Helmut Glatz

Die Gänseliesel im Zeitloch

Wenn sich die Menschheit seinerzeit weniger mit alternativen Energien, Tariferhöhungen und der Trainerfrage von Bayern München beschäftigt hätte, wäre die Katastrophe vielleicht eher vorhersehbar gewesen. Aber wer kümmert sich – von Bahnhofsuhren und Spitzensportlern einmal abgesehen – schon um das Phänomen Zeit! Ich hatte damals gerade mein Examen als Katechet abgelegt und war dabei, mich allmählich in den Arbeitslosenstand zu integrieren, als ich in der „Süddeutschen“ auf jene ominöse Anzeige stieß: Das Institut zur Erforschung entropischer Vorgänge suchte wissenschaftliche Hilfskräfte. Nun wusste ich zwar weder, was unter einem entropischen Vorgang zu verstehen war, noch, welche Anforderungen man an eine wissenschaftliche Hilfskraft stellte, war jedoch nach einem Dutzend abschlägig beschiedener Bewerbungsschreiben bereit, ungesehen jedes Dokument zu unterzeichnen, das auch nur im entferntesten einem Arbeitsvertrag ähnelte.   

„Sie wollen sicher wissen, was man unter einem entropischen Vorgang zu verstehen hat und welche Anforderungen man an Sie als einer wissenschaftlichen Hilfskraft stellt“, begann mein Gegenüber, noch ehe ich den Mund aufgemacht hatte. In seinen azurblauen Augen spiegelten sich die palmenumrauschten Küsten des karibischen Meeres, während die Worte in einem breiten, texanisch angehauchten Schwäbischen seinen Lippen entquollen. Also eine durchaus zeitgemäße, sympathische Erscheinung. Trotzdem entging mir weder der sarkastische Zug um die Mundwinkel noch das nervöse Zucken der Augen. „Kurz gesagt, wir beschäftigen uns mit den Zeitlöchern. Sie haben doch davon gehört?“, fragte er.

„Oberflächlich. Aus der Zeitung“, beeilte ich mich zu antworten. „In Afrika oder Australien sollen welche aufgetaucht sein.“

„Eine höchst mysteriöse Erscheinung.“ Mein Gegenüber fixierte mich mit einem scharfen Blick, und in seinen Augen perlte das trügerische Licht gefährlicher Korallenriffe auf. „Man versucht, die Angelegenheit mit größter Geheimhaltung zu behandeln. Trotzdem dringt natürlich das eine oder andere an die Öffentlichkeit. Eines vor allem ist besorgniserregend: Die Dinger nehmen zu.“

„Welche Dinger?“, wollte ich wissen.

„Die Zeitlöcher!“, stieß der Entropologe geradezu hasserfüllt hervor. „In der Etoschapfanne hat sich eines breitgemacht. Ein anderes liegt über der Äußeren Mongolei. Die Fidschi-Inseln sind inzwischen verschwunden. Und neuerdings wird eines gemeldet im...im...“

„Im Erdinger Moos“, warf eine kräftige Blondine über ihren Bildschirm hinweg ein. Sie war bisher wie unbeteiligt hinter ihrem Rechner gehockt. Ich konnte mich aber des Eindrucks nicht erwehren, als hätte sie mich fortwährend mit heimlichen, mitleidigen Blicken beobachtet.

„Sehr richtig!“, nickte mein Gegenüber. „Unser Institut hat den sozusagen amtlichen Auftrag, sich ein wenig um diese Erscheinung zu kümmern. Und dazu brauchen wir Sie.“  

„Mich?“, fuhr ich auf, während strahlende Lichtblitze über die bewegte Oberfläche seiner Iris wanderten.

„Sie müssen in das Zeitloch hineinsteigen“, setzte er unerbittlich fort. „Anders ist dem Phänomen nicht beizukommen.“

„Aber ich bin nicht schwindelfrei!“ Eine plötzliche Kühle machte mein Rückgrat schaudern. „Und im Sport war ich schon immer eine Null.“

„Wenn es das ist, so können Sie ganz unbesorgt sein!“ Mein Gegenüber lachte wie ein unbeschwerter Ferientag in der Dominikanischen Republik. „Ein Zeitloch ist völlig ungefährlich und erfordert keinerlei körperliche Anstrengung. Man wandert einfach hinein. So wie man einen Spaziergang macht im...im...“

„Im Englischen Garten“, ergänzte die Blondine. Irgend etwas störte mich an der heraufbeschworenen Idylle. War es das heftige Augenzwinkern des Wissenschaftlers? Oder der gespannte Ausdruck auf dem Gesicht der Sekretärin?

