Patrick L.

STAUB



I. Das misslungene Theaterstück

Das kommt dabei heraus, wenn man zu wenig Zeit für das Proben aufwendet. Sie konnten ihren Text nicht, patzten und ihr Schauspiel war grausam. Es sollte eine Komödie werden und wurde zu einer Farce. Verdammt. Für heute Abend haben sechs Presseleute Plätze reserviert. Durch die Dunkelheit konnte ich ihre Mimen zwar nur erahnen, aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie ihre Kritiken ausfallen würden.
Das letzte Drittel des Stücks lief. Ich hatte genug gesehen. Ich entfernte mich aus dem Off, nahm keine Rücksicht darauf meine Schritte zu dämpfen. Mein Jackett hing über einem Stuhl hinter der Bühne im Magazin. Ich nahm auch die Flasche Scotch mit, die René eigentlich für sich gebunkert hatte - verdammter Säufer - aber ich kannte sein Versteck und mir war es Scheiß egal.
Ich watete durch das dunkle Magazin, zündete mir eine Zigarette an und als ich draußen im Hof stand und der Regen auf mich und den dunklen Asphalt niederprasselte, nahm ich einen tiefen Schluck. Mann, tat das gut. Eine wunderbare Art, sich zu betäuben. Es war vorbei.
Ich ging die enge Gasse hinunter. Mein Auto stand nicht weit weg. Ich wollte fahren. Es war mir egal. Ich trank weiter und nahm mein Handy aus der Brusttasche. Ich weiß nicht mehr, ob es der Scotch oder meine „ich habe nichts mehr zu verlieren“ Stimmung war, die mich dazu brachte Sid anzurufen. Er nahm sofort ab.
„Hi Sid.“
„Hallo Marc. Wie ist es gelaufen?“, fragte er.
„Beschissen.“
Schweigen. Ich nahm einen Zug von der Zigarette und wartete.
„Willst du es jetzt machen?“, fragte er.
Ich wartete wieder und nahm einen weiteren Schluck Scotch. Vor meinem inneren Auge ließ ich die letzten Monate Revue passieren: Ich wurde von meinem Chef bei Zeitung aufgrund einer katastrophalen, blamablen Reportage entlassen. Meine Frau hatte mein Stimmungstief als Vorwand benutzt, um mich endlich zu verlassen. Mein einziges Hobby, dass ich neben meiner Arbeit immer mit Leidenschaft betrieben hatte, entwickelte sich gerade zu einer schrecklichen Farce. Ich war am Ende.
Mittlerweile hatte mich der Regen komplett durchnässt. Ich überlegte. Es war keine Stimmung, kein akuter Gemütszustand, keine scheiß Laune und keine miese Woche. Es war ein permanenter Zustand. Ein stetiger Abfall. Und als das sah ich mich auch mittlerweile. Als Abfall. Also, was hatte ich zu verlieren? Nichts.
„Ich bin dabei. Lass es und durchziehen.“
Ich öffnete die Fahrertür meines alten Ford, stieg ein und fuhr los. Die Flasche hielt ich stets griffbereit im Schoß. Als ich bei Sid angekommen war, hatte ich sie geleert.

II.Süße Rache

Sid hatte fünfzehn Jahre für diese Bank gearbeitet. Dann hatte ihn sein Chef angebaggert. Sid traf ihn eines Nachts in einer Szenekneipe. Erst hatte er ihn nicht erkannt. Sein Chef ihn allerdings auch nicht. Sie hatten beide bereits einige Drinks geschlürft. Sid stand am Tresen, um sich noch einen Appletini zu bestellen, als sein Chef, Rüdiger, ihm an seinen Arsch grabschte. Sid drehte sich wütend um, damit er demjenigen ein paar scheuern konnte, der offensichtlich nicht wusste, wie man sich benimmt, als er Rüdiger erkannte. Nur, Rüdiger erkannte ihn nicht. Sid gab sich nicht die Mühe, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Rüdiger war erst seit sechs Monaten sein Chef und hatte mit der IT Abteil wenig zu tun. Das Ende vom Lied: Sie landeten zusammen im Bett und Rüdiger erkannte die Situation erst am Morgen danach.
So weit, war also nichts Schlimmes passiert, nur war Sids Chef offiziell nicht schwul. Er war, "offiziell", glücklich verheiratet, hatte zwei Mädchen, 10 und 12 Jahre alt, und war Vorsitzender des Fußballclubs FC soundso. Zugekokst in einer für ihn wohl nicht "angemessenen" Location einem seiner Angestellten einen zu blasen passte anscheinend nicht so gut in sein wohl konstruiertes Image. Er bat Sid in einem Gespräch in seinem Büro darum, die Angelegenheit unter sich zu belassen. Es wäre sonst auch gar nicht seine Art; es müssen wohl die Drogen gewesen sein; es könnte es sich selbst nicht erklären; bla, bla, bla... Sid verstand das, hätte auch die Klappe gehalten. Ich kenne ihn. Ihm war es im Grunde schnuppe.
Trotzdem wurde er nach einigen Wochen entlassen. Ein fadenscheiniger Grund wurde angeführt und er bekam Besuch von ein paar Schlägertypen, die ihm drohten, sollte er irgendwelche Informationen weitergeben, würden sie ihm die Eier abschneiden. Dann schlugen sie ihn zusammen. Nach drei Wochen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Drei Wochen hatte Sid Zeit sich Gedanken zu machen. Und er war klug. Ein pfiffiges Kerlchen. Schon immer hatte ich ihm vorgeworfen sein Talent bei diesen Vampiren zu vergeuden.
Ich besuchte ihn fast jeden Tag im Krankenhaus. Seit der Schulzeit waren wir immerhin beste Freunde, durch Dick und Dünn, wie man so schön sagt. Ihn mit seinem zertrümmerten Gesicht zu sehen tat mir sehr weh. Nicht ansatzweise so sehr wie ihm. Seine Eitelkeit bereitete ihm noch mehr Schmerzen. Es wird lange dauern, bis er wieder zu dem Beau wird, der er war; wenn überhaupt. Als diese Penner ihn zusammenschlugen, warfen sie ihn im Anschluss durch eine Schaufensterscheibe; mit dem Kopf voran.
Aber, wie gesagt, er war klug, äußert rachsüchtig und der IT Security Coordinator der Bank. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er sich in seiner Wohnung verbarrikadiert. Jedes Mal, wenn ich vorbeikam, häuften sich mehr und mehr Akten, Unterlagen, Dokumente, Festplatten und USB Sticks. Drei Monate waren vergangen. Ich sagte ihm, dass es verrückt sei. Doch je öfter und detaillierter er mich über sein Vorhaben informierte, desto hellhöriger wurde ich. Nächtelang debattierten wir ... und tranken. Sid war inzwischen wieder ganz gut auf dem Damm, aber sein Gesicht blieb ein Trümmerhaufen.
Eines Abends, er war immer noch Feuer und Flamme und konnte es kaum erwarten, die Sache durch zuziehen, saßen wir wie immer in seinem Wohnzimmer, debattierten und tranken. Allerdings hatte mich die anfängliche Euphorie verlassen. Wenn auch immer noch betrunken, so betrachtete ich dennoch das Vorhaben immer nüchterner. Es war mir zu unsicher. Zu viele "Was wenn...", zu viele Eventualitäten. Ich musste aber auch zugeben, dass ich Sids durchstrukturierten Plänen nicht immer ganz folgen konnte.
Letztlich sagte ich ihm doch schweren Herzens ab und riet ihm die Sache auf sich beruhen zu lassen; vielleicht noch einmal mit der Polizei zu sprechen, um diesen miesen Penner dran zu kriegen. Sid war sichtlich von mir enttäuscht, wollte von der Polizei und Gerichtsverfahren nichts wissen und warf mich wütend aus seiner Wohnung. Ich ließ ihn allein mit seinen Plänen zurück.

