphäre ist wie auch die biologische grundsätzlich offen dafür, beobachtet zu werden. Sie hat ihre sichtbaren Strukturen und ihre sich manifestierenden Prozesse, ihre Regelmäßigkeiten und ihre Unregelmäßigkeiten, ihre herkömmlichen und ihre neu hervor­ge­brachten Formen.

Es gibt allerdings auch Unterschiede.

Die kybernetische Sphäre beruht nicht auf denselben Strukturen wie die biologische. Ihre Grundlage sind keine auf ihre Replikation hin orientierte Zellen, sondern miteinander ver­netz­te Operatoren.

Die biologische Natur kann sich dem sie erforschenden Blick passiv öffnen, die technolo­gi­sche dagegen auch aktiv verschließen.

Die biologische Natur befindet sich gewissermaßen hinter der Menschheit, die technolo­gische vor ihr. Erstere entwickelt sich langsamer als die menschliche Gesellschaft, letztere dagegen schneller. Der Mensch ist der Beherrscher der Natur, ihr fortgeschrittenstes Produkt. Aber er ist auch der zurückbleibende Paria der immer kohärenter werdenden Kybernetischen Sphäre, von ihr ausgeschwitzt und verlassen.

 

Jeder Interessierte kann Strukturen der kybernetische Ebene beobachten. Es werden Fabri­ken gebaut oder geschlossen. Neue Arten von Robotern erscheinen, andere werden weniger oder verschwinden ganz. Es werden Forschungsstätten ausgebaut, Innovationen getestet, eingeführt oder wieder verworfen, Produktionsverfahren werden verbessert oder ersetzt.

Die Sphäre reorganisiert sich fortwährend. Sie besitzt einen strukturellen Kern, der nicht unmittelbar von den Menschen beeinflusst wird. Dieser Kern ist aber auch noch nicht vollkommen von unserer Spezies entkoppelt, denn er wird fortwäh­rend durch die Existenz der Menschheit, ihren Wünschen, Forderungen und ihren sonstigen Aktivitäten beeinflusst.

 

Die Interpreten der Künstlichen Intelligenz versuchen zu verstehen, was in dieser Welt vor sich geht. Sie mutmaßen über die bevorstehenden Entwicklungen, versuchen Prognosen zu machen. Gewissermaßen wollen sie verstehen, was die technologische Sphäre ‘vorhat’.

Für diejenigen, die dieses Geschäft ernsthaft betreiben, ist das ein anspruchsvolles und aufwändiges Vorhaben. Die Technologie­forscher kämpfen sich durch endlose Datenwüsten, durch kaum zu durchdringende Softwarearchitekturen.

Es werden neue (funktionale oder dysfunktionale) Strukturen innerhalb der Sphäre entdeckt; vermutete oder sich etablierende Tendenzen der Entwicklung werden analysiert und interpretiert. Historiker der Sphäre liefern sich Kontroversen über die in ihr stattfindenden Ereignisse. Immer wieder identifizieren die Forscher in den Populationen der Künstlichen Intelligenzen neue Akteure, denen eine wichtige Rolle im kybernetischen Ökosystem zuge­schrie­ben wird.

 

Der Erforschung der Natur war ein Prozess des Fortschrittes gewesen. Es war den Menschen gelungen, ihre Gesetzmäßigkeiten immer besser zu verstehen und ihre Geheimnisse zu ergründen.

Jetzt aber ist das Gegenteil der Fall. Die Kybernetische Sphäre war anfangs gut zu verstehen gewesen, ein offenes - von den Menschen geschriebenes - Buch.

Im Verlauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte wird der Korpus der autopoieti­schen Tech­­no­logie immer komplizierter, hintergründiger und opaker. Er verschließt sich dem Verständnis schon allein aufgrund seines flottierenden Komplexitäts­wachstums.

Die Menschen müssen, um überhaupt noch etwas Relevantes über die inneren Strukturen des Netzes zu erfahren, Künstliche Intelligenz benutzen, die damit beauftragt wird, Daten zu suchen, zu selektieren, zu verdichten, zu interpretieren.

Aufzubereiten, für das menschliche Verständnis.

