Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 32

Die Dämmerung am nächsten Morgen war nicht mehr als ein leichtes Nachlassen der tiefen Finsternis um sie herum. Hoch oben, über dem dichten Blätterdach, ergoß sich zwar bereits das Licht der aufgehenden Sonne über die Wipfel der Bäume, aber tief unten, am Fuße der gewaltig aufragenden Baumriesen, wich die Dunkelheit der Nacht nur zögerlich einem diffusen Zwielicht. Eine graue Nebeldecke lastete unheilverkündend über dem Lager, floss geisterhaft um die Stämme der Urwaldriesen und flüsterte von den Schrecken, die tief im Wald auf die ahnungslosen Reisenden warteten.
Entsprechend düster war Michaels Stimmung als er aufwachte. Das Schlafen auf dem feuchten Waldboden hatte seine Glieder derart steif werden lassen, daß er sich so zerschlagen fühlte, als wäre eine Horde Elefanten in der Nacht über ihn hinweg getrampelt. Verstimmt stellte er fest, daß von der Ankunft des Morgens noch nichts zu bemerken war. Ein dichter Dunst lag wie eine Decke zwischen den Stämmen der aufragenden Riesen. Erfolglos versuchte er sich in Erinnerung zu rufen, ob er jemals einen trostloseren Morgen erlebt hatte, während er sich erhob und zu den Gefährten hinüber sah, die bereits damit beschäftigt waren, ein karges Mahl einzunehmen. Nur der Wühler war ausnahmsweise einmal nicht mit Fressen beschäftigt. Mit einem trockenen Schaben glitt seine Zunge über das mitgenommene Fell.
„Schmutzig“, teilte er ihm anklagend mit, als er Michaels Blick auffing. Widerwillig mußte Michael beim Anblick des zerzausten Tieres grinsen und stapfte zu den Gefährten hinüber. Die knöcheltiefe Schicht aus alten Pflanzenfasern und Blättern federte seine müden Schritte dabei ab und gaukelte ihm eine Leichtfüßigkeit vor, die im krassen Gegensatz zu seinem momentanen Befinden stand. Seine Kleidung war klamm vor Feuchtigkeit, er war hundemüde und fühlte sich, als hätte er gestern seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert.
„Morgen“, knurrte er entsprechend schlecht gelaunt, als er sich im Kreis der Gefährten niederließ. „Was gibt’s zum Frühstück?“
„Eingemachte Eidechse in Blätterteig“, erwiderte Glyfara, wobei sie ihm ein Stück trockenes Fleisch reichte, das Michael mißtrauisch beäugte, obwohl er überzeugt davon war, daß die Elbin ihn auf den Arm nahm.
„Laß es dir schmecken“, neckte Glyfara ihn, die ihren letzten Bissen hinunterschluckte und sich sofort geschmeidig erhob, um ihre Ausrüstung zu überprüfen.
„Kau es gut durch, dann hast du mehr davon. Vor uns liegt ein hartes Stück Weg, und ich weiß nicht, wann wir das nächste Mal etwas zwischen die Zähne bekommen“, brummte Grüneich, der in diesem Umfeld fast selbst wie ein lebender Baum wirkte. Zum ersten Mal glaubte Michael an die Tarnfähigkeit des Trolls, mit der dieser in der Kneipe geprahlt hatte. Bedauerlicherweise konnte man das von den restlichen Gefährten, vielleicht einmal abgesehen von Glyfara, nicht behaupten. Es war nicht zu übersehen, daß sie nicht hierher gehörten.
Bedrückt sah Michael sich um, während er auf dem zähen Fleisch herumkaute, das von der Konsistenz her einer abgetragenen Schuhsohle in nichts nachstand. Hier unten, weit unterhalb der Baumkronen und jenseits des Wächterwalls, wurde ihm erst so richtig bewußt, wo sie sich befanden. Dies war eine Welt der Schatten und der Verwesung. Überall lagen verrottete Stämme herum, bedeckt mit Pilzen, Insekten und Schimmel, halb verborgen von dem nebeligen Dunst. Nur gelegentlich stach der eine oder andere ausladende Farn wohltuend ins Auge. Michael seufzte. Dieser Wald war abschreckend, bedrückend und urzeitlich zugleich. Zwischen seinen mächtigen, hoch aufragenden Stämmen kam er sich richtig klein und verletzlich vor. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn plötzlich ein Saurier aus der Kreidezeit zum Frühstück aufgetaucht wäre.