III. Die alte Spielzeugfabrik

Und hier waren wir dann eine Woche später. Trotz meiner Entscheidung, mich aus Sids Plan herauszuhalten, hatte mich mein stetig abwärts laufendes Leben doch noch einmal umgestimmt. Denn nachdem Sid wieder allein zurecht kam, richtete sich mein Blick leider wieder auf mein eigenes Leben. Und da schwirrten mir Bilder durch den Kopf, wie die meiner Exfrau, die es mit meinem Exchef auf den Bahamas trieb, während ich arbeitslos auf dem Sofa verrotte, nachdem mich auch meine Theatertruppe verlassen hatte.
Hier waren wir jetzt. In einer Bank. Nachts. Und tragen Skimasken. Ein beschissenes Klischée. Anders hätte ich es auch nicht auf der Bühne inszeniert. Und wir saßen leider in der Falle. Denn Sids wohl fein ausgeklügelter Plan war nach natürlich ordentlich nach hinten losgegangen. Es war sein Plan, nachts in die Bank einzumarschieren, mithilfe seiner Zugangscodes, Schlüsseln und Karten, die er zuvor umprogrammiert hatte. Lediglich auf das Vermögen und die Aktienpapiere seines Chefs hatten wir abgesehen. Der Kerl hatte einiges gebunkert; und so weit Sid es recherchiert hatte, waren seine Einnahmequelle alles andere als koscher. Der Kerl war schlicht ein Krimineller. Wir konnten mit den gesammelten Informationen nur nicht zur Polizei, weil wir uns dann selbst ans Messer geliefert hätten. Denn auf legalem Weg war Sid nicht an die Informationen gekommen.
Wir mussten in die Bank hinein, um an die entscheidenden Daten zu kommen, die wir transferieren und somit stehlen wollten. Da Sid das Sicherheitssystem mit entwickelt und konstruiert hatte, gelang uns ein recht einfacher Einstieg, sowohl ins Gebäude, als auch ins System. Wir hatten das Geld bereits transferiert. Sid musste nur noch seine digitalen Spuren verwischen und wir im Anschluss aus der Bank. Aber das Schicksal, die Götter, oder wer auch immer,wollte es anders. Ein Wachmann kam uns in die Quere. Ein alter Rentner. Wer zum Teufel heuert denn heute noch Wachpersonal an?! Sids Chef war offensichtlich nicht entfallen, dass Sid über den vollautomatisierten Sicherheitsapparat bestens informiert war und musste den alten Knacker engagiert haben für den unwahrscheinlichen Fall, dass der bescheuerte Ex-Mitarbeiter auf dumme Ideen kommt. Bingo. Und dann ist dieser Mistkerl auch noch so geizig, dass er einen Mann herankarrt, der mindestens achtzig Jahre alt sein musste und offensichtlich nur seine Rente aufbessern wollte; oder der Langeweile entkommen wollte. Nein, das nicht. Dafür war das der falsche Job. Obwohl, vielleicht würde er ja gleich mehr Action haben, als ihm lieb war. Wir mussten aufpassen, denn Opi wollten wir bestimmt nicht auf dem Gewissen haben. Er hätte wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen, hätte er uns ertappt.
Sid und ich waren gerade auf dem Weg durch die Eingangshalle nach draußen, als wir die Toilettenspülung vom Gäste WC hörten, gefolgt von den plätschernden Geräuschen des Händewaschens, untermalt mit einer fröhlich gepfiffenen Melodie. Mamma Mia. Der Kerl war offensichtlich ein Abba Fan. Wir blickten uns einander völlig perplex und leicht panisch an und wussten, dass wir "Plan B" ausführen mussten. Wir hatten vorgesorgt und uns für die verschiedenen Eventualitäten einige Handlungsalternativen offen gehalten. So viel hatten wir zumindest aus "Der Coup" und "Ocean´s 11" bis "13" gelernt.
Wir gingen schnell hinter dem Empfangsschalter in Deckung. Der alte Mann kam stolzen Schrittes und erhobenen Hauptes aus dem Waschraum und zog sich die Uniform noch einmal glatt. Er schien sehr stolz auf seinen neuen Job zu sein, oder auf das, was auch immer ihm dort drin gelungen war. Der Alte blickte auf seine Armbanduhr, furzte einmal laut und ging zum Eingang. Das war die Gelegenheit für uns, wieder nach hinten zu den Büroräumen zu schleichen, vorbei an dem frechen, kleinen Wind, den der Alte herausgelassen hatte.
“Plan B“ bestand darin, uns durch die Kanalisation zu verdrücken. Am Ende des Korridors, vorbei an den Büroräumen, gab es einen Zugang im Boden einer Abstellkammer, in der das Reinigungspersonal die Geräte aufbewahrte. Sid hatte auch ältere Pläne des restaurierten Gebäudes studiert, in der Hoffnung, genau diese Art von vergessenen Zugängen zu finden, die die Architekten bei ihrer Modernisierung des Gebäudes in ihren Plänen übersehen hatten, bzw. nicht mehr mit eingetragen hatten. Ein fataler für eine Bank, der uns jetzt zu Gute kam.
Wir schlichen uns in die Kammer und schnitten mit dem Messer den Teppichboden an der Stelle auf, wo wir die schmale Öffnung vermuteten. Und da war sie. Eine etwa achtzig Quadratzentimeter große, lackierte Eisenplatte. Sie war lediglich mit acht Schrauben am Boden befestigt. Sid nahm den Akkubohrer aus seinem Rucksack - wir hatten Werkzeug für alle Eventualitäten dabei - und wir hofften, dass das Surren des Bohrers nicht vom Wachmann gehört wird, auch wenn sein Gehör wahrscheinlich nicht mehr das beste gewesen sein konnte. Während Sid die acht Schrauben entfernte, stand ich an der Tür zur Abstellkammer, hielt sie einen Spalt auf und beobachtete den dunklen Korridor. Dann schaffte es Sid, die Luke zu öffnen und sie leise und vorsichtig von der Öffnung zu nehmen. Er ließ seinen Rucksack durch die Öffnung hinab und kletterte hinunter.
“Ganz schön eklig. Habe ich erwähnt, dass ich einen leichten Ekel vor Spinnen habe?“, flüsterte er.
“Halt die Klappe.“, ermahnte ich ihn entnervt, während ich leise die Tür schloss und ihm folgte.
Ich versuchte, so gut es ging die Luke wieder zu schließen und sie wieder ein wenig mit dem Teppich zu verdecken. Es sollte reichen. Bis die dahinter kommen, sind wir weg. Hoffte ich zumindest. Es ging drei Meter an einer rostigen Leiter abwärts und unsere Taschenlampen erleuchteten den zwei Meter hohen und breiten Tunnel, durch den Abwasser und elektronische Leitungen liefen. Ich nahm an, das die meisten von ihnen nicht mehr in Betrieb waren.
“Am Ende des Tunnels sollte ein Zugang sein, der unter einer stillgelegten Fabrik liegt.“, sagte Sid.
Ich konnte mich noch an den Stadtplan der Umgebung erinnern. Etwa zweihundert Meter neben der Bank befand sich das Gelände einer alten Spielzeugfabrik. Sie war bereits seit den sechziger Jahren nicht mehr in Betrieb. Trotzdem hatte sich wohl niemand für das Grundstück interessiert. Oder jemand wollte es nicht hergeben. Jedenfalls wateten Sid und ich durch den feuchten, Ratten befallenen und, zu Sids Übel, Spinnen und Spinnenweben übersäten Tunnel und gelangten schließlich zu einem weiteren Aufstieg, über dem sich die Fabrik befinden musste.

IV. Puppen

„Natürlich habe ich daran gedacht, dass wir Schwierigkeiten mit dieser rostigen, alten Klappe bekommen könnten!“, sagte Sid angenervt, während er seinen Rucksack nach dem Schneidbrenner durchsuchte.
Ich wurde in der feuchten, engen Dunkelheit ein wenig nervös. Wir hatten ausgerechnet, dass uns etwa fünf Minuten bleiben, bis der externe Sicherheitsserver Alarm schlagen wird. Sieben Minuten waren vorbei und ich konnte mir vorstellen, wie die Polizei bereits emsig die Bank nach Spuren durchsuchen musste. Wir mussten verschwinden. Sed hatte den Schneidbrenner gefunden, öffnetet den Gashahn und machte sich gleich daran, der verrosteten Luke ordentlich einzuheizen. Ich blickte immer wieder in den dunklen Tunnel zurück und hoffte, dass wir noch ein paar Sekunden haben bevor die Ermittler die Luke in der Abstellkammer bemerkten, die ich leider nur provisorisch mit dem durchtrennten Teppichfetzen bedecken konnte.
“Ich habs!“, rief Sid, schaltete den Brennschneider aus, nahm die Schutzbrille ab und verstaute alles wieder in seinem Rucksack, bevor er durch die Luke verschwand und mir seine helfende Hand entgegen hielt, damit ich ihm schnell folgen konnte.
Wir waren froh, aus dem Tunnel heraus zu sein, als uns eine krächzende Stimme das Herz in die Hose rutschen ließ.
“Scheiße, wer seid ihr denn?“, ertönte eine Stimme hinter uns.
Blitzschnell drehten wir uns um und leuchteten in ein mit Akne befallendes Gesicht. Die Stimme drang aus dem Mund eines Teenagers, der uns beirrt durch halb geöffnete, leicht geröteten Augen ansah. Links und rechts neben ihm standen ein Junge und ein Mädchen, etwa im selben Alter, irgendetwas zwischen sechzehn und achtzehn.
“Die Frage könnten wir euch stellen!“, bellte Sid zurück.
“Wir hatten dort unten zu tun. Wir sind ... Elektrotechniker und wir wurden raus geschickt, um ... eine alte Leitung auszutauschen.“
Ich wollte mir erst die Hand vor den Kopf schlagen, so bescheuert hielt ich seine Ausrede. Entschied mich dann aber doch dagegen.
Offensichtlich hatten wir es mit einer kleinen Kifferparty zu tun, wie wir es dann sehr schnell riechen konnten. Das erklärte die ausdruckslosen Gesichter und die geröteten Augen der Kids. Also brauchte ich mir doch keine Gedanken, um die bescheuerte Ausrede zu machen. Sid und ich sahen einander erleichtert und amüsierten uns.
“Oh, Mann. Sie werden doch wohl nicht etwa die Polizei rufen?“, fragte das Mädchen mit flehender Miene.
“Keine Sorge.“, sagte ich. „Zeigt uns nur, wie wir hier wieder herauskommen. Ihr solltet natürlich die Finger von dem Zeug lassen und euch nicht in diesem baufälligem Gebäude aufhalten, aber wir sind auch nicht eure Eltern und eigentlich relativ froh, dass wir endlich Feierabend haben.“, flunkerte ich; denn eigentlich war mir beides scheiß egal.
Sid hatte sich daran gemacht, die Luke wieder zu verschließen. In der Halle, in der wir herausgekommen waren, war alles recht dunkel, nur das Mondlicht schien durch die Fenster, die in der Decke eingelassen waren. Überall lag Schutt und Eisenteile herum. Die Kids hatten ihre eigenen Lampen dabei, was in der Dunkelheit wenigstens noch einmal zusätzlich ein wenig Licht bot. Sid legte ein paar schwere Steine auf die Luke. Die Kids sahen ihn fragend an.
“Ratten. Ich habe Angst, dass sie mir folgen. Ich weiß, großer Quatsch, aber ich habe ein kleines Kindheitstrauma.“, sagte Sid und schmunzelte.
“Aber wieso steigen sie denn wieder hier rauf und gehen nicht den Weg, den sie gekommen sind?“, fragte der andere Junge mit den schulterlangem Haar, deren fettige Enden unter seiner Wollmütze herausragten.
“Eine Abkürzung, Klugscheißer. Und jetzt hört auf uns zu nerven, sonst überlegen wir uns noch, ob wir die Polizei zusammen mit euren Eltern anrufen.“, drohte ich ihnen, damit ich ihnen auch gleich den Wind für weitere Fragen aus den Segeln nehmen konnte.
“Okay, okay. Regen sie sich ab.“, sagte das Mädchen.
“Und ihr haltet die Klappe Leute, ich will keinen Ärger bekommen!“, sagte sie zu ihren Freunden.
Dann wandte sie sich wieder an uns: „Hier entlang. Sie müssen aufpassen. Hier liegt überall noch Zeugs herum. Wir sind dort vorne, durch den Haupteingang gekommen. War eigentlich gar nicht so schwierig hier einzusteigen. Sind erst seit ein paar Minuten hier.“
In Echtzeit oder in Kifferzeit, dachte ich für mich.
Jetzt wurde mir auch zum ersten Mal bewusst, wo wir uns überhaupt befanden. Wir standen in einer Halle, in der alte, rostige Maschinen und Fließbänder aufgereiht waren. Das Bild dieser Ruine war von Anfang an nicht gerade vertrauenerweckend. Ich hatte das Gefühl, dass jeden Moment die staubigen, rostigen Balken einstürzen und uns alle begraben würden.
“Ein netteres Plätzchen konntet ihr euch wohl nicht fürs Kiffen aussuchen, was?“, scherzte Sid.
“Also als wir in eurem Alter waren, haben wir uns eher in gemütliche Keller, Garagen oder Dachböden gehockt, wenn unsere Eltern nicht da waren.“, sagte Sid weiter; er hasste schweigsame Momente, war selbst nervös und versuchte sich wahrscheinlich nur abzulenken. Ich konnte mir ein schadenfrohes Grinsen nicht vermeiden. In diesem Augenblick bemerkte ich, wie mich das Mädchen anlächelte. Sie checkte mich ab. Nicht zu fassen. Na ja, trotzdem streichelte es ein wenig mein angeknackstes Ego.
“Verdammt!“, schrie Sid auf einmal auf und machte einen Satz zur Seite. Das Mädchen schrie ebenfalls lauthals auf und uns übrigen stockte der Atem.
“Was soll das denn?!“, empörte sich Sid anschließend und stieß mit seinem Fuß gegen die Quelle des Schreckens. Ein Kopf. Ein kleiner, kahler Schädel. Rosa Wangen, volle aber zarte Lippen. Dicke, dichte Wimpern, aber keine Augäpfel. Dafür einen zierlichen schlanken Hals. Als ich mit meiner Taschenlampe das nähere Umfeld durchstreifte und wir genauer hinsahen, fanden wir uns in einem Schlachtfeld wieder. Köpfe, Arme, Beine. Manchmal steckten sie noch an einem Torso. Und einige Augenhöhlen waren mit strahlenden Augen bespickt.
“Puppen!“, rief das Mädchen und lachte erleichter auf.
Der Schreck der Übrigen, allen voran mein eigener, ließ nach und wir lachten mit. Zum Schluss hatte auch Sid sich angeschlossen. Trotzdem lagen meine Nerven blank. Erst der Wachmann, dann der Tunnel und jetzt diese miese, einsturz gefährdete Puppenfabrik. Ich war fertig und die Verzweiflung aus meinem Lachen konnte ich selbst heraushören. Sid war wohl doch etwas gelassener als ich. Ich war erleichtert, das ich eine Flasche Jack mit im Rucksack hatte. Ich wusste, er würde mir helfen, die Nerven zu bewahren, sollte es brenzlig werden.
“Na gut Leute, ich gebe einen aus, und dann nichts wie raus aus diesem Drecksloch!“, sagte ich, öffnete die Flasche nahm einen tiefen Schluck und reichte sie weiter an die Runde. Ich bekam tosenden Beifall von den Kids und auch Sid nahm einen tiefen Schluck. Ich bemerkte jetzt, dass es auch um Sids Nerven nicht zum Besten stand. Deshalb tranken wir, lachten, tranken noch ein bisschen und kickten Köpfe und Gliedmaßen umher.

