Brigitte Hanisch

Die Erbschaft

Marion hielt den Brief eines Notars in der Hand, aus dem hervorging, dass sie als Alleinerbin ihrer Tante Nora angegeben wurde.
Sie hatte mit ihrer Tante, die seit vielen Jahren in Amerika wohnt, nur brieflichen Kontakt gehabt. Nachdem ihr Onkel verstorben war, lebte Tante Nora mit ihrer Haushälterin allein in dem großen Haus. Beim ihrem letzten Telefonanruf erzählte sie, dass sie eine Virusgrippe hatte und diese auskurieren müsse. Und jetzt ist sie tot. Marion war erschüttert.
Der Notar hatte geschrieben, dass es noch einige Zeit bis zur Testamentseröffnung dauert, da es noch einiges über den Nachlass zu regeln gäbe.
Eine Erbschaft! Marion konnte es nicht fassen. Jetzt sollte alles ihr gehören? Sie überlegte was sie mit dem Reichtum machen soll. Müsste sie nach Amerika auswandern?
Ihr Onkel war ein bekannter Makler gewesen und hatte neben der großen Villa, die Marion auf Bildern bewundern konnte, auch viel Geld verdient.
Marion überlegte, ob sie sich jetzt endlich ihren Wunsch erfüllen und eine Boutique eröffnen sollte.
Sie hatte einen sicheren Beruf. Sie war bei der ARGE als Sachbearbeiterin tätig, aber wenn sie an die Aktenberge dachte, die sich jeden Tag auf ihrem Schreibtisch stapelten, wäre es für sie ein Traum in einer Boutique zu stehen und schöne Kleider zu verkaufen.
Mit dem vielen Geld würde ihr Leben aber ganz anders verlaufen, überlegte sie, denn das Geld musste gewinnbringend angelegt werden, wovon sie überhaupt keine Ahnung hatte.
In ihrem Kopf schwirrten die unmöglichsten Investitionen herum und sie fühlte sich damit total überfordert.
Beim nächsten Kegelabend verbreitete Marion die Neuigkeit einer bevorstehenden Erbschaft ihren Freunden. Das hätte sie lieber nicht tun sollen, denn jetzt prasselten Vorschläge, was sie mit dem Geld alles machen könne und auch Geldbitten auf sie ein, die sie zermürbten.
Die bevorstehende Erbschaft begann das Leben von Marion zu verändern. War sie früher ungezwungen auf Menschen zugegangen, wurde sie jetzt immer unsicherer und zog sich immer mehr von allen zurück. Hätte ich nur nichts gesagt, dachte sie, aber jetzt war es zu spät.
Im Nachbarort suchte sie eine Bank auf und wollte sich beraten lassen, welche Angebote es gab, um das Geld sicher anzulegen. Um welche Summe es sich handelt wollte der Bankangestellte wissen. Ihr war klar, dass sie zu forsch losgeprescht war und fluchtartig verließ sie die Bank.
Anschließend bummelte sie durch die Stadt und landete in einem großen Autohaus. Vor einem Mercedes blieb sie stehen und schaute sich den Wagen interessiert an. Der Autoverkäufer sah zu ihr herüber, kam aber nicht auf sie zu um ein Beratungsgespräch mit ihr zu führen. Er sah sie wohl nicht als potentielle Kundin an. Ärgerlich verließ Marion den Laden.
Irritiert musste sie feststellen, dass es nicht einfach war große Summen auszugeben ohne misstrauisch beäugt zu werden.
Außerdem konnte sie nicht in Hülle und Fülle leben, wenn die Armut um sie herum immer mehr zunahm. Sie müsste in eine große Stadt ziehen um den Reichtum ohne Reue genießen zu können.
Was sollte sie also tun? Diese Gedanken hielten sie gefangen und ließen sie nicht mehr los. Leider bemerkte sie auch, dass viel Geld nicht glücklicher macht, sondern nur mit Schwierigkeiten verbunden war.
Einige Tage später sah sie im Fenster eines Reisebüros eine Anzeige, „Drei Wochen Rundreise durch Südindien.“ Lange stand Marion vor dem Plakat und schaute auf die Landschaft Indiens mit den wunderschönen Inderinnen die in ihren Saris auf dem Plakat posierten. Nach Indien wollte sie immer schon mal hinfliegen und jetzt mit dem Geld der Erbschaft könnte sie sich das endlich leisten.
Kurzentschlossen buchte sie die Reise, die unmittelbar bevorstand. Marion nahm Urlaub, hob eine größere Summe von ihrem ersparten Geld ab und flog nach Bombay.
Die Reisegruppe bestand aus vier Ehepaaren, zwei alleinstehenden Herren und vier alleinstehenden Frauen. Der Reiseleiter war ein schmucker Mann, der von zwei Damen sofort umgarnt wurde. Die jungen Frauen waren sehr schön und geistreich. Mit ihrem Charme unterhielten sie die ganze Gruppe, während Marion eher der schüchterne Typ war, der sich nicht in den Vordergrund drängte.
Marion bemerkte, wie sich zwischen den Frauen eine Feindschaft aufbaute, die mit dem Reiseleiter zu tun hatte. Sie zischten sich gegenseitig dermaßen an, das sich der Reiseleiter genötigt sah, eine Distanz ihnen gegenüber aufzubauen.
Marion fühlte sich geschmeichelt, als sich der Reiseleiter jetzt mehr mit ihr unterhielt und suchte ebenfalls seine Nähe.
Eines Abend, nachdem alle gut gegessen und sich nach dem anstrengenden Tag in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, setzte sich Hans Burger zu Marion und fragte, ob sie mit ihm noch einen Drink an der Bar nehmen würde. Natürlich wollte sie. Sie hatte geglaubt, neben den jungen Dingern keine Chance bei ihm zu haben, deshalb nahm sie seine Einladung erfreut an. Zur Zeit war sie Single, warum sollte sie nicht auch mal an sich denken. An diesem Abend trank sie etwas mehr als sonst und wurde durch die zärtlichen Worte von Roland Burger gesprächig und erzählte ihm von der bevorstehenden Erbschaft.
Seit diesem Abend suchte der Reiseleiter immer wieder ihre Nähe, was Marion in den nächsten Tagen immer mehr beunruhigte. Warum tat er das, fragte sie sich. Mochte er sie wirklich, oder dachte er nur an das Geld, das sie erben würde? Früher wären ihr diese Gedanken nie gekommen, aber die bevorstehende Erbschaft hatte auch ihr Selbstbewusstsein getrübt.
Allzu schnell ging die dreiwöchige Rundreise zu Ende und Adressen wurden ausgetauscht. Man wollte sich auf alle Fälle nicht aus den Augen verlieren.
Zu Hause angekommen fand Marion einen Brief des Notars vor in dem der Termin der Testamentseröffnung genannt wurde. Aufgeregt machte sie sich an diesem Tag auf den Weg um den großen Reichtum in Empfang zu nehmen.
Vom Notar erfuhr Marion dann, nachdem er vorher die Unterlagen ausführlich durchgesehen hatte, dass der gesamte Nachlass ihrer Tante für die Schulden, die sich angesammelt hatten, verrechnet wurde.
Marion war sprachlos, damit hatte sie nicht gerechnet. „Nicht mal eine kleine Summe ist übrig?“, fragte Marion schüchtern.
Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, dass es nichts zu erben gab, verließ sie niedergeschlagen das Notariat. Mit der Reise nach Indien hatte sie ihr Konto stark geplündert. Jetzt hieß er wieder, sparen, sparen, sparen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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