„Gemütlich hier, nicht wahr?“, ließ sich Grimmbart vernehmen, der bemerkt hatte, daß die Atmosphäre des Waldes von Michael Besitz ergriffen hatte. Auch er spürte unleugbar, daß dem Wald etwas Finsteres zu eigen war, etwas, das man nicht beschreiben konnte und das einen mit jeder Sekunde deutlicher spüren ließ, daß von diesem Wald eine Bedrohung ausging.
Dieser Wald war böse.
Etwas, daß jenseits seiner Vorstellungskraft lag, lauerte tief in seinem Inneren und wartete. Grimmbart konnte es spüren.
„Wie zu Hause“, versuchte Michael mit einem Anflug von Selbstironie zu scherzen.
„Dann lade mich bitte nie zum Essen ein“, bemerkte Grüneich trocken. „Und nun zur Sache.“ In knappen Sätzen schilderte der Troll ihnen das weitere Vorgehen. Der Plan sah vor, bis zum Abend stramm durchzumarschieren, um ein möglichst großes Stück Weg zurückzulegen. Bei dieser Ankündigung sahen sich die Gefährten verstohlen um. In diesem Gelände zügig voranzukommen würde bedeuten, dem Körper das Letzte abzuverlangen. Auch die folgende, farbenfrohe Schilderung der unterschiedlichsten Gefahren, die auf sie zukommen könnten, sorgte nicht unbedingt für eine ausgelassene Stimmung. Als Grüneich schließlich befriedigt für sich entschied, daß die Gesichter seiner Zuhörer lang genug geworden waren, befahl er den Aufbruch.
 
Angeführt von dem Troll stapfte die Gruppe im Gänsemarsch los. Schon bald gab es kaum einen Gefährten, der nicht in Schweiß gebadet war, angesichts der Mühsal, mit der sie sich durch Mauern aus Farnen und Lianen kämpften, umgestürzte Bäume überkletterten und gelegentlich sogar faulig riechende Tümpel durchwateten, immer dem unscheinbaren Pfad hinterher, der kaum mehr war, als ein alter, überwucherter Wildwechsel, der sie tiefer und tiefer ins Verderben führte.
Manchmal war er derart überwuchert, daß die Zwerge mit ihren Äxten erst eine Bresche in die widerspenstige, dampfende Vegetation schlagen mußten, bevor es weiterging. Hinzu kamen alle Arten blutgieriger Insekten, die sie auf die Speisekarte gesetzt hatten, nur noch übertroffen von dem allgegenwärtigen knöcheltiefen, modrig riechenden Morast aus abgestorbenen Pflanzenfasern. Mit jedem Schritt fiel es den Gefährten daher schwerer, sich in dieser feindlichen Welt zu behaupten, und egal wieviel Schritte sie auch taten, die grüne Hölle um sie herum blieb immer die gleiche. Zum ersten Mal fragte sich Michael, ob er die Größe dieses Waldes nicht bei weitem unterschätzt hatte, und er begann zu befürchten, daß man auch von ihnen nie wieder etwas hören würde.
Und es wurde schlimmer.
Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto öfter stießen sie auf neue Gefahren, die die vorangegangenen noch übertrumpften.
Mit einem bitteren Lächeln erinnerte sich Michael an seinen überheblichen Geschichtslehrer, der so gern  André Gide zitiert hatte, wenn er auf die alten Entdecker zu sprechen kam.
„Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen  zu verlieren“, hatte er diverse Male mit verklärtem Gesichtsausdruck verkündet und dabei vor dem Schreibtisch posiert, als befände er sich an Bord der Santa Maria auf ihrer Fahrt über den Atlantik, unbekannten Terrain entgegen.
Michael hätte jetzt gerne seinen Geschichtslehrer an seiner Seite gehabt, nur um ihn zu fragen, ob er angesichts des unerfreulichen Umfelds an seinem Zitat festhalten wolle. Michael bezweifelte das, während er verdrossen weiter durch die grüne Hölle stapfte und feststellen mußte, daß der Wald immer wieder neue grässliche Überraschungen für sie parat hielt.
Einmal kamen sie an etwas vorbei, daß an eine Kreuzung zwischen einer Pflanze und einem Tier erinnerte. Grüneich schlug einen großen Bogen um die seltsame Kreatur, so daß Michael nur ein paar kurze Blicke auf das Wesen werfen konnte, doch die reichten ihm vollauf. Soweit er es erkennen konnte, bestand es fast ausschließlich aus mehreren Metern langen, schleimigen grünen Auswüchsen, die in alptraumhaften Gesichtern mit scharfen Zähnen endeten. Dazwischen schlängelten sich lange Tentakeln durch das dichte Grün auf der Suche nach Beute. Schaudernd hatte Michael den Blick abgewandt.