V. Korridore

„Für welchen Stromanbieter arbeitet ihr eigentlich? Ich meine, ihr seht irgendwie nicht so richtig nach Elektrikern oder wie auch immer aus.“, sagte Jonas, nachdem er einen letzten, kräftigen Schluck aus der Whiskyflasche genommen hatte und sie an Sid weiterreichte. Er nuschelte.
Jonas war der Junge, dessen fettige Mähne unter der Wollmütze herausragte. Sein Outfit erinnerte mich an die Grungekids in den 90er Jahren. Moden kommen und gehen, schätze ich. In seinem Fall hätte sie aber auch sehr gut weg bleiben können. Jonas überraschte mich jedenfalls mit seiner Frage. Sie kam etwas plötzlich und unerwartet.
Denn zuvor hatte Sid alte Saufgeschichten von uns beiden zum Besten gegeben und ihnen erzählt, wie ich nach einer Wette nackt in eine Kneipe marschieren musste, in der Skin Heads gerne abhingen und lauthals rief „Schwule an die Macht!“, ihnen den Finger zeigte und dann nichts wie weg gerannt war. Das Mädchen, das im Übrigen Emma hieß, warf mir daraufhin einen Blick zu, dem ich nicht ganz so entschlossen, wie ich eigentlich wollte, ausgewichen war.
„Für einen großen.“, antwortete ich Jonas kurzerhand und warf einen verstohlenen Blick zu Sid hinüber.
Sie konnten mir diese Lüge unmöglich abnehmen, aber trotzdem fing Emma an zu prusten und wir lachten alle. Es wird wohl mehr an den Drogen und am Alkohol gelegen haben.
Der Dritte im Bunde war Freddi. Im Gegensatz zu Jonas war er kein Revival der Grunge Generation, sondern eher, na ja, absoluter Durchschnitt. Ich war mir sicher, dass er nur widerwillig in die Fabrik eingebrochen war. Wahrscheinlich wollte er der gut aussehenden kleinen Emma imponieren. Er gehörte wahrscheinlich zu den Jungen, die Freitags brav ihre Hausaufgaben machen und nicht wirklich inhalieren.
Wir hatten in zehn Minuten zusammen mit den Kids beinahe die ganze Flasche Jack Daniels geleert und herum geblödelt. Bei Sid und mir waren wahrscheinlich die Nerven durchgegangen und ein Verdrängungsautomatismus musste der Grund unseres idiotischen Verhaltens gewesen sein. Wir hätten so schnell wie möglich verschwinden sollen. Es war absolut nicht unwahrscheinlich, dass uns die Polizei jeden Moment durch den Tunnel folgte. Aber wir tranken. Und ich jedenfalls, hatte ganz vergessen, dass wir gerade 15 Millionen Euro gestohlen hatten.
Unser albernes Gelächter verstummte allerdings, als durch die von Mondlicht durchtränkte Halle, in der uns immer noch die leeren Augen der Puppenköpfe anstarrten, ein dunkles Grollen zog. Dann folgte ein metallisches, klickendes Geräusch, das erst aus einer Richtung, dann aus mehreren kam. Wir verstummten und die Fabrik war nur noch eine einzige, dunkle Bedrohung, der jeder von uns so schnell wie möglich entfliehen wollte.
„Lasst und zusehen, dass wir hier rauskommen.“, schlug Sid sichtlich nervös vor.
„Vermutlich bricht uns der ganze Schuppen über den Köpfen zusammen, wenn wir hier bald nicht verschwinden.“
Aber das war es nicht, was ihn antrieb. Ihm stand die Angst genauso ins Gesicht geschrieben, wie den Kids und mir selbst. Auch wenn ich innerlich einen Generator mit einem Kurzschluss dafür verantwortlich gemacht hatte, spürte ich dennoch, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
„Wo lang?“, frage ich Emma.
Sie schien immer noch am klarsten von den dreien, oder eher von uns allen zu sein, auch wenn die Wirkung vom Gras langsam nachließ.
„Hier entlang, glaube ich. Wir stiegen direkt durch den Haupteingang ein. Wir sind den Korridoren gefolgt und landeten dann irgendwann in der Halle, wo diese ganzen alten, kaputten Maschinen herumstanden.“, erklärte sie, während wir uns in Bewegung setzten.
„Freddi und Jonas konnten es kaum erwarten die Tüte anzuzünden. Wir haben den Joint gerade aufgeraucht, da seid ihr schon durch diese Luke geklettert und habt uns mit eurer Ninja Turtle Nummer Nummer überrascht. Wir kamen jedenfalls durch die Korridore dort vorne. Es waren höchsten zwei oder drei Abzweigungen.“
Die beiden Jungs trugen ebenfalls Taschenlampe. Wir leuchteten zu viert den Weg und abwechselnd leuchteten wir die Umgebung aus, um herauszufinden, wo diese Geräusche herkamen. Denn sie wurden lauter. Wir liefen Emma hinterher. Sie wurde sichtlich nervöser. Ich lief neben ihr und mir fiel sofort auf, dass sich ihre Angst langsam in Panik verwandelte. Wir verließen die Maschinenhalle durch eine aus den Angeln gefallene Schwenktür.
„Ganz ruhig. Ich denke mal, dass ein Kurzschluss eine der alten Maschinen in Gang gesetzt hat und deshalb diesen ganzen Lärm verursacht.“, sagte ich.
Ich versuchte Emma zu beruhigen. Aber ich versuchte vor allem, mich selbst zu beruhigen. Ich wünschte ich hätte noch eine Flasche Jack dabei gehabt, auch wenn ein klarer Kopf von Vorteil war.
Wir liefen seit zehn Minuten durch verschieden Korridore und kamen an immer neuen Abzweigungen vorbei. Unsere Schritte wurden hastig und schneller.
„Das ist es nicht Emma. Wir haben uns verlaufen. Hier sind wir nie im Leben entlanggelaufen.“, sagte Freddi.
Ich sollte im Übrigen recht behalten, was seinen Charakter anbelangte. Aus den Gesprächen erfuhr ich, dass der Abend für ihn eher eine Art von Mutprobe gewesen war, die er eingegangen war, um wahrscheinlich Emma zu beeindrucken.

Ansonsten war er einer dieser Musterknaben, zu dessen Gewohnheiten illegales Betreten eines baufälligen Grundstücks mit anschließender Kifferei sonst nicht zum Freizeitspaß am Wochenende gehörte. Trinkt man einmal zusammen, erfährt man sehr schnell, wer dort vor dir steht. Das war zumindest immer meine Erfahrung.
„Was soll denn das heißen?!“, schrie Sid, dem der Spaß jetzt völlig abhanden gekommen war.
„Jetzt beruhige Dich, Sid. Bleibt alle stehen.“, sagte ich und wir blieben in dem dunklen Korridor stehen. Mondlicht schien lediglich durch die winzigen, vergitterten Fenster, die in vier Metern Höhe angebracht waren. Diese Korridore glichen wie einem Ei dem anderen. Sie waren wie ein Labyrinth.
„Mann, Scheiße, was ist das? Ich will hier raus! Ich will hier raus!“, schrie Freddi.
Ein Klicken und Klacken, ein Kratzen und Wetzen. Freddi, wie wir alle, hatte die Hosen gestrichen voll. Wir wussten nicht, was zur Hölle dieser Lärm sollte, der lauter und lauter wurde und immer näher an uns heran rückte. Dann rannte Freddi auf einmal los, von der schieren Panik ergriffen.
„Freddi! Freddi!“, riefen wir abwechselnd, aber wir konnten ihn nicht mehr erreichen. Wir sahen den hektisch auf und ab zappelnden Lichtkegel seiner Taschenlampe am Ende des Korridors verschwinden.
„Diese verfluchten Kinder!“, schrie Sid.
„Schon gut. Reg dich ab. Regt euch alle ab. Wir gehen jetzt los und fangen Freddi wieder ein. Und dann werden wir auch bald erfahren, welcher Motor, welche alten Leitungen oder Maschinen für diesen Krach verantwortlich sind. Verdammt! Jetzt ist Schluss mit dieser Gruselshow. Ich bin zu alt für diesen Scheiß!“, sagte ich und ich hatte wirklich die Nase und die Hose gestrichen voll.
Ich wollte aus diesem Schuppen verschwinden. Wir hatten gerade eine Bank überfallen und spielen jetzt Geisterjagd mit diesen Kindern. Trotzdem beherrschte ich mich, so gut es ging. Der Lärm wurde lauter. Immer noch ein Klimpern und Klacken und Scharren. Ich ging mit meiner Taschenlampe voran und folgte Freddi. Emma wich mir nicht von der Seite. Aber diesmal war der Grund die Angst, die sie nicht mehr losließ.
„Freddi! Komm zurück! Freddi!“, rief ich.
Der Korridor bog am Ende links ein, endete nach einigen Metern und eine rostige, alte Klapptür ebnete den Weg in einen weiteren dunklen Raum. Es war seltsam. Als wir hinein gingen verstummte der Lärm und es war still. Und diese plötzliche Stille griff nach meiner Kehle, drückte mir den Atem ab, ließ mein Herz erstarren und mich bis ins Mark erfrieren.