„Wenn das Ganze so angenehm ist, warum steigen Sie dann nicht selber hinein?“, erkundigte ich mich.

Ein schneller Blick vom Schreibtisch zum Computer hinüber wie ein Flaggensignal.

„Wir haben schon einige wertvolle Kollegen verloren“, sagte die Sekretärin nach kurzem Zögern. „Mehr qualifizierte Wissenschaftler können wir nicht entbehren.“  

„Aber Sie sagten doch selber, es sei ganz ungefährlich“, begehrte ich auf.

„Natürlich“, beschwichtigte der Entropologe. Sein Blick war spiegelglatt; nicht vom leisesten Windhauch getrübt. „Wir haben aus den Verlusten gelernt. Sie werden an eine lange Reepschnur gehängt, die mit einem Karabinerhaken an Ihrem Gürtel befestigt ist.“

 

Noch am gleichen Tag fuhren wir los. „Eigentlich geht uns das Ganze gar nichts an“, erklärte mir der Forschungsleiter, ein gewisser Dr. Zahnstein, während wir an den Möbelhäusern des Münchner Nordens vorbeibrausten. „Aber die Entropie ist eine der wenigen Sparten in der modernen Physik, wo der Zeitfaktor überhaupt eine Rolle spielt. Und so erklärte man uns kurzerhand für zuständig. Um wissenschaftliche Lorbeeren zu ernten, ist es wohl sowieso zu spät.“  

„Zu spät?“, echote ich. Das Gerede des Professors plätscherte wie ein monotoner Regen an mein Ohr, während die Martinshörner gellten und die Lichter der Polizeifahrzeuge wie blaue Blitze über die Häuserwände huschten. Man trieb einen erheblichen Aufwand wegen uns.

„Die Zeitlöcher nehmen mit beängstigender Geschwindigkeit zu!“, rief der Professor. „Der gesamte indische Subkontinent und die Südspitze Afrikas sind bereits hineingefallen.“

„Und woher kommen sie? Ich meine, die Zeitlöcher!“, schrie ich. Unser Fahrzeug war an einer Straßensperre gestoppt worden. Uniformen, Feuerwehrhelme, Jeeps, Sanitäter. Es war wie bei einem schweren Verkehrsunfall.

„Da gibt es zwei Theorien“, versuchte Professor Zahnstein den allgemeinen Lärm zu übertönen. „Die eine besagt, dass wir – das heißt, unsere galaktischen Systeme – in einem Meer von Zeit schwimmen. Aber dieses Zeitmeer ist nicht gleichförmig, sondern besitzt Verwerfungen, Falten, Strudel, Verdichtungen, Löcher. Und unsere Erde bewegt sich gerade durch ein solches Unruhegebiet. Man kann sich die Zeitlöcher etwa so vorstellen wie Blasen, die auf einer Wasserfläche schwimmen.“

„Und die andere?“ Klick, machte es. Man hatte mir einen Spezialgürtel umgelegt und den Karabinerhaken eingehängt.

„Was andere?“, wollte der Professor wissen.

„Und die andere Theorie?“

Die Augen des Professors wurden schwarz wie die Tiefen der Tiefsee. „Die  andere Theorie besagt, dass die Menschen als zeitempfindende, mit Bewusstsein ausgestattete Wesen die Zeit selber schaffen. Sie sozusagen produzieren. Diese Zeit umspannt unsere Erde wie eine zweite, unsichtbare Atmosphäre, oder, besser gesagt, Chronosphäre.“

Ein Helm wurde mir auf den Kopf geschnallt. Jemand drückte mir ein Mikrophon in die Hand.

„Aber aus irgendeinem Grund scheint die Zeitproduktion ins Stocken geraten zu sein“, fuhr Zahnstein unbeirrt fort. „Vielleicht ist die zunehmende Vernetzung daran schuld. Das gigantische Gewirr an hochfrequenten Energiewellen.“ 

„Und vergessen Sie nicht, Ihre Wahrnehmungen genauestens ins Mikrophon zu sprechen“,  brüllte mir eine fremde Stimme ins Ohr. Dann half man mir vom Wagen und schob mich, Seilstück für Seilstück, auf ein mir völlig unverdächtig erscheinendes Maisfeld zu.

„Und wo ist hier das Zeitloch?“, murmelte ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme, die hallend und quäkend von einem Lautsprecher verstärkt wurde.