Ein anderes Mal wären sie beinahe in ein paar riesige, silbern glänzende Netze hineingelaufen, die kunstvoll zwischen zwei Urwaldriesen gespannt worden waren. Allerdings war von den Erbauern keine Spur zu sehen gewesen. Die Tatsache, daß der Troll bei diesem Anblick bleich geworden war und sie hastig zur Umkehr aufgefordert hatte, hatte Michael so viel Angst gemacht, daß er es nicht gewagt hatte, nach den Erbauern dieses Netzes zu fragen. Die Furcht saß ihm bei diesem Anblick wie eine kalte Faust im Nacken, und er war dankbar, als das unheimliche Gespinst hinter ihnen in der grünen Hölle verschwand. 
Ungeachtet dieser Widrigkeiten marschierten sie bis zum Anbruch der Dämmerung stramm durch und legten nur gelegentlich eine Pause ein. Als sich der Tag dem Ende zuneigte waren alle derart erschöpft, daß selbst Glyfara keine Lust mehr verspürte, auf die Jagd zu gehen. Todmüde kauten sie zum Abendessen auf ein paar Beeren und fade schmeckenden Wurzeln herum, die der Troll auf ihrer Wanderung aufgelesen hatte, bevor sie wie betäubt in den Schlaf fielen.
Auch die folgenden zwei Tage verlangten von ihnen das Letzte und brachten sie an den Rand ihrer Leistungsreserven. Gelegentlich prasselte Regen in wahren Sturzbächen auf sie herunter, der den Boden in einen rutschigen Morast verwandelte, bevor die Hitze die Feuchtigkeit als nebeligen Dunst wieder aufsteigen ließ und die Welt um sie herum in Grautöne tauchte. Die Kleidung klebte bei diesen Gelegenheiten wie eine zweite Haut an ihren Körpern und begann bereits in der ewig feuchten Luft Schimmel anzusetzen. Michael hätte ohne zu zögern seine gesamte Spielesammlung gegen eine heiße Dusche und ein Stück Seife eingetauscht, und den Gesichtsausdrücken der Gefährten nach zu urteilen, erging es ihnen nicht anders.
Der Wald schaffte sie nach und nach.
Angesichts der Widrigkeiten legten sie kaum mehr als ein paar Kilometer am Tag zurück. Immer wieder waren sie gezwungen, sich seitlich in das Dickicht zu schlagen, wenn es galt, gefährliche Stellen, wie eine harmlos aussehende Ansammlung von Pilzen, die halluziogene Dämpfe absonderten oder gefährliche Schlingpflanzen und anderen Gefahren zu umgehen.
Gelegentlich erfüllten heisere Schreie aus der Tiefe des Waldes die Luft und ließen die Gefährten zusammenzucken. Viele der Schreie verstummten jäh und gemahnten die Gefährten daran, daß dieser Wald gefährliche Bewohner beherbergte. Manchmal konnte Grüneich die seltsamen Laute zuordnen, meistens jedoch zuckte er nur ratlos mit den Schultern, denn selbst für den Troll barg der Wald noch viele Geheimnisse.
Von diesen gelegentlichen Unterbrechungen abgesehen ging es über den verschlungenen Pfad tiefer und tiefer in den Wald hinein, und mit jedem Schritt den sie zurücklegten hatte Michael mehr das Gefühl, auf dem Plateau gelandet zu sein, das Sir Arthur Conan Doyle in seinem Roman „Die vergessene Welt“ beschrieben hatte. Vorbei an gewaltigen Wurzeln hoch aufragender Bäume, die an mächtige Burgtürme erinnerten und sich hoch über ihren Köpfen im dichten Gewirr der Äste, Lianen verloren, führte sie der Pfad und unter Vorhängen aus feuchten Moos hindurch, die von den Ästen einiger Urwaldriesen herabhingen.
Es war eine elende Plackerei. Manchmal führte der Pfad durch derart schlecht einsehbares Dickicht, daß Michael kaum noch den Rücken des Vordermannes in dem immerwährenden grünen Zwielicht ausmachen konnte und befürchtete, den Anschluß zu verlieren. An anderen Stellen wiederum stießen sie auf umgestürzte Riesenbäume, die eine Schneise in das dichte Blätterdach gerissen hatten und ihnen nun als unüberwindliche Barrieren im Weg lagen. Ganze Ansammlungen von Mückenschwärme tanzten dort in dem einfallenden Sonnenlicht wie Minitornados, so daß es schon aus diesem Grunde ratsam war, einen möglichst großen Bogen um diese Lichtungen zu machen.