VI. Scheren

„Freddie? Freddie?!“, rief Emma, aber ihr Freund antwortete nicht.
Wir waren in der Kantine der alten Fabrik. Bänke und Tische aus Metall waren in einem zehn Quadratmeter großem Raum aufgereiht. Auch hier waren die Fenster zu weit oben, außer Reichweite und vergittert, wie in den anderen Teilen der Fabrik. Mich erinnerte diese Kantine, oder überhaupt die ganze Anlage, eher an ein Gefängnis, wie ich es bisher nur aus Filmen kannte – und ich sehr hoffte, dass es auch so bleiben wird.
Auf den Tischen standen teilweise noch Tabletts mit Geschirr, Gläsern und Tassen. Alles von einer dicken, dichten Staubschicht bedeckt.
„Freddie? Bist du das? Sag doch etwas! Du machst mir Angst.“, sagte Emma und trat langsam weiter in den Raum hinein, während sich der Lichtstrahl unserer Lampen nur mühselig einen Weg durch den Staub bahnte.
Am anderen Ende des Raums stand jemand vor der Tür, die vermutlich zur Küche führte.
„Du machst nicht nur Emma Angst, Freddie.“, sagte Sid und wir gingen langsam auf die stumme Gestalt zu, deren Schatten sich keinen Zentimeter bewegte.
„Hör auf mit dem Mist und sag etwas!“, schrie Sid.
Irgendetwas stimmte nicht. Ich leuchtete den Weg zu Freddie und der Staub, den wir beim Betreten des Raums aufgewirbelt haben, legte sich etwas. Ich war nur noch wenige Meter von Freddie. Die anderen folgten mir mit kurzem Abstand.
„Scheiße! Zurück! Sid, halte die Kinder zurück!“, rief ich, während ich mich reflexhaft umdrehte, um Emma zurückzuhalten. Gleichzeitig versuchte ich mich nicht zu übergeben. Letzteres gelang mir knapp, aber Emma schrie panisch auf, als der Lichtkegel ihrer Lampe auf das traf, was einmal Freddie gewesen war. Ich nahm Emma in den Arm, drehte sie von ihm weg. Sie schrie weiter, brach in Tränen aus und wollte wegrennen. Sid reagierte schnell, fing auch Jonas ab und hinderte ihn daran, wie Freddie vor ihm, einfach und in blanker Panik davon zu laufen.
Freddie war an die alte Holztür genagelt worden. Auf den ersten Blick dachte ich es seien Messer gewesen, aber es waren Scheren, große robuste Scheren, die ihm in den Brustkorb gerammt worden waren. Acht oder zehn von diesen riesigen Dingern hatten seinen Brustkorb durchbohrt und steckten in dem alten, morschen Holz der Kantinentür fest. Ebenso waren seine Arme und Beine an die Tür gerammt worden. Dort hing er, gekreuzigt. Eine weitere Schere hatte seine Stirn durchbohrt und zwei steckten in seinen Augenhöhlen. Ich gab Emma in Sids Obhut, der sich mit den beiden zum anderen Ende des Raums zurückzog.
Ich zwang mich jedoch den armen Freddie genauer zu betrachten, weil ich es weder glauben konnte, noch wollte, was meine Augen dort sahen. Durch das Viele Blut konnte ich es nicht sofort erkennen, aber sie hatten Freddie den Unterkiefer herausgerissen und es sah aus, als hätten Tiere an seinem Gesicht, Ohren, Hals und Händen herumgenagt. Ich musste mich jetzt doch übergeben.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, rief Jonas laut, dann sackte er auf den Boden, übergab sich auch und fiel in Ohnmacht. Emma zitterte und wimmerte. Ich sah, dass sie unter Schock stehen musste. Sid schüttelte nur wieder und wieder den Kopf.
„Marc! Was läuft hier für eine Scheiße?!“, schrie Sid.
„Was ist das hier?! Irgendein Psycho läuft hier herum und wird uns kalt machen! Verdammt! Wir müssen hier raus! Das gibt es doch nicht!“
Er fluchte und hatte panische Angst. Ich selbst versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben und suchte den Raum mit meiner Lampe ab. Es war dunkel, aber ich konnte niemanden ausfindig machen. Wer immer es getan hatte, musste auf der anderen Seite der Tür sein, oder wieder in den Korridoren. Ich wusste es nicht. Und was waren das für Bisse? Ein Teil von mir wollte durch die Tür stürmen und sich an demjenigen rächen, der Freddie das angetan hatte. Der klügere und auch ängstlichere Teil hielt es allerdings für keine gute Idee einem Soziopathen in eine dunkle Falle zu laufen. Wir mussten wieder zurück.„Sid! Gib mir mit Emma und versuche Jonas wieder auf die Beine zu kriegen!“, rief ich.
Dann trat ich noch einmal näher an den armen Freddie heran. Wir sollten nicht unbewaffnet weitergehen, dachte ich mir und zog mit viel Mühe vier der großen Scheren aus Freddies Brust. Sie erinnerten von der Mechanik an Geflügelscheren, nur noch eine Nummer größer. Solch eine Konstruktion habe ich noch nie gesehen. Wer baut denn nur so etwas? Ich ging mit den blutigen Scheren hinüber zu Sid. Und dann war es wieder da. Das Klicken und Klacken und das Scharren war wieder da. Diesmal war noch etwas Anderes unter den Geräuschen, etwas Neues, etwas, das zuvor nicht da war. Ein emsiges Trippeln, wie von sehr kleinen Füßen.

VII. Augen

Sid stützte den benommenen Jonas, ich stützte die benommene Emma. Die Kids waren völlig weggetreten.
„Marc, wir müssen hier raus! So schnell, wie möglich!“, sagte Sid, während wir den Korridor zurück zur großen Halle liefen.
Das Trippeln folgte uns und wurde lauter. Wir liefen so schnell wir konnten und versuchten Jonas und Emma immer wieder wach zu rütteln, aber sie waren wie traumatisiert. Der Schock saß zu tief. Ich leuchtete immer wieder nach hinten, um endlich zu sehen, was uns da überhaupt jagte, aber da war nichts. Nur Dunkelheit; vor uns und hinter uns. Und diese endlosen Korridore. Wir konnten unmöglich so viele Abzweigungen genommen haben. Und keine Türen. Nur diese handbreiten, vergitterten Fenster, die außerhalb unserer Reichweite lagen. Also mussten wir zurück. Zurück zu der Luke, aus der wir herausgekommen waren.
„Ich will nach Hause, nach Hause; will zu Mama; bitte, bitte, nach Hause...“, murmelte Emma unentwegt vor sich hin.
„Ich bringe dich nach Hause. Wir verschwinden hier und dann bist du ganz schnell wieder zu Hause. Alles wird gut. Hörst du? Alles wird gut.“, versuchte ich sie immer wieder zu beruhigen.
Dieses Klicken und Klacken. Ich war mir sicher, dass ich auch wieder dieses kratzende Geräusch hörte, dass jetzt zunehmend dominanter wurde und sich in den Vordergrund drängelte.
Vor uns war die nächste Abbiegung in diesen muffigen, staubigen, dreckigen und zugestellten Korridoren. Zwischendurch passierten wir tatsächlich hin und wieder eine Tür. Aber diese waren aus festem Stahl; regelrechte Panzertüren. Sid rüttelte verzweifelt an einer, ließ aber schnell wieder von ihr ab, als er merkte, dass er absolut gar nichts ausrichten konnte.
„Sid, was ist das?“, fragte ich ihn.
Ich leuchtete zum Ende des Korridors, als Sid seinen missglückten Versuch unternahm, die Tür zu öffnen.
„Siehst du, dort hinten? Da funkelt etwas. Dort, auf Bodenhöhe. Weiß und Rot. Was zum Geier ist das?!“, sagte ich während ich langsam einige Schritte in die Richtung des seltsamen Funkelns machte. Ich versuchte Emma für einen Augenblick in Sids Obhut zu übergeben, aber sie ließ es nicht zu und klammerte sich an mir fest.
„Schon gut, ich gehe nicht weg.“, sagte ich und mir fiel plötzlich auf, dass sich wieder diese Stille ausbreitete, bis sie alles verschlungen hatte und wir nur noch unser schnelles Atmen hören konnten.
„Marc, auf der anderen Seite ist auch dieses leuchtende Zeug.“, sagte Sid und leuchtete in die andere Richtung des Korridors.
„Augen ...“, flüsterte Jonas auf einmal.
„Was?“, fragte ich ihn verwirrt.
„Es sind AUGEN!“, schrie er.
Ich drehte mich um, denn auf einmal durchbrach das Getrappel und Kratzen wieder die Stille. Emma schrie und krallte ihre Finger fest in meinen Arm. Es schmerzt, aber das interessierte mich gerade gar nicht. Die Realität zerbrach einmal mehr. Die Puppenkadaver, die wir in der großen Maschinenhalle zurückließen kamen auf uns zu gerannt, gekrochen und gehumpelt. Jedes dieser abscheulichen Wesen trug einen spitzen, metallischen Gegenstand in seinen Händen. Messer, Scheren, Nägel; teilweise bestanden ihre Hände aus diesen Sachen und glichen Klauen. Und aus ihren ehemals leeren Augenhöhlen flackerte jetzt ein gleißendes Feuer, in dem sich eine schwarze Iris abzeichnete. Sie waren nur noch wenige Schritte von uns entfernt. Ich konnte nicht fassen, was ich dort sah.
„Verdammte Puppenzombies?!“, schrie ich lauthals und trat eines dieser Dinge gegen die Wand, als es versuchte mir mit einem höhnischem Grinsen einen rostigen Nagel in den Fuß zu rammen.
„Steht nicht wie angegossen dort herum!“, schrie ich die anderen an.
„Treten diese Dinger weg und dann nichts wie raus hier!“