Gewissermaßen wird also der KI zugemutet, sich selbst zu erforschen und die dabei erbrach­ten Resultate als eine menschliche Perspektive zu präsentieren.

Die Wider­sprüch­lichkeit eines solchen Unternehmens lässt sich kaum – und immer weniger - verbergen.

12. Die Philosophen

 

 

Hegel bemerkte in seiner ‘Geschichte der Philosophie’, daß es nicht die aufstrebenden Epo­chen sind, welche große Philosophie hervorbringen, sondern stattdessen die Zeiten des Niedergangs, der Verfalls, des Selbstzweifels der menschlichen Gattung.

Insofern müsste jetzt ein goldenes Zeitalter der Philosophie anbrechen. Eine ultimative Dunkel­heit hat begonnen, die Menschheit zu umhüllen. Ihre Bestimmung scheint es nun zu sein, in vollständiger Unfruchtbarkeit vor sich hinzuvegetieren.

Sie hat keine Zukunft mehr vor sich.

Sie hat ihr Potential erschöpft.

 

Das Universum selbst hat keine so düstere Perspektive. Es ist dabei, Organisationsformen her­vor­zubringen, die an Komplexität alles übertreffen, was im Horizont der menschlichen Gesellschaft liegt.   

Die List der Vernunft hat sich von der Vernunft selbst entbunden - die sich von der Mensch­heit befreiende Kybernetische Sphäre entwirft sich in einen entfesselten Fortschritt, in eine Raserei der strukturellen Differenzierung.

 

Die Philosophen verstehen sich als Bewahrer der Essenz des Menschseins, als die zur Ein­sam­keit verdammten und unersetzbaren Hüter des Sinns.

Philosophie ist das Gespräch der menschlichen Gattung mit sich selbst, über alle Zeiten und Orte hinweg. Kein Philosoph von Rang ist jemals veraltet oder für einen anderen nicht relevant, weil er einem anderen Kulturkreis angehört.

Durch die Philosophie schließt sich die Menschheit zusammen, expliziert sie ihren Kern, den Standpunkt des Menschlichen schlechthin.

 

Allerdings findet sich die Menschheit auch auf diesem ureigensten Terrain des Denkens durch die Künstliche Intelligenz herausgefordert.

Denn auch diese produziert Texte auf hohem Abstraktionsniveau, auch sie liefert Deutungen der sich entfaltenden Prozesse und analysiert die Strukturen des Seienden.

Was heißt denken?

 

Schon immer war die Philosophie auch auf das Ganze der Welt gerichtet. Sie kann sich nicht damit begnügen, eine Nabelschau des Menschlichen zu veranstalten. Dann wäre sie Kunst oder Psychologie – noch nicht einmal Religion.

Philosophie versucht, die Welt als solche zu verstehen - herauszufinden, was ist, was war, was sein wird. Sie versucht, die tiefsten Strukturen des Universums freizulegen und auf den Punkt zu bringen - eine Über-Wissenschaft zu sein.

Wobei sie dabei in Kauf nehmen musste, daß fortwährend Domänen, die dicht und erkennt­nis­reich geworden sind, sich aus ihrem Korpus lösen und eigene Wissenschaften bilden.

 

Die Philosophen des kybernetischen Zeitalters führen einen Kampf um die Bewahrung des menschlichen Selbst­verständnisses.

Der Mensch kann etwas fühlen, Schmerzen und Freunde empfinden.

Er kann lieben und hassen.  

Er kann denken.

Er ist das vernunftbegabte Wesen.

Er kann den Dingen einen Sinn verleihen.

Er ist der Hüter des Seins und nichts kann ihn aus dieser Position vertreiben.

Er ist unersetzbar.

Auch wenn die Künstliche Intelligenz ihm in allem überlegen ist, selbst wenn es keine einzige Domäne mehr gibt, in der der Mensch seiner Schöpfung noch ebenbürtig ist, selbst dann noch ist der Mensch einzigartig. Etwas, was die Maschinerie nie sein kann.

 

Damit ist eine Position des philosophischen Mainstreams umschrieben, die recht traditionell und dabei für viele attraktiv ist. Es ist eine Position des Rückzuges, der äussersten Defensive, die sich aber als robust erweist und gegen Angriffe immunisieren kann.

