Hannah Kraus

Als Hannibal das Weihnachtsfest vergaß

Hannibal schreckte aus dem Schlaf. Weihnachten! Das hatte er total vergessen! Und – er erinnerte sich wieder – seine ganze Familie kam zu Besuch. Seine Eltern, seine Schwester Cleo, sein Bruder Cäsar und seine Großmutter. Und er hatte nichts da: Kein Baum, keine Geschenke, kein Weihnachtsschmuck, noch nicht mal eine kleine popelige Kerze hatte er! Schnell sprang er aus dem Bett. Ohne zu frühstücken lief er aus der Wohnung, die Treppen runter und sprang auf sein Motorrad. Mit Vollgas fuhr er in Richtung Markt. Auf halber Stecke fiel ihm ein, dass der Weihnachtsmarkt nur bis zum 23. ging. Kehrtwende, auf zum Einkaufszentrum. Am Einkaufszentrum stellte er sein Motorrad ab und lief direkt zur Weihnachtsabteilung. Nichts. Nur noch eine einsame Packung Weihnachtsbaumkerzen lag dort in den großen Regalen. Schnell schnappte Hannibal sich diese. Dann streifte er durch das Gebäude auf der Suche nach Geschenken. Für seine Mutter fand er ein Buch über die verschiedenen Persönlichkeiten der Antike; er strich in Rot Cäsar, Cleopatra und Hannibal an. Für Cäsar kaufte er einen kleinen Teddybären (Cäsar war fünf Jahre alt), und Cleo (16 Jahre alt) bekam einen Ring in Form einer Schlange. Hannibal hoffte, der Ring würde passen. Für seinen Vater schnappte er sich das letzte Bierglas (Cäsar hatte eins zerdeppert). Fehlte nur noch Oma. Nach langer Suche fand Hannibal eine Mütze. Als er an der Kasse stand, fiel ihm ein, dass er seinen Hamster Scipio heute noch gar nicht gefüttert hatte. Also drängelte er sich dezent vor, indem er laut rief: „Scheiße, ich hab den Herd nicht ausgemacht!“ Statt eine halbe Stunde zu Warten, war er in fünf Minuten wieder bei seinem Motorrad. Er düste nach Hause. Am Nachbarshaus hielt er an. Er wollte um ein paar Zweige aus der Tannenhecke bitten. Er hatte Glück. Herr und Frau Mischa hatten beide einen Baum gekauft und waren froh, einen an Hannibal abgeben zu können. Der Baum war zwar klein und ein bisschen schief, aber besser als nichts. Hannibal nahm ihn gleich mit. In seiner Wohnung fütterte er erst mal Scipio (Cleo hatte ihn so genannt), fegte dann einmal durch und stellte das Bäumchen in seinen großen Kochtopf. Dann, es war halb zwei, frühstückte er erst einmal. Wobei ihm nebenbei auffiel, dass er nur noch zwei Packungen Miracoli und eine Packung chinesisches Gemüse da hatte. Und der Supermarkt hatte schon zu. Hannibal hatte keinen Appetit mehr. Schnell schaltete er noch sein Telefon aus, damit ihn niemand störte. Er kramte alte Comicheftchen hervor und packte damit die Geschenke für seine Geschwister ein. Das Bierglas wickelte er in den Sportteil der gestrigen Tageszeitung und das Buch für die Mutter steckte er in einen hübschen Stoffbeutel. Für die Oma hatte er noch altes Geschenkpapier von Cäsars Geburtstag übrig (gelb mit blauen Elefanten, die bunte Luftballons halten und „Happy Birthday“ tröten). Alles nicht ideal. Hannibal seufzte. Dann nahm er die Küchenschere und bastelte aus Zeitungen und Comicheftchen Weihnachtssterne. An den Baum pinnte er die Hälfte er Kerzen, die anderen stellte er auf den Wohnzimmertisch, natürlich legte er Zeitung darunter. Dann hängte er kleine Mercis, die er zufällig noch da hatte, und Löffel an den Baum. Das musste gehen. Er drapierte die Geschenke hübsch unter dem Baum. Dann goss er seinen Fridolin. Fridolin war eine Yuccapalme. Er erinnerte sich an einen Tipp von Uli Stein: Wenn man kein Lametta hat, dann dreht man Alufolie durch den Fleischwolf. Hannibal hatte keinen Fleischwolf. Also nahm er seine Schere und schnitt die Folie in ganz kleine Streifen. Ein bisschen unregelmäßig, aber was soll’s! Er behängte Fridolin und Scipios Käfig mit dem „Lametta“. Sah ganz nett aus. Dann schrubbte er das Bad. Und die Küche. Er drehte die Fotos seiner Familie wieder mit den Gesichtern nach oben statt zur Wand, wischte den Staub von den Rahmen und wischte die Edding-Schnurrbärte von der Glasscheibe. Er war vier Uhr. In einer halben Stunde würde die liebe Familie kommen. Hannibal war mit seinen Weihnachtsvorbereitungen fertig. Er ging noch mal zu Mischas, und fragte, ob sie vielleicht noch ein paar Flaschen Wasser hatten. Hannibal trank immer Leitungswasser. Ja, Mischas hatten Wasser. Hannibal stellte die Flaschen auf den Tisch, setzte sich in seinen Sessel und wartete. Und wartete. Und wartete. Um halb sechs klingelte das Telefon. Cleo war dran: „Hallo Hanni! Wieso bist du nicht ans Telefon gegangen? Wir haben so oft versucht, dich zu erreichen. Oma meinte, dass du Weihnachten sicher vergessen hast, und deshalb haben wir die Feier zu uns verlegt. Hanni? Hannibal, bist du da?“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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