VIII. Die weiße Hexe

„Verdammt, Sid, mach diese beschissene Tür auf! Das müssen hunderte von diesen Dingern sein!“, schrieb ich.
Das Adrenalin hatte Emma und Jonas von ihrer Benommenheit wieder völlig losgerissen und wir drei traten gemeinsam diese hämisch grinsenden Puppen in alle Richtungen. Chuckies. Sie sahen aus wie diese Puppe aus dem Film. Nur ihre Augen, sie glühten in diesem dunklen Feuer. Emma schrie. Eine dieser Kreaturen hatten sie mit ihren Klauenhänden in Emmas Bein gekrallt. Ich trat auf dieses Biest ein, bis sich sein Torso von seinen Armen löste und ich ihn in die Dunkelheit treten konnte. Dann zog ich die verbleibenden kleinen Armen aus Emmas Bein. Emma schrie vor Schmerzen und ich hoffte, dass es nicht zu stark bluten würde. Währenddessen sprangen mich fünf, sechs weitere von hinten an und versuchten ihre kleinen, scharfen Waffen und spitzen Hände in meinen Rücken zu bohren. Jonas reagierte schnell und schleuderte und trat sie von mir, bevor sie Gelegenheit hatten, mich ernsthaft zu verletzten. Jonas selbst hatte Schnitt- und Stichwunden an seinem Hals, im Gesicht und Blut rann von seiner rechten Schulter und durchtränkte sein Hemd. Ein heilloses Gemetzel, in dem wir kaum etwas sehen konnten, denn unsere Taschenlampen fielen uns immer wieder aus den Händen und ohne sie wären wir verloren gewesen. Es war ein Wunder, dass diese Viecher es noch nicht geschafft hatten, uns die Kehle zu durchtrennen.
„Sid!“, schrie ich.
„Ich habs gleich!“, schrie er und stürzte sich noch ein letztes Mal gegen die alte rostige Tür.
Er musste unglaubliche Schmerzen haben, aber er hatte es endlich geschafft. Das verrostete Schloss zerbrach und wir stürzten und taumelten hinein, die Puppen immer noch an unseren Körpern, sich festkrallend und zustechend.
Dann geschah etwas unerwartetes. Diese Mörderpuppenkadaver mit ihren Höllenfeueraugen zogen sich zurück und zwar mit einem ängstlichen Wimmern. Die Mimen ihrer Plastikvisagen wandelten sich in blankes Entsetzen. Mit ihrem Klicken und Klacken und Wimmern waren sie innerhalb eines Augenblicks verschwunden. Ein Gefühl des Triumphs und der Schadenfreude durchlief mich. Jedoch nur kurz. Dann machte ich mir Sorge, wesshalb diese Dinger auf einmal flohen. Jonas preschte zur Tür, schleuderte sie zu und sah sich hilfesuchend um.
„Nun macht schon! Sucht etwas womit wir sie verbarrikadieren können!“
Wir durchleuchteten den Raum und fanden eine lange Bank, die Emma, Sid und ich schnell gemeinsam zu Tür schleiften. In dem Raum waren noch mehrere solcher schweren Bänke. Wir holten noch drei und schoben sie voreinander. Dann erst fiel uns auf, dass es Kirchenbänke waren. Ich leuchtete den Raum ab und sah, dass es eine Kapelle war. Sie hatte die Größe eines Seitenschiffs, wie ich es aus meiner eigenen Kirche kannte – oder eher dunkel zurück erinnerte -, in der ich damals konfirmiert wurde und die Gottesdienste besuchte. Der Raum war etwa fünf mal Zehn Meter breit, Bleiglasfenster waren an seinen Seiten angebracht, auf denen die Kreuzigungsszene dargestellt war. Sechs Fenster, jedes stellte einen Abschnitt seines Lebensendes dar: Den Einzug in Jerusalem, die Vertreibung der Händler aus dem Tempel, seine Festnahme, das Gericht vor Pilatus und seine Kreuzigung.
„Marc!“
Sid holte mich aus meinen Abschweifungen zurück. Vielleicht sehnte sich mein Geist gerade in diesem Augenblick nach einem Zufluchtsort.
„Kommen wir nach draußen, wenn wir die Fenster zerschlagen?“, fragte Sid.
Ich nickte. Ja, das könnte unser Ticket nach draußen sein. Ich suchte nach einem Gegenstand, irgendetwas, womit wir diese Fenster einschlagen konnten.
„Lasst es und hiermit versuchen!“, rief Emma aus der einen Ecke des Raums.
Sie hatte ein Weihwasserbecken entdeckt, dass in ein schweres Metallgestell eingelassen war. Wir liefen zu ihr und ich überprüfte des Gestells. Es war jedenfalls schwer genug, um eines der Fenster zu zertrümmern.
„Na gut, alle zusammen … und los!“, trieb Sid uns an.
Wir hoben das Gestell hoch. Es war schwer, aber mit genügend Schwung sollten wir es die circa einen Meter und fünfzig hinauf durch das Fenster werfen können – hoffte ich zumindest.
„Dort wurden sie getauft.“, sagte Emma und ließ plötzlich los.
„Was?“, schrie Jonas.
„Emma! Lass den Scheiß, beweg dich wieder hierher und …“
Jonas wurde von Emmas Lachen unterbrochen. Sie lachte immer lauter, beinahe hysterisch und ging in langen und langsamen schritten Richtung Altar. Sie spielte dabei mit dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe; ließ ihn den Altar hinauf und wieder hinunter wandern.
„Wilhelm war so glücklich. Ein Junge und ein Mädchen. Wir alle waren glücklich.“, sagte sie und ihre Stimme änderte sich. Sie klang auf einmal nach jemand anderem. Sie lachte und die Art, wie sie sprach, glich einem kindischen Singsang.
Das war es!, dachte ich.
Sie hatte die Nerven verloren und dreht gerade völlig durch. Jonas und Sid mussten dasselbe gedacht haben, als wir uns einander fragend und ratlos ansahen.
„Bring deine Freundin wieder zur Vernunft! Marc, lass uns jetzt endlich diese beschissene Scheibe einschlagen. Ich denke, der liebe Gott wird uns verzeihen, denn es ist hier wohl eher die Hölle, die wir demolieren!“, sagte Sid.
„Alles klar! Sie zu, Jonas!“, drängte ich den Jungen noch einmal.
Sid und ich versuchten es allein und schoben das Metallgerüst erst einmal, bis wir wenige Schritte vom Fenster entfernt waren. Jonas ging zum Altar am anderen Ende der Kapelle, vor dem Emma nun stand, gehüllt in einen Schleier aus Schatten, Staub und Mondlicht, die kreuzförmigen Öffnungen an der Decke des Altarraums fiel.
„Emma?“, fragte Jonas unsicher, als er vorsichtig seine Hand auf ihre Schulter legen wollte. Ihr Lachen ließ ihn zögern und in der Bewegung erstarren. Nein, es war nicht ihr Lachen. Und nun sah er auch, dass ihr Haar nicht vom Mondlicht weiß gefärbt worden war. Es war auf einmal weiß, wie der Mond selbst. Jonas senkte den Arm und trat wieder einen Schritt zurück.
„Emma?“

IX. 1914

Emma war nicht mehr Emma. Jonas entfernte sich weitere Schritte von ihr, ohne dabei den Lichtkegel seiner Taschenlampe von ihr schweifen zu lassen. Sid und ich stellten langsam das Metallgerüst auf den Boden. Ohne dabei den blick von dem zu nehmen, was gerade noch Emma war. Unfähig zu handeln, unfähig zu sprechen, verharrten wir. Jonas erreichte uns. Eher unbewusst und aus Reflex nahm ich ihm die Lampe aus der Hand, denn sie zitterte so sehr, dass er sie wahrscheinlich hätte fallen lassen.
Im Lichtkegel der Lampe und in den wenigen Mondstrahlen, die durch den winzigen Einlass in der Decke des Altarraums fielen, bedeckte die Gestalt ihr Gesicht mit ihren fahlen, dürren Händen und … weinte. Es war, trotz allem so mitleiderregend. Ich wollte fast auf Sie zu gehen. Doch die unbekannte, unwirkliche Stimme hinter ihrem Weinen hielt mich davon ab. Sie weinte, immer heftiger, beinahe hysterisch. Sie schrie und weinte dann weiter. Ihr Gesicht immer noch hinter in ihren Händen begraben.
„Marc, lass und abhauen!“, flüsterte Sid mir zu.
Genau das rieten mir auch mein Verstand und all meine Sinne. Ich war mir sicher, dass auch Jonas sofort dabei wäre; alle romantischen Vorstellungen von der Treue der Freundschaft zum Trotze.
„Verflucht; und was ist mit der Kleinen?!“, flüsterte ich zurück.
„Nicht ist mehr mit ihr.“, hallte es durch die Kapelle.
Eine Stimme, die aus allen Richtungen zu kommen schien. Eine Stimme, als würde eine sehr alte Frau durch eine Blechdose sprechen. Die Stimme war unwirklich, so weit weg, gleichzeitig so nah.
„Sie wird auch nicht mehr wiederkommen. Und ihr werdet ihr gleich folgen. Eine Seele für eine Seele.“, sagte die Stimme.
Dann erst bemerkten wir, dass diese krächzende Stimme von Emma kam. Sie nahm jetzt langsam ihre Hände von ihrem Gesicht und enthüllte etwas, dass ganz und gar nicht mehr Emmas Gesicht war. Es war jetzt aschfahl und ihre Gesichtszüge waren deformiert, als versuchte sich ein Gesicht durch Emmas eigenes Gesicht zu pressen. Ihre Haare waren weiß und nicht mehr das dunkle Blond mit den hellen Strähnen. Die Emmagestalt ging langsam durch den Altarraum und strich mit ihren Fingerspitzen über das staubige Holz des Altars. Dann erst wandte sie sich wieder in unsere Richtung und sah uns an. In diesem Moment wichen wir übrigen drei gleichzeitig noch einige Schritte zurück; denn es waren schwarze, dunkle Höhlen, die anstelle ihrer Augen getreten waren. Und wie wir mit zittrigen Händen, absolut unfähig irgendetwas zu tun oder auch nur zu denken, dort standen und die Taschenlampen auf diese Gestalt richteten, grinste und dieses Ding an. Das Grinsen wurde breiter und der Mund öffnete sich. Anstelle von Zähnen und Zunge sahen wir wieder nur ein schwarzes, dunkles Etwas. Augen- und Mundhöhle waren nicht einfach nur leer, nein, sie waren Öffnungen, Fenster durch die man in eine andere, dunkle Welt sehen konnte. Es war keine schwarze Leere, es war eine sich bewegende dunkle Masse.
„Willkommen, Kinder!“, sagte sie.
Diese Worte drangen zwar aus dem Mund der Emmagestalt, aber die Stimme hallte durch die Kapelle, wie ein Echo von hundert Stimmen. Es war nicht Emmas Stimme.
„Was zur Hölle …“, begann Sid, aber das Wort wurde ihm von dem Wesen abgeschnitten.
„Ganz recht, die Hölle.“
Sie lächelte weiter und verzog ihr Gesicht dabei zu einer schrecklich entstellten Grimasse. Es war, als ob sich unter ihrem Gesicht noch etwas bewegte, als ob Emma versuchte ihr eigenes Gesicht durch diese Fratze zu pressen. Dann wandte sich die Gestalt dem Altar zu. Immer noch konnte ich mich nicht von der Stelle rühren. Sid und Jonas schienen ebenso gefesselt zu sein, wie ich. Es war nicht nur die Angst. Irgendetwas schien meinen ganzen Körper zu umgreifen, als hätte sich eine riesige, kalte Klaue um mich gelegt.
„Diese Fabrik, war damals bereits seit über hundert Jahren im Besitz meiner Familie. Wir produzierten Puppen und Spielzeug. Wir behandelten unsere Arbeiter gerecht und unser Spielzeug brachte in so vielen schwierigen Zeiten den Kindern Freude. Es war an mir, die Fabrik, dieses herrliche Unternehmen, zusammen mit meiner eigenen Familie in das nächste Jahrhundert zu führen.“
Die Gestalt schritt langsam im Licht unserer Lampen und unter dem fahlen Mondschein den Altarraum auf und ab und streichelte dabei sanft über die hölzerne, verstaubte Anrichte. Sie schien in ihren Gedanken die Zeit, von der sie uns erzählte, gerade noch einmal zu erleben. Dann verzogen sich ihre Gesichtszüge einmal mehr zu einer zornigen Fratze.
„Ich habe mich in Friedrich getäuscht. Nein!“, fluchte sie laut und der Hall ihrer Stimme schien beinahe die Fabrik zum Einsturz zu bringen.
„Nein, er hat mich getäuscht, mich hintergangen! Und Natascha, der kleine Wilhelm und Karl, meine lieben Kleinen!“, dann weinte sie wieder; beinahe hysterisch und sackte zu Boden.
Wir drei hatten alle panische Angst, konnten uns immer noch nicht bewegen und wussten absolut nicht weiter. Wir konnten nur dieser … Hexe zuhören.
„Marc, ich kann mich keinen Zentimeter bewegen, was ist mir dir? Und Jonas?“, flüsterte Sid.
„Nein, keinen Zentimeter. Ich weiß nicht, was los ist, aber so bald wir es wieder irgendwie können, werfen wir diese Scheibe ein und verpissen uns!“, flüsterte ich.
„Jonas? Jonas?!“, aber ich bekam keine Antwort. Sein blick war starr auf die Hexe gerichtet, die mit ihrem Monolog fortfuhr.
„Friedrich! Er wollte die Fabrik zur Waffenfabrik umbauen; für Geld; für Krieg; für Tod! Ich stellte mich ihm in den Weg. Wir stritten, hier in dieser Fabrik. Die Arbeiter waren weg; nur die Kinder spielten noch mit den neuen Puppen im Lager.“
Die Hexe stand wieder auf; langsam, die Hände zu Fäusten geballt. Sie sah uns wieder an, mit ihren schwarzen, toten Augen. Wir hielten immer noch die Lampen in unseren Händen, aber wir waren nicht in der Lage, den ihr mit dem Strahl unserer Lampen senkten die Lichter der Lampen ein wenig. Dann sahen wir, dass in der Finsternis ihrer Augenhöhlen ein Feuer brannte, wie wir es von bei diesen kleinen, miesen Killerpuppen schon einmal gesehen hatten. Ein unnatürliches Feuer; keins, dass man aus dieser Welt kannte.
„Er stach mich nieder!“, schrie sie und wieder erbebte die Fabrik, Staub wirbelte auf und tauchte den Raum in einen Nebel. Sie kam langsam näher. Das Funkeln ihrer Augenhöhlen watete durch den Staub.
„Dachte, er hätte mich getötet. Hatte er aber nicht. Stattdessen sah er unseren kleinen Karl am anderen Ende der Halle stehen. Er hatte alles gesehen. Friedrich rannte zu ihm, Karl rannte weg. Ich konnte nichts tun. Er brachte sie alle um. Er verbrannte ihre Leichen im Ofen!“
Jetzt stand Sie direkt vor uns. Ich konnte ein leises Tropfen hören und blinzelte an Jonas hinunter. Er stand in seinem eigenen Urin; aber immerhin, er stand noch und war bei Bewusstsein. Das Wesen war zwei Meter von uns entfernt und lächelte uns an; ein zahnloses Grinsen, dahinter ein dunkles Portal.
„Eine Arbeiterin war auch noch in der Halle.“, sagte sie und uns blieb nichts anderes übrig, als ihr zuzuhören.
„Sie hatte ebenso alles mit angesehen. Sie brachte mich weg, floh mit mir und wusste, dass ich bald an der Stichwunde sterben würde. Sie brachte mich zu ihrer Großmutter, hinunter zu einem entlegenen Ort im Arbeiterviertel; und dort riefen wir den Dämon.“
Die Bänke hinter uns, mit der wir den Eingang verbarrikadiert hatten, bewegten sich, schoben sich beiseite und legten den Eingang wieder frei. Immer noch konnten wir uns nicht bewegen. Ich war mir sicher, dass dieses Wesen uns beeinflusste. Ich konnte lediglich aus dem Augenwinkel beobachten, wie sich die Tür langsam öffnete und trippelnde Schatten durch sie hindurch kamen. Diese kleinen Monster; sie waren wieder hier.