„Die Grenze ist fließend. Gehen Sie nur weiter!“, befahl der Professor. Erst jetzt bemerkte ich, dass das Maisfeld einer Wiese gewichen war, auf deren grünem Gräsermeer unzählige bunte Blumen schwammen. Bienen summten, Falter umflatterten mich. Die Sonne strahlte, und ein lauer Wind hatte sich erhoben. Ein unerhörtes Glücksgefühl erfasste mich. Der Professor, die Polizisten, die Autos, die Häuser – alles war verschwunden und vergessen. 

Und dann kam sie!

Eine Schar von Gänsen vor sich hertreibend, schritt – nein, schwebte sie über die Wiese auf mich zu. Ein weiter Rock umflatterte die gebräunten Beine, ein Lächeln umspielte die roten Lippen, der blaue Himmel eines wolkenlosen Sommertages spiegelte sich in ihren Augen. Sie war das Idealbild meiner Schönheitsvorstellung, die Gänseliesel meiner Träume.

Sagte sie etwas?

Ich weiß es nicht mehr. Sie streckte mir die Hände entgegen, und ich breitete die Arme aus.  In diesem Augenblick geschah etwas, an das jeder Bergsteiger nur mit Schaudern denkt. Ein gewaltiger Ruck brachte mich ins Straucheln. Ich verlor den Halt, rutschte zappelnd, von einer unsichtbaren Hand gezogen, über das aufrauschende Gras und stürzte schließlich, die Besinnung verlierend, ins Bodenlose. 

Es ist müßig zu schildern, welche Träume mich heimsuchten. Ich war eine Qualle, ein Urfisch, ein Saurier. Ich durchwanderte die Evolution wie ein Zeitreisender mit Siebenmeilenstiefeln, und als ich aufwachte, brauste noch gewaltig das Urmeer in meinen Ohren. Wie vom Grund eines Wasserbeckens, undeutlich und verzerrt, kam ein heller Fleck auf mich zugeschwommen, der sich schließlich als menschliches Gesicht entpuppte.  

„Professor Zahnfleisch!“, sagte ich in einem Augenblick plötzlichen Erinnerns.

„Zahnstein! Zahnstein!“, verbesserte der Professor. „Ich wollte Ihnen nur einen kurzen Besuch abstatten. Sozusagen aus wissenschaftlichem Interesse. Schließlich sind Sie das einzige lebende Wesen, das jemals einem Zeitloch entkommen ist.“

„Und wo bin ich jetzt?“, fragte ich, während das Gesicht meines Gegenübers wieder unschärfer wurde.

„Im Harlachinger Krankenhaus“, klärte mich der Professor auf. „Wir haben Sie gerade noch rechtzeitig rausgeholt. Die Reepschnur, Sie wissen schon.“

„Nichts weiß ich! Schließlich war ich bewusstlos!“, brauste ich auf. In meinem Kopf hatte jemand eine ratternde Dampfmaschine angeworfen. Anscheinend war ich inzwischen  im Industriezeitalter angekommen.

„Es ging etwas zu schnell“, entschuldigte sich der Wissenschaftler. „Das ist wie bei einem Taucher, der zu rasch an die Oberfläche geholt wird. Ihr Puls ist immer noch auf hundertachtzig, ihr Blutdruck schwindelerregend. Populärwissenschaftlich könnte man sagen, Sie haben zu viele Zeitblasen im Blut. Aber Ihr Zustand ist nicht lebensgefährlich, meinen die Ärzte.“

„Sehr tröstlich“, flüsterte ich. „Und was ist mit dem Zeitloch?“ Eine vage Erinnerung war in meinem Hirn aufgeblitzt. „Befindet es sich noch im Erdinger Moos?“

Irgendwie war das Gesicht des Professors zu einem breiten, grinsenden Medusenhaupt geworden, das, lampionhaft leuchtend, an meinen Augen vorbeischwebte.

„Was heißt Erdinger Moos!“, entfuhr es dem Gorgonenmaul. „München ist verschwunden. Bayern ist verschwunden. Wahrscheinlich ist das Harlachinger Krankenhaus der einzige Ort auf der ganzen Welt, der noch existiert.“

Pause.

„Noch!“, rief der zahnlose, schwarze Schlund mit der Stimme des Professors. „Denn im nächsten Augenblick können auch wir hier schon verschluckt sein.“

Ich lächelte glücklich. „Dann“, flüsterte ich und schnippte den ganzen Doktor Zahnstein samt seinem Kürbiskopf mit einer Bewegung des rechten Zeigefingers zum Fenster hinaus, „dann habe ich die realistische Chance, meine Gänseliesel wiederzusehen.“  

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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