Bei diesen Gelegenheiten war Michael überzeugt davon, daß selbst der Amazonasdschungel im Verhältnis zu diesem Wald ein gut gepflegter Park war. Müde und ausgelaugt trottete er den Gefährten auf dem kaum noch sichtbaren Pfad hinterher, als er plötzlich bemerkte, daß der Troll stehen geblieben war und sich unruhig umsah. Mit der Hand gebot er den Gefährten ebenfalls innezuhalten, die der Aufforderung dankbar nachkamen.
„Was ist los?“, knurrte Grimmbart, die Hand auf dem Griff seiner Wurfaxt. Der Zwerg wirkte inzwischen wie ein lebender Komposthaufen angesichts der vielen Blätter und Moose, die sich in den letzten Tagen in seinem Bart und in den Haaren verfangen hatten. Am Anfang hatte Grimmbart noch jedes Blatt fluchend entfernt, aber inzwischen hatte er resigniert und versuchte das Positive zu sehen. Er war zumindest gut getarnt, und das konnte er jetzt vermutlich gebrauchen, wenn er den Gesichtsausdruck Grüneichs richtig deutete.
„Etwas ist ..... in der Nähe“, brummte der Troll warnend.
Gefahr“, flüsterte der Wühler, der mit erhobener Nase die Gerüche des Waldes prüfte. Offenkundig gefiel ihm nicht, was er dabei wahrnahm, denn sein ganzer Körper spannte sich wie eine Bogensehne. Zum ersten Mal wirkte er verängstigt und zur Flucht bereit, was Michael nicht gerade fröhlich stimmte. Wenn der Wühler beunruhigt war, mußte einiges in der Luft liegen. Von einem Moment auf den anderen hatte sich der Wald zu der tödlichen Bedrohung entwickelt, vor der der Troll sie vor Antritt der Reise gewarnt hatte.
Michael konnte es spüren.
Etwas Düsteres war in der finsteren Tiefe des Waldes erwacht und nun im Anmarsch. Wie ein übler Geruch lag die Gefahr in der Luft und ließ ihn schaudern. Das ohnehin fahle Dämmerlicht erschien im plötzlich noch eine Spur dunkler, als habe sich ein Schatten über die Bäume gesenkt. Bedrückt erinnerte er sich an Grüneichs Worte: Der Wald ist ein Jagdgebiet, und jeder, der sich hineintraut wird zur Beute. Früher oder später. 
Anscheinend war es nun so weit. Mit wild klopfendem Herzen versuchte er, das tiefgrüne Dickicht um sie herum zu durchdringen. Erfolglos.
Selbst die guten Augen der Elbin vermochten nichts zu entdecken. Gerade wollte der weniger zart besaitete Grimmbart die Wahrnehmung des Trolls infrage stellen, als aus dem Nichts heraus ein dumpfes Krachen und Schaben erklang, als würde sich ein gigantischer Körper durch das Unterholz schieben und alles niederwalzen, was ihm dabei in die Quere kam. Alle Augen richteten sich sofort auf Grünreich, der als Einziger mit den Schrecken des Waldes vertraut war.
„Und was nun?“, fragte Streitaxt, der ein wenig blaß geworden den Griff seiner Waffe befingerte.
„Alle Mann dahinter“, befahl der Troll mit leiser Stimme. Dabei wies er auf einen der dichten Moosvorhänge, der von dem Ast eines nahen Baumriesen so weit herab hing, daß er den Boden bedeckte und den Stamm vor Blicken abschottete. Es war ein dürftiges Versteck, aber das einzige, das sich auf die Schnelle anbot.
„Und keinen Laut!“, zischte er warnend, dann schlüpfte er als erster hinter den feuchten Vorhang. Ohne zu zögern folgten die Gefährten, wobei die Zwerge jedoch lange Gesichter zogen, da es nicht ihrer Mentalität entsprach, sich vor einem Gegner zu verstecken. Indes schwoll das Geräusch weiter an. Was immer es auch verursachte, es kam zielstrebig näher, und es schien gigantisch zu sein. Den Geräuschen nach zu urteilen, wurden kleinere Bäume auf dem Weg des Etwas wie Streichhölzer geknickt. Die Furcht griff nun mit eisiger Hand nach den Gefährten und ließ selbst die Zwerge ins Grübeln kommen, als sie hinter ihrem fragwürdigem Schutz lautlos verharrten und sich vorzustellen versuchten, welche Kreatur dazu in der Lage war. Michael, dessen Fantasie in Erinnerung an unzählige Horrorfilme zu Höchstleistung angespornt wurde, hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Schweiß perlte auf seiner Stirn, und es kostete ihn unendliche Mühe, nicht seinem inneren Schweinehund nachzugeben, der ihn lautstark aufforderte, davon zu laufen, soweit ihn die Füße trugen. Die Vernunft sagte ihm jedoch mit leiser, aber beharrlicher Stimme, daß er in diesem Wald nicht sehr weit kommen würde, und so verharrte er auf seinem Platz. Ein Blick nach links und rechts bestätigte ihm, daß es den Gefährten nicht besser erging. Die Zwerge umklammerten mit finsteren Mienen die Schäfte ihrer Streitäxte, Glyfara spielte nervös mit ihrem Bogen und Grüneich hielt die Tötzwanzig in den Händen, die Stirn sorgenvoll gefurcht. Dann, als die Anspannung mit den Händen zum greifen war, verstummte das Geräusch plötzlich, so daß die unvermittelt einsetzende Stille auf ihnen lastete, und Michael befürchtete, daß sein rasender Herzschlag noch in hundert Metern Entfernung zu hören war.