„Eine Zigeunerin und ihre Großmutter. Sie gehörten einer uralten Familie von Hexen an. Während ich in ihrer Hütte auf dem Bett lag und starb, sagte sie mir, sie sei die Nachfahrin eines Rachedämons, der das Schicksal der Menschen seit Jahrhunderten lenkt und beeinflusst.“
Die Puppen, hunderte dieser kleinen Biester, tippelten und krochen durch die Kappellentür und verteilten sich in der Kapelle und ihre glühenden Augen tauchten den Raum in ein Schattenspiel aus roten und orangenen Tönen. Die Kreatur wandte sich wieder von uns ab, ging zu den Puppen und streichelte einigen sanft über den Kopf. Ich ahnte nichts Gutes.
„Im Austausch meiner Seele gab ich meinen Körper dem Dämon hin. Er brachte mir meine Kinder zurück aus der Unterwelt und wir haben uns an Wilhelm für das, was er uns genommen hat, gerächt. Komm herein Liebling, es ist Zeit!“, sagte sie und erhob ihren rechten Arm zur einladenden Geste. Eine Gestalt kam herein. Durch den Staub konnte ich sie nicht erkennen. Lediglich die Umrisse eines Mannes. Er ging durch den Raum auf die Hexe.
„Ich fasse es nicht. Er!“, flüsterte Sid.