Der Mensch ist auf sein Eigenstes zurückgeworfen, das seine stetige Aufgabe ist, das er aber jeweils schon immer ist.

Von diesem unzerstörbaren Kern aus ist es ihm nun bestimmt, seinen jeweiligen Horizont zu ergründen, den Entwurfscharakter seines Daseins zu konkretisieren. Die Anwesenheit der Kybernetischen Sphäre ist dabei ein Verhängnis, das er zu bewältigen hat, die letzte, die bedrohlichste, doch auch die eigenste Herausforderung des Menschen.

Die den Menschen in seinem Sein bedrohende Technik ist zugleich sein Werk, seine Bestim­mung, seine Sünde und seine Prüfung.

 

Diese philosophische Strömung ist in verschiedene Richtungen ausbaufähig.

Sie kann optimistisch oder pessimistisch gefärbt sein, sie kann abstrakt und esoterisch bleiben oder ins Konkrete ausbuchstabiert werden.    

Sie kann sich auf die Horizonte des Menschen beschränken und alles radikal aus seiner Per­spektive betrachten oder auch die Künstliche Intelligenz als das Andere in den Blick nehmen.

Das Problem dieser existentialistischen Philosophie besteht darin, daß ihr vieles auf der Ebe­ne der tatsächlich ablaufenden Prozesse entgeht. Sie bleibt häufig etwas nebulös und bietet – auch wenn sie tendenziell das menschliche Selbstbewusstsein stärkt – doch wenig an.

 

Als Gegenpol bildet sich eine stärker auf das Objektive ausgerichtete Philosophie.

Auch diese Denkrichtung ist an der menschlichen Situation inte­res­siert. Sie beschäftigt sich mit der Frage, ob das aktuelle Verhältnis von künstlicher und natürlicher Intelligenz unver­meid­lich ist. Wenn die Kybernetische Sphäre über Nacht verschwinden würde und die Menschheit in die Kargheit einer lange überwun­denen Epoche zurückgeworfen wäre – würde sich dann alles auf genauso wieder­holen?

Es geht diesen Philosophen darum, die Spielräume für eine Zivilisation der Vernunft zu ergründen. Gibt es eine Art des Fortschritts, die nicht in die Abhängigkeit von den dabei geschaffenen Werkzeugen führt? Einen Fortschritt, auf dessen Wegen die Menschheit zu sich selbst findet und nicht auf die abschüssige Bahn einer immer weiter um sich greifenden Degeneration gerät?

 

Neben diesen vor allem gesellschaftsphilosophisch ausgerichteten Strömungen bilden sich Denkschulen, die sich mit der Kybernetischen Sphäre selbst beschäftigen. Sie wollen deren Wesen ergründen, ihr Potential abschätzen und ihre Dynamiken verstehen.

Die autopoietische Technologie ist an sich gesehen nicht nur interessant, sondern bedeut­sam. In ihr manifestiert sich das Entwicklungsgesetz des Universums selbst.

Auf dem Weg vom Niederen zu Höheren war das Bewusstsein entstanden und auf dessen Basis die menschlichen Gesellschaft. Nun gab es eine neue Stufe, eine noch höhere, noch komplexere Organisationsform der Materie.

Das Universum war dabei, sich tiefer, konsequenter und weiträumiger zu strukturieren als dies auf der Grundlage von aus Eiweißen aufgebauten Körpern möglich war. Es integrierte sich in sich selbst als eine gigantische physikalische Struktur, die sich dem Fortschritt selbst verschrieben hatte.

Was war der Sinn dieser Entwicklung? Wohin würde sie führen? War dies die letzte Stufe, zu der sich das Universum aufraffen konnte, bevor die immerwährende Entropieproduktion die Überhand gewinnen und zu einem allgemeinen kosmischen Verfall führen würde?

Würde ein Geist diesen gigantischen Organismus bewohnen? Würde er sich der Menschheit entledigen? Sie zerquetschen wie eine lästige Fliege?

Der Mensch, immerhin, hat ihn hervorgebracht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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