„Was ..“, setzte er zu fragen an und verstummte jäh, als sich die schwielige Pranke des Trolls auf seinen Mund legte und jedes weitere Wort im Keim erstickte.
Kein Mucks!“, hauchte der Troll ihm ins Ohr. „Es versucht uns zu orten.“
Mit hämmernden Herzen verharrten die Gefährten reglos auf der Stelle. Selbst zu atmen wagte niemand. Zu groß war die Angst, entdeckt zu werden, und dann setzte das Geräusch von brechenden Zweigen wieder ein. Zielstrebig hielt es auf ihr Versteck zu. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Was auch immer sich dort durch den Wald schob, es hatte sie offenbar gewittert und würde sie jeden Moment erreichen. Die Gefährten machten sich kampfbereit. In Gedanken sah Michael einen Schlund in der Größe eines U-Bahntunnels mit Zähnen so lang wie Zaunlatten auf sich zukommen, als etwas Unerwartetes geschah, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein hohes Kreischen übertönte für einen Moment den Lärm der herannahenden Kreatur. Es klang, als würde etwas in grenzenloser Todesangst aufschreien, gefolgt von einem Brüllen, das selbst den gewaltigen Baumstamm im Rücken der Gefährten erbeben ließ. Offenbar waren sie nicht die einzigen, die sich vor diesem Etwas versteckt hatten, und was auch immer so grauenvoll aufgeschrien hatte, hatte das Etwas im letzten Moment unfreiwillig von ihnen abgelenkt und war nun auf der Flucht. Das Brechen von Bäumen und Ästen verkündete, daß das Etwas die Verfolgung aufgenommen hatte und sich nun im rechten Winkel von ihnen entfernte. Erst als das Geräusch endgültig in der Ferne verklungen war, wagten die Gefährten wieder aufzuatmen und verließen erleichtert ihr Versteck.
Was, beim Backenbart von Buldor dem Älteren, war das?“, fragte Streitaxt, der seine Waffe nur zögernd wieder auf seinem Rücken befestigte. Nicht nur ihm fiel es schwer, die Augen von der Schneise der Verwüstung abzuwenden, die sich keine zwanzig Schritt entfernt durch den Wald zog, als hätte sich ein außer Rand und Band geratener Bulldozer durch die Botanik gearbeitet. Die Vorstellung eines U-Bahntunnel großen Schlunds hatte plötzlich sehr reale Form angenommen. Fragend richteten sich nun alle Augenpaare auf Grüneich, der allerdings nur mit den Achseln zuckte, wenngleich sich die Falten auf seiner Stirn bei diesem Anblick vertieft hatten.
„Offen gestanden, ich weiß es selber nicht. Dieser Wald birgt viele Geheimnisse. Aber etwas anderes macht mir noch viel größere Sorgen. Was auch immer so grauenvoll geschrien und dieses Etwas von unserer Spur abgelenkt hat, war uns verdammt dicht auf den Fersen. Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht zu erörtern.“
Die Gefährten nickten betroffen.
„Wir müssen noch wachsamer sein als bisher“, knurrte Grimmbart. „Das gilt auch für dich“, brummte er an Michael gewandt, der zuvor das Schlußlicht gebildet und nichts von ihrem Verfolger mitbekommen hatte, obwohl er eigentlich bereits seinen Atem im Nacken hätte spüren müssen.
„Verstanden“, erwiderte Michael kleinlaut, dem der Schreck noch immer in den Gliedern saß.
„Also dann, sehen wir doch mal, was der Wald noch so an Überraschungen zu bieten hat“, brummte der Troll, der schon wieder zu seiner alten Art zurückgefunden hatte. 

Fortsetzung in ca. 2 Wochen

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.02.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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