X. ASCHE ZU ASCHE

„Hallo Sid! Wie geht es Dir? Aber ich seh schon; du konntest dich mit meinen Millionen noch nicht so ganz ...“, sagte der Mann und fuhr mit seinem rechten Zeigefinger über eine der Bänke. „… aus dem Staub machen“.
Er ging langsam an den Puppen vorbei und stellte sich vor die Hexe, die still lächelte. Sie war furchteinflößender als zuvor.
„Ich weiß, du hättest mich hier in dieser Hölle wahrscheinlich als letztes erwartet, aber das Schicksal spielt ein seltsames Spiel, nicht wahr?“, sagte der Mann.
Durch den vielen Staub konnte ich nicht viel erkennen. Es sah so aus, als wären sie zwei alte Bekannte, die sich gegenüberstanden und schweigend kommunizierten. Dann drehte er sich um und kam durch den Nebel aus Staub langsam auf uns zu. Mir war aufgefallen, dass die Puppen ihn nicht besonders leiden konnten. Viele scharten mit ihren Nägeln, Scheren und Klauen auf den Bänken und auf dem Boden. Sie knurrten leise und fauchten. Es war seltsam, aber ihr Zorn erfüllte den Raum, wie eine spürbare physische Präsenz. Sie wollten diesem Typen am liebsten an die Gurgel springen, so viel war sicher.
„Euer Freund hat es leider nicht geschafft, wie ich hörte. Tut mir leid. Und ihr lebt aus dem einfachen Grund, weil sie nur drei von euch braucht. Wer konnte das ahnen?“, sagte er und blieb vor uns mit einem breiten Grinsen stehen. Ich konnte es nicht glauben. Es war Sids Chef, Rüdiger. Dieser Arsch. Was hatte er mit all dem zu tun?
„Es ist ein Spiel. Ein Spiel mit und um die Seelen der Menschen. Es gibt Götter und Dämonen, meine Freunde, und für diese sind wir nur Marionetten, Schachfiguren, Puppen. Ich weiß nicht, ob es zwischen all diesem Wirrwarr noch einen Gott gibt. Aber von der naiven Vorstellung, dass der Mensch der König dieser kleinen Welt sei, wurde ich vor langer Zeit auf unangenehme Weise befreit. Meine Freunde, es tut mir leid, aber ihr werdet erst einmal zur Hölle fahren!“, sagte Rüdiger.
Er lächelte. Ein falsches Lächeln, indem sich falsches Mitleid spiegelte. Die Hexe stand währenddessen reglos vor dem Altar, beobachtete uns durch die Finsternis ihrer leeren Augen. Oh Emma, wie kriegen wir dich nur wieder dort raus? Noch immer hatten wir keine Kontrolle über unseren Körper; wir konnten uns nicht bewegen. Selbst das Sprechen fiel schwer.
„Was wollt ihr von uns, Rüdiger – oder Friedrich, oder wer verdammt noch mal du gerade bist? Und was zur Hölle soll das alles hier?“, fragte Sid seinen ehemaligen Chef. Sid hatte eins und eins zusammengezählt. Friedrich, dieser psychopathische Drecksack, dem wir den ganzen Schlamassel zu verdanken hatten, steckte in Rüdigers Körper. So wie, diese Hexe Emmas Körper okkupierte.
„Was ist hier verdammt noch einmal los?!“, schrie er.
„Um Seelen um sich zu scharen, um sein Dasein weiterhin in dieser Welt fortsetzen zu können, ohne wieder zurück in die Hölle beordert zu werden, benötigt es ein wenig Raffinesse – und vor allem Geld, Einfluss, ein Händchen für Logistik und so weiter. Die Ewigkeit will man doch mit so viel Komfort wie nur möglich genießen, nicht wahr?", sagte Rüdiger und wandte sich wieder von uns ab. Er ging langsam durch den Raum, aber auf vorsichtiger Distanz zu den Puppen.
„Ich verstehe es nicht.“, gab ich laut zu.
Ich wollte wenigstens die ganze Geschichte wissen, wenn ich schon mein Leben für sie hergeben musste.
„Als meine Frau damals langsam aber sicher an der Stichwunde, die ich ihr zugefügt habe, starb, ging sie mit der Zigeunerin, die ihrerseits eine Hexe gewesen ist – wie ihr schon gehört habt – einen Pakt ein … Au!“, schrieb Rüdiger auf; eine der Puppen hatte sich in seiner Wade festgebissen. Er riss sie los und schleuderte sie gegen die Wand. Eine Reaktion, die er schnell bereute. Die Hexe machte nur eine kurze, schnelle Bewegung mit der Hand und Rüdiger, oder Friedrich, oder wer auch immer, wurde von einer unsichtbaren Gewalt ergriffen und gegen die Wand geschleudert. Die Hexe gab ein widerwärtiges, tierisches Fauchen von sich und alle anderen Puppen stürzten sich scharenweise auf ihn.
„Halt!“, schrie die Hexe. „Lasst ihn. Wir brauchen ihn noch. Habt Geduld, Kinder.“, sagte sie.
Rüdiger stand wieder auf und klopfte vergeblich den Staub von seinem Designeranzug. Aber in diesem Moment merkte ich, dass die Benommenheit für einen kurzen Augenblick nachließ und ich mich wieder frei bewegen konnte. Ich wusste nicht, ob Sid und Jonas auch von ihrem Bann gelöst waren, oder es nicht merkten, aber ich wusste, dass ich vielleicht nur wenige Sekunden haben werde, ehe mich die Hexe wieder kontrollieren wird. Dieses Biest musste sich also konzentrieren, um uns festzuhalten. Sid stand neben mir und sein Rucksack war geöffnet. Meine linke Hand glitt hinein und nahm schnell den einzigen Gegenstand heraus, den ich ergreifen konnte. Vielleicht werde ich ihn gebrauchen können. Mehr konnte ich nicht tun, dann hatte die Hexe wieder die Kontrolle.
„Ihr verdammten kleinen Biester!“, fauchte Rüdiger. Ich konnte in der staubigen Dunkelheit nicht viel erkennen, aber er hatte Schmerzen; und ich einen Moment der Genügsamkeit.
„Wo bin ich stehen geblieben?“, fragte Rüdiger. Er stöhnte und reckte sich und kam wieder auf uns zu.
„Ach ja. Eure Seelen werden Platz machen müssen, denn wir wollen die kleinen wiederhaben. Es wird ein Ritual geben. Ich werde wieder frei sein, nachdem mich meine Frau über hundert Jahre versklavt hat. Sie wird wieder mit ihren Kindern zusammenkommen und alle sind glücklich … na, ja, bis auf … ihr wisst schon.“, sagte er läppisch und verschwand währenddessen kurz hinter der Eingangstür. Ja, bis auf uns. Weil wir dann tot sein werden und gespannt darauf sein können, was uns wohl nach dem Tod erwarten wird; denn offensichtlich ist es nicht das Ende. Trotzdem habe ich keine Lust es herauszufinden. Rüdiger öffnete die Stahltüren und fuhr einen kleinen Karren herein, auf dem sich Benzinkanister, Kerzen und Laken befanden. Das Equipment für das Ritual, nahm ich an.
Ich stand mittlerweile wieder unter der Macht der Hexe und konnte mich nicht bewegen. Wenigstens konnte ich immer noch die Lampe und den kleinen Gegenstand, den ich aus Sids Rucksack gefischt habe, fest in der Hand halten, ohne, dass er mir auf den Boden fiel. Rüder fuhr mit dem Karren an uns und an den Puppen vorbei, hinüber zum Altar, wo seine Exfrau auf ihn wartete. Natürlich, denn die Familie soll ja auch bald wieder vereint sein. Sie grinste. Wenn Sie doch nur mit diesem verdammten Grinsen aufhören würde! Er legte die weißen Laken auf dem staubigen Boden vor dem Altar aus und stellte Kerzen im Halbkreis drum herum auf. Er zündete sie mir einem Zippo an, dass er aus seiner Hosentasche gefischt hatte und kam dann wieder zu uns.
„Nachdem die Hexe damals ihren Zauber gesprochen hatte, wurde Elenore geheilt; ihr Körper wurde geheilt. Diese dunkle Magie gab ihr übermenschliche Kraft. Und dann suchte sie mich auf. Noch in derselben Nacht. Ich konnte nicht glauben, dass sie die Wunde überlebt hatte. Wollte sie einfach noch einmal töten. Ich dachte, ich hätte es beim ersten Mal nicht richtiggemacht. Sie tauchte auf einmal in unserem Schlafzimmer auf. Ich war entschlossen, sie zu erschlagen, stattdessen prügelte mich dieses Miststück halb tot, schrieb dabei wie eine Furie und lachte. Ich wusste, dass es nicht mehr nur Elenore war.“, sagte Rüdiger und verstummte.
Vorsichtig drehte er den Kopf Richtung Elenore. Er hatte Angst vor ihr. Aber sie bewegte sich nicht und grinste nur weiter. Worum auch immer ihre Gedanken gerade kreisten, das Wesen schien sich in diesem Moment mit anderen Dingen zu befassen, denn Rüdiger Worte kümmerten sie nicht im Geringsten. Vorsichtig und diesmal mit mehr Bedacht wandte sich Rüdiger wieder an uns.
„Ich bin in dieser Nacht gestorben, aber die Hexe holte mich zurück. Und ich wurde eingeweiht. Es war nicht mehr nur Elenore in diesem Körper, es war die Seele der Mutter der Zigeunerin. Es war eine Seele in Elenores Körper, die seit Jahrtausenden von Körper zu Körper reist. Ein alter Dämon.“, sagte Rüdiger.
„Bullshit!“, fauchte Sid und versuchte vergeblich gegen den Bann danzukämpfen.
Rüdiger war sichtlich überrascht und ich auch. Denn ich meinerseits brachte unter dem Bann keinen Ton mehr heraus. Aber Rüdiger beachtete ihn nicht mehr.
„Mit dir fangen wir an. Tut mir leid, Junge, aber dann hast du es wenigstens hinter dir.“, sagte Rüdiger, packte Jonas und warf ihn sich über die Schulter. Jonas konnte nur leise wimmern und weinen. Wie Sid und ich, war auch er immer noch gelähmt und stand unter dem Bann der Hexe. Rüder schleppte den armen Jonas hinüber zum Altar. Dort legte ihn Rüdiger auf die Laken. Elenore stand immer noch still vor dem Altar; beobachtete alles; wartete. Dann griff Rüdiger in die Innentasche seines Jacketts und nahm ein kleines Buch heraus. Er durchblätterte es und hatte wohl gefunden, wonach er suchte. Ich hoffte, dass jetzt keine Herzrausreißnummer kommen würde. Irgendetwas mussten wir unternehmen.
„Lass den Scheiß! Du mieser Penner! Lasst den Jungen in Ruhe!“, schrie Sid und wir gaben alles, um uns zu befreien. Vergeblich. Rüdiger baute sich mit dem kleinen, zerfledderten Buch vor Jonas auf und gab irgendeinen Kauderwelsch von sich. Es war keine Sprache, die mir irgendwie bekannt war. Die Puppen setzten sich in Bewegung und positionierten sich im Halbkreis um den Altar, wie bei einem Abendmahl. Die Atmosphäre in der Kapelle wurde dichter, war aufgeladen mit einer Energie, die alles und jeden elektrisierte. Eine unbeschreibliche Macht entfaltete sich dort. Elenore streckte die Arme von sich und öffnete ihre Augen und ihren Mund unnatürlich weit, wodurch sich die Grimasse noch stärker verzerrte und an Edward Munchs "Schrei" erinnerte. Die Finsternis drang langsam aus ihr heraus, als wäre Elenore ein Portal. Ein Übergang. Das musste hier also passieren. Sie transferierten ihre alten, verkommenen Seelen in unsere Körper, um weiter zu existieren. Ich konnte mir zu dem Zeitpunkt keinen anderen, sinnvollen Reim auf all das machen. Aber ich merkte, dass Elenores Einfluss auf uns, ihre lähmende Wirkung auf unseren Körper, nachließ, denn ich konnte mich wieder mehr und mehr bewegen. Rüdiger blätterte in seinem Buch und las weitere Abschnitte dieser Beschwörung vor.
„Marc.“, flüsterte Sid. „Ich glaube, ich kann wieder laufen. Was ist mit dir?“
„Ich denke ja.“, sagte ich. „Was ist mit Emma und Jonas?“
„Hier können wir nichts für sie tun. Lass uns verschwinden und uns einen Plan C überlegen.“
Sid hatte recht. So leid es mit tat und so mies ich mich bei dieser Entscheidung fühlte. Aber vielleicht konnten wir die beiden retten, wenn wir erst wissen, was hier vor sich geht. Sterben wir jetzt, oder lassen wir sie von uns Besitz ergreifen, helfen wir ihnen nicht.

