Karl Wiener

Erste Liebe

 

 

       Kürzlich sah ich sie bei einem Klassentreffen meiner ehemaligen Schule wieder. Wir sprachen miteinander wie gute Freunde. Jeder von uns hat vier Kinder, alles Jungen. Sie könnten ebenso gut unsere gemeinsamen Kinder sein, denn sie schwärmte bereits als junges Mädchen von einer großen Kinderschar. Ich sah in den Spiegel und stellte fest, nicht nur sie war älter geworden. Beide segeln wir heute in ruhigeren Gewässern.

       Ich rufe mir den Moment ins Gedächtnis, da ich sie zum ersten Mal sah. Ihr goldblondes Haar erinnerte an ein reifes Kornfeld. Ihre tiefblauen Augen spiegelten ihre Seele wie der Bergsee die Wolken am Himmel. Wir waren jung, sehr jung. Was mich betrifft war es Liebe auf den ersten Blick. Jeden Tag sah ich sie auf dem Schulhof während des Rundgangs in den Pausen mit ihren Klassenkameradinnen scherzen. Ich sah keine Möglichkeit, mich ihr zu nähern, denn ich fürchtete die spöttischen Blicke der anderen Mädchen. Aber schließlich ergab sich eine günstige Gelegenheit. Wir, die Jungen, verbrachten unsere Winterferien in einem Landheim im Gebirge. Wir fuhren Ski und ließen uns von der Sonne bräunen. Die Mädchen hatten das gleiche Vergnügen in der vorangegangenen Woche gehabt, und wie es das Glück wollte, mein Idol hatte einen Teil seiner Skiausrüstung vergessen. Sie kam zurück, um das Vergessene zu holen. Unser Aufenthalt ging bald zu Ende und ihr wurde erlaubt, noch einige Tage zu bleiben, um mit uns gemeinsam heim zu fahren. Natürlich schlief sie in einem Einzelzimmer, wohlbehütet von den Lehrern. Aber letzteres war nicht nötig, denn wir alle waren jung und unerfahren. Sie war jedoch eine erfreuliche Abwechslung in unserem Tagesablauf.. Alle Jungen versuchten ihr zu imponieren und zeigten sich von ihrer besten Seite. Ich nehme an, letzteres war die Absicht der Lehrer. Schüchtern, wie ich war, hielt ich mich zurück. Das war vielleicht mein Vorteil. Sie muß wohl meine verliebten Augen bemerkt haben, denn nach unserer Rückkehr, wieder in der Schule, erwiderte sie meine Blicke. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sprach sie an. Ich lud sie ein, gemeinsam mit mir einen Tanzkurs zu besuchen. Zu meiner freudigen Überraschung sagte sie zu.

       Ich war glücklich, und in den folgenden Monaten gingen wir zweimal wöchentlich zur gemeinsamen Tanzstunde. Sie erlaubte mir, sie auf dem Heimweg zu begleiten. Der Weg war lang, denn sie wohnte am Rande der Stadt. Unterwegs versuchte ich ihr mit meiner Kenntnis der Sterne und der Welt im allgemeinen zu imponieren. Und eines Abends wagte ich sie zu küssen. Daß heißt, ich berührte mit gespitztem Mund ihre Lippen. Heute glaube ich, sie war nicht sonderlich beeindruckt. An den folgenden Abenden lehrte sie mich das Küssen und wir hatten viel Freude damit. In gut unterrichteten Kreisen unserer Schule galten wir bald als Liebespaar, obgleich aus heutiger Sicht manches was Liebe bedeutet in unserer Beziehung fehlte. Sie schien das auch zu fühlen, denn ihre wundervollen blauen Augen verloren etwas von ihrem Glanz.

        Obgleich ich etwas scheu war und damals eher der hohen Minne huldigte, hatte ich Chancen bei den Mädchen, denn ich war ein guter Tänzer. Heute zweifle ich, ob es nicht vielmehr meine Schüchternheit war und der Wunsch, mich davon zu befreien, was ihr Interesse an mir weckte. Eines Tages, der Tanzkurs war zu Ende gegangen, lud eines der Mädchen zur Tanzparty. Sie lud allein mich ein, nicht zusammen mit meiner Freundin. Da ich meine Liebe nicht gefährden wollte, sagte ich ab. Aber das schien ein Fehler gewesen zu sein. Mein geliebtes Mädchen nahm es zum Anlaß, mich zu meiden. Ich war schockiert und verstand nichts. Ich fühlte mich wie ein Reiter, der nichts von der Reitkunst versteht und beim Rodeo abgeworfen worden war. Meine Welt brach zusammen, und die Sonne am Himmel verdunkelte sich. Nun stand ich vor ihr, nichts als mein blutendes Herz in den Händen, doch sie suchte nach einem Ritter in glänzender Rüstung. Ich bin überzeugt: Hätte Adam nicht in den Apfel gebissen, Eva hätte einen anderen gefunden, selbst im menschenleeren Paradies.

 

 

 

  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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