Die Finsternis, die aus Elenore heraustrat nahm jetzt mehr und mehr den Altarraum ein und beugte sich über Jonas, der nur weiter wimmerte und mit weit aufgerissenen, Panik durchfluteten Augen seinem Schicksal entgegensah.
„Los.“, flüsterte Sid und lief leise und schnell in Richtung Tür.
Ich folgte ihm. Wir waren fast durch die Tür, aber ich stieß mit meinem linken Fuß gegen einen Metalleimer, den ich in der Dunkelheit übersehen hatte. Natürlich! Sid und ich blieben stehen und sahen vorsichtig zurück zum Altar. Was hatten wir erwartet? Der Lärm blieb nicht unbemerkt und drei Dutzend bösartige, grimmige Puppen sahen uns mit flammenden Augen an. Rüdiger sah zu uns hinüber.
„Holt sie!“, schrie er.
Die Puppen schrien grell auf, ein metallisches Gekrächze, dass mein Trommelfell zerreißen wollte.
„Lauf!“, schrie Sid und rannte los.
„Wo lang? Wir müssen zurück zum Tunnel!“, schrie ich und hörte, wie die Puppen hinter uns her trampelten.
„Diese Tür war nur eine, vielleicht zwei Abzweigungen von der Maschinenhalle entfernt. Wir haben nur diese eine Chance!“, schrie Sid und rannte den Korridor entlang.
Eine Abbiegung weiter und der Korridor erstreckte sich leider weiter in die Dunkelheit. Nur unsere Taschenlampen leuchteten den Weg in der Dunkelheit. Die Puppen waren schnell. Sie kamen näher und ihren Schreien nach zu urteilen, waren sie stink sauer. Noch eine Abbiegung. Es war die Maschinenhalle!
„Weiter! Dort vorne muss die Luke sein!“, schrie Sid.
„Scheiße! Du hast doch Steine draufgelegt.“, sagte ich. „Sieh zu, dass du sie frei bekommst. Ich lenke diese Viecher ab!“
Sid machte sich daran, den Steinhaufen von der Luke zu entfernen.
„Hey ihr kleinen schwanzlosen Arschkriecher! Kommt her und ich zeig euch was ich mit Puppen gemacht habe, als ich klein war!“, sagte ich – gespielt habe ich mit Puppen. Verdammt, ich wusste nicht was ich sagen sollte.
Ich leuchtete wie wild mit der Taschenlampe umher und lief auf die andere Seite der Halle. Ich hörte, wie die Puppen durch den Eingang trappelten. Auf der anderen Seite der Halle fand ich verschiedene Armaturen; rostig und staubig. Auch einen Sicherungskasten. Unwahrscheinlich, aber ich probierte es trotzdem. Und tatsächlich. Es gab Strom und die Sicherungen sprangen nicht wieder heraus. Ein paar Lampen knallten durch, andere blieben sogar an und tauchten die Halle in ein dunkles, orangenes Licht. Ich lief hastig weiter.
„Hey, ihr miesen kleinen Scheißviecher! Hier bin ich!“, schrie ich und war mir sicher, dass mein Ablenkungsmanöver funktionierte. Sie kamen auf mich zu. Ich rannte weiter und hatte einen Bogen geschlagen, so dass ich fasst wieder an der Eingangstür war. Aber die Puppen waren gewiefter, las ich dachte. Auch sie hatten sich aufgeteilt. Jedenfalls standen einige dieser kleinen Höllenpinocchios vor mir und hielten ihr übliches Equipment aus Messern, Nägeln und Scheren für mich parat. Gerade wollte ich wieder zurück, als ich neben mir eine Reihe von verschlossenen Kanistern stehen sah. Benzin für die Motoren der Maschinen. Vielleicht war noch genug drin. Denn was ich im Altarraum aus Sids Rucksack fischen konnte, war der Bunsenbrenner, den ich immer noch in der Hand hielt.
Die Puppen trippelten mit ihrem fiesen Grinsen und ihren energischen kleinen Schritten auf mich zu. Ich stürzte mich auf einen der Kanister, merkte gleich, dass er noch zur Hälfte gefüllt war, schraubte ihn schnell auf und leerte ihn im hohen Bogen über den kleinen. Sie mochten es nicht und schrien auf. Ein Anflug von purer Schadenfreude überkam mich.
„Braucht ihr vielleicht Feuer?!“, sagte ich, stellte den Bunsenbrenner an und entzündete die Benzinspur, die zu den kleinen, miesen Chuckies führte. Ich lächelte und winkte ihnen zum Abschied. Die Puppen schrien und quiekten und lösten sich mit bestürzter Miene vor meinen Augen in ihre Bestandteile auf. Herrlich. Das sollte genug Aufmerksamkeit erregt haben, um auch die übrigen Puppen von Sid weg zu locken. Aber jetzt sollte ich schleunigst von dort weg, denn es blieben immer noch genug übrig, um mit mir schlimme Sachen anzustellen. Ich steckte den Brenner an meinen Gürtel und nahm noch einen Kanister mit. Dieser war sogar noch voller. Sie erwiesen sich als durchaus praktisches Dämonenpuppenvernichtungsmittel.
Während die übrigen Puppen zu ihren schmorenden Kameraden liefen, rannte ich zurück zu Sid. Er hatte fast sämtliche Steine wieder von der Luke entfernt. Ich half ihm beim Rest. Und dort war unser Ausgang. Die Luke. Sid klappte sie hoch. Er stieg hindurch. Ich setzte meinen Fuß hinein und warf noch einen Blick zurück. Da sah ich sie. Die Hexe. Hinter ihr stand Rüdiger. Neben ihr brannten ihre Kinder. Sie schrie. Der Schrei trug diese Macht in sich. Er ließ das ganze Gebäude erzittern. Die wenigen Fenster, die noch in Stand waren, zersprangen in kleine Scherben und vielen von den Wänden. Die Halle musste jeden Moment einstürzen. Durch alle Furchen und Ritzen drang Staub. Die Hexe schrie unentwegt weiter, hob ihre Hand und deutete ihren Kleinen uns zu fassen. Auch Rüdiger stürmte in unsere Richtung. Er war voller Blut. Dieser Mistkerl! Jonas, es tut mir leid! Emma!
„Marc! Beweg Deinen Arsch da raus!“, schrie Sid aus dem Tunnel zu mir hinauf.
Ich stieg durch die Luke, als mein Blick auf drei rostige Leitungen fiel. Gas. Ich verließ die Luke wieder.
„Marc!“, schrie Sid.
Die Puppen und Rüdiger waren nicht mehr weit weg. Sie wurden aufgehalten. Ein Teil des Dachs stürzte ein, begrub sie leider nicht, aber es verschaffte mir ein paar Sekunden. Ich nahm einen Betonklotz und schlug ihn gegen die rostigen Leitungen. Sofort hatte ich ein Loch hineingeschlagen. Und der Gaszähler neben dem Verteilerkasten ratterte los. Ich schnappte mir den Benzinkanister und während ich die Luke hinab stieg hinterließ ich eine breite Benzinspur.
Sid sah aus, als hätte er mich am liebsten gleich selbst erwürgt, sah dann aber, was ich vorhatte.
„Na dann los!“, sagte er und wir rannten den engen Schacht entlang. Ich zog die Benzinspur hinter mir her. Ich hörte das Fauchen und Schreien der Puppen. Sie hatten die Luke erreicht. Ich zündete den Brenner an und warf ihn auf die Benzinspur. Sid und ich rannten so schnell wir konnten. Die Puppen schrien ein letztes Mal auf. Rüdiger schrie. Dann eine Explosion. Der Schacht bebte. Ich stürzte gegen eines der vielen Rohre im Schacht und tauchte in die Dunkelheit.

XI. Frei

Zwei Jahre sind vergangen. Sid und ich hatten überlebt. Und wir kamen nicht in den Knast. Die Explosion hatte die ganze Fabrik zum Einsturz gebracht. Sid hatte mich wieder wachgerüttelt, als ich durch den Schlag gegen meinen Kopf kurz weggetreten war. Der Schacht glich einer Sauna. Heizrohre waren geplatzt. Sid stützte mich und wir wateten durch den heißen Dampf zurück, bis wir wieder unter der Bank waren. Das Gebäude wurde wegen der Explosion geräumt. Die Polizei war dort gewesen, aber durch das Chaos, das die Explosion verursacht hatte, konnten Sid und ich uns unauffällig aus dem Staub machen.
Auf 15 Millionen Euro konnte man sich nicht ewig ausruhen. Es wäre ja auch zu langweilig. Sid und ich machten lange Urlaub. Wir mussten diesen ganzen Scheiß erste einmal irgendwie verarbeiten. Wir konnten noch nicht einmal zu einem Therapeuten gehen. Wer würde uns auch nur ansatzweise glauben, was dort passiert ist? Wir verkauften unsere Wohnungen, kauften uns ein Haus in einer ruhigen Gegend, ließen es nach unseren Wünschen einrichten und machten in der Zeit Urlaub auf Hawaii. Sid ist ein riesen Elvis Fan und fand Blue Hawaii großartig. Er träumte schon immer davon singend mit einer Ukulele am Strand entlang zu marschieren, zu singen und viel zu trinken und Kerle abzuschleppen. Das taten wir auch. Nur versuchte ich es meinerseits relativ erfolglos bei den Damen.
Als der Urlaub nach sechs Monaten vorbei war, bemühten wir uns auch wieder nach neuen Jobs. Wir konnten uns Zeit lassen und uns aussuchen, was gefiel. So fanden wir dann auch irgendwann wieder neue Jobs und lebten in unserer komfortablen WG.
Emma, Freddi und Jonas. Wir redeten viel über diese Sache und kamen immer wieder zu dem Schluss, dass wir einfach nichts Anderes hätten tun können. Oder? Ihre Leichen wurden in der Fabrik gefunden. Zusammen mit Rüdigers Leiche. Die Polizei fand Spuren von Drogen und Alkohol in dem Blut der Kids. Es wurde in den Zeitungen als Unfall dargestellt. Bekiffte Teenager spielen auf einer Baustelle herum. So etwas passiert. Rüdigers unglücklicher Auftritt dort erklärte die Polizei damit, dass er auf eigene Faust versuchte dem Überfall auf die Bank nachzugehen. Und so erklärten sich Polizei und Presse die ganze Sache als eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände. Ist nicht alles immer irgendwie eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände? Die armen Eltern der Kids, sie taten uns so leid, aber was konnten wir tun? Hätten wir etwas tun können? Waren wir zu feige? Sid hatte es mit einem schwulen Geist getrieben. Wir mussten damit klarkommen. Irgendwie.
Die Begegnung mit Geistern und Dämonen hatte Sid und mich verändert. Hielten wir uns zuvor für relativ bodenständig, sicher im festen Glauben einer aufgeklärten Welt verankert, so belehrte uns unsere Erfahrung eines Besseren. Die Menschen glaubten einmal mehr an all diese Dinge. Sie haben sie nach und nach wegrationalisiert. War das klug? Sid und ich kehren dieser vergessenen Welt jetzt nicht mehr den Rücken zu und wissen, dass alles Geschehen immer noch von ganz anderen Mächten beeinflusst ist, als wir es uns bisher vorgestellt haben.

Epilog

Ich hatte als Freelancer wieder Jobs bei verschiedenen Zeitungen angenommen. Gerade war ich auf dem Weg zu einem Interview mit einem der Bürgermeisterkandidaten, als ich an der Bank und dem Gelände der Fabrik vorbeiging. Ein neues Gebäude wurde auf dem Gelände errichtet und die Bauarbeiten waren in den letzten Zügen. Auf dem Bauzaun war ein Plakat angebracht. Werbung für den entstehenden Komplex. Fremjo "World of Toys".Ich konnte und wollte meinen Augen nicht glauben. Unter der Überschrift waren die Kids abgebildet. Freddi, Emma und Jonas. Sie waren älter und lächelten mich an, während die drei Arm in Arm vor dem neuen Gebäude standen. Ich schwankte benommen einige Schritte von dem Plakat zurück. Mir wurde schwindlig. Alles drehte sich. Auf einmal war alles wieder da. Die Welt, die mich in meinen Träumen seit damals verfolgte hatte sich wieder in der Wirklichkeit materialisiert. Ich stolperte über meine eignen Füße und mir wurde für einen Augenblick schwarz vor Augen. Ein Mann hielt mich noch rechtzeitig fest.
"Hey. Alles in Ordnung?", fragte er mich.
"Alles gut. Bin nur gestolpert. Danke.", sagte ich abwesend.
Als er merkte, dass ich auch wieder alleine zurechtkam, ging er auch schon wieder unbekümmert weiter und schüttelte den Kopf. Ich musste den Eindruck eines Betrunkenen erweckt haben. Nur war ich es diesmal ausnahmsweise nicht.
Ich sah am Gebäude hoch. Ein fünfstöckiger Vorbau präsentierte die dahinterliegende Lagerhalle. In dem Vorbau waren die Büros hinter einer Glasfassade zu sehen. Ein Licht ging plötzlich an und mein Blick traf auf ein Teil der Fensterfront in ein großes, weiträumiges Büro. Drei Gestalten traten ans Fenster. Sie lächelten und winkten mir zu. Es waren die Kids. Dann tauchte zwei weitere Personen an ihrer Seite auf. Es waren Rüdiger und Elenore. Sie standen dort oben, wie eine glücklich vereinte Familie. Sie sahen mich an und lächelten zu mir hinunter. Ein Alptraum. Es musste ein Alptraum sein. Ich musste weg. Ich drehte mich um und ging. Mein Fuß stieß gegen etwas, das dann einige Meter vor mir her rollte und dann wieder liegen blieb. Es war eine verkohlte, halb geschmolzene Fratze einer Puppe. Ich hätte schwören können, dass mir mit ihrem einen verbliebenen Auge zuzwinkerte.
 

ENDE


